Eine Antwort auf einen nächtlich geschriebenen Brief, der von Schneebällen, Schuld und anderer Obskurität erzählte

Monolog zum Thema Leben

von  S4SCH4

Gestern,

Mit einiger Besorgnis habe ich von Dir gelesen und stelle meinen Standpunkt wie folgt dar: Ich bin nicht verantwortlich für deine Geistesabwesenheit und die daraus resultierenden Visionen aus Schneebällen, Schuldnern und ominöses Blut, das aus Wasserhähnen liefe, sowie der weiteren Merkwürdigkeiten, die du anführst (ich sage nur: das gefüllte Horn der Gewalt …). 
Warum, und woher ich weiß, dass du halluzinierst? Ich habe es mit eigenen Augen gesehen und gefühlt!
Draußen scheint die Sonne und es ist warm, die Vögel singen, meine Nachbarn grüßen sehr freundlich beim Hereintragen der Zeitung. Ich habe Geld auf dem Bankkonto und das Wasser heute Morgen lief klar wie Kristall aus der blankgeputzten Badarmatur. Es hat mich erfrischt und ich fühle mich wie ein neuer Mensch nach einer unruhigen Nacht, die ich nicht nur lose mit deinem Unwesen in Verbindung bringe.
Für deine eingebildeten Versäumnisse und die zwielichtige Paranoia unter einer stillen Mondstunde stehe ich nicht gerade, ohnehin: ich muss nun zur Arbeit, danach habe ich eine Verabredung mit Freunden, später dann Geigenunterricht.
Ich lebe, im Gegensatz zu Dir, und lasse mich nicht totquatschen. 

Der Morgenmann



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Kommentare zu diesem Text


 Saira (31.10.25, 15:23)
Der zweite Teil bricht das Pathos des ersten mit irritierender Nüchternheit.
Der Morgenmann, so pragmatisch er klingt, entlarvt sich durch seine Heiterkeit selbst ... sie ist zu glatt, zu hell, zu perfekt.


Gerade darin liegt die Tragik: die Normalität als Selbstverteidigung gegen Erkenntnis.


Du schaffst hier einen frappierenden Perspektivwechsel – das Gestern ruft, und das Heute lächelt höflich zurück.

Ich lese das wie das erste Zittern vor einer beginnenden Spaltung.


Ich lese weiter … bin gespannt, wie die Stimmen sich verändern.
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