Martin Kordić:

Jahre mit Martha

Roman


Eine Rezension von  Quoth
veröffentlicht am 07.02.23

1974 hat Rainer Werner Fassbinder in seinem Film „Angst essen Seele auf“ das Porträt der Liebe einer älteren Frau zu einem Migranten gezeichnet – aus vorwiegend ihrer Perspektive. Jetzt zeichnet Martin Kordić in seinem Roman „Leben mit Martha“ das Porträt der Liebe eines Migrantensohnes zu einer älteren Frau aus dessen Perspektive, und das mit einer ähnlich zupackenden Drastik und Treffsicherheit – und in der Amalgamierung des Erotischen mit dem Sozialen Fassbinder nicht gleich, aber nahe verwandt. Macht es Sinn, einen Roman mit einem Film zu vergleichen? Bei diesem Roman: ja. Am Anfang des zweiten Kapitels nimmt der Ich-Erzähler sich vor: „Mir selbst will ich meine Geschichte erzählen, weil ich die Irrwege meines jungen Erwachsenenlebens in eine Dramaturgie sortieren will, die auf ein versöhnliches Ende zusteuern soll.“ Hier wird bereits das filmische Melodram mit Happy End geplant, das aus diesem Roman hoffentlich und sicherlich einmal werden wird.

Dem Ich-Erzähler Željko Draženko Kovačević wurde im Englischunterricht in Ludwigshafen der Name Jimmy zugelegt, und den behält er bei, weil sein kroatischer Name schwer auszusprechen und noch schwerer zu schreiben ist. Mit 15 Jahren verliebt er sich in die Frau, bei der seine Mutter putzt, die Heidelberger Professorin Martha Gruber. Er führt Listen schwieriger deutscher Wörter, bildet sich durch Zeitschriften, die er aus Papiermüllcontainern fischt, strengt sich in der Schule an, um einmal nicht wie sein Vater von Baustelle zu Baustelle herumgeschoben zu werden, beginnt ein Studium in München. Martha ermöglicht ihm durch eine Bürgschaft eine Studentenbude im olympischen Dorf, sie treffen sich auf Juist, nehmen eine Beziehung auf, in der sie per sms und auf Distanz miteinander masturbieren, Martha stellt ihm eine American-Express-Karte zur Verfügung, die immer gedeckt ist und die er benutzen kann, soviel er will. Ein schwuler Dozent fördert ihn – und lässt ihn im Examen im Stich. Trotzdem schafft er es – aber er kann nicht Fuß fassen. Selbstzweifel quälen ihn, eine Werbefirma verlässt er, weil ihn abstößt, wofür er da werben muss, er beginnt zu containern und dann übernimmt er illegale Autoüberführungen nach Kroatien, wird Jugendleiter eines kroatischen Fußballvereins in Ludwigshafen, verliert aber auch diesen Job, weil er seiner Wut über Ausgenutztwerden und Anpassungsdruck in einem Artikel in der Vereinszeitschrift allzu deutlich Luft macht. Zum Schluss wird er das, was ihm ein Arbeitsberater schon zu Beginn vorgeschlagen hat: Gärtner, und als solcher trifft er auch Martha noch einmal, die bereits Palliativpflege bekommt, weil sie schwer krank ist. Wie Douglas Sirks Melodram „Was der Himmel erlaubt“, wie Fassbinders „Angst essen Seele auf“ endet auch der Roman von Martin Kordić am Bett eines, einer Kranken – nein, das stimmt nicht: er endet mit einem Epilog im Ludwigshafener Garten der Familie bei Bier und Gegrilltem, während die BASF überflüssige Gase aus einem hohen Schlot tosend abfackelt.

Die schönste Passage des Romans aber ist für mich der Bericht vom Besuch der Trauerfeierlichkeiten für den verstorbenen Dedo (Großvater) in Bosnien-Herzegowina. Die friedensverwöhnte Martha erlebt sich zum ersten Mal in einer Welt, in der man sich vor Minen fürchten muss – und kotzt. Als „chefika“ von Željkos Mutter wird sie sofort akzeptiert. Der Großvater mit seinem Hitlerbärtchen (er war ein Ustascha) wird zu Grabe getragen, und die analphabetische Großmutter sagt zu ihrem Enkel: „Dein Mädchen (Martha) ist süß wie ein Bonbon.“ Hier wird auch klar, dass Martha die Beziehung zu Schelko, wie sie ihn ab jetzt nennt, nie der deutschen Öffentlichkeit und der Bewertung durch ihre Heidelberger Kollegen ausgesetzt hat. Ist es eine Liebesbeziehung auf Augenhöhe – oder gönnt und kauft sie sich mit ihrer finanziellen Überlegenheit nur einen Gigolo mit Migrationshintergrund? Und symbolisiert sie nicht vielleicht nur die herablassende Multi-Kulti-Freundlichkeit vieler Deutscher?

Das Motto des Buchs „Jedes Seelenbild ist auch ein Weltbild“ stammt von Hertha Kräftner, einer in den 50er Jahren jung verstorbenen österreichischen Lyrikerin. Durch Zufall stößt der Ich-Erzähler in den Auslagen einer kleinen Buchhandlung auf eine Sammlung ihrer Texte, und ist sofort gebannt durch diese Verse:

Aus deinen Zeilen steigt Melancholie,
dein abgegriffener Einband sagt Verzicht,
und dein Papier wird gelb vom Sonnenlicht.
In deinen Blättern rauscht die Einsamkeit.


Er zitiert mehrfach daraus. Und ist es Zufall, dass einer, dem er im nächtlichen München manchmal begegnet, Rainer Langhans ist, Regieassistent Fassbinders in „Angst fressen Seele auf“? Ist es Zufall, dass der Vermieter in diesem Film Gruber heißt? Und schließlich: Ist es Zufall, dass Fassbinder einen Film mit dem Titel „Martha“ (in dem es freilich um einen Mann geht, der eine Frau von sich abhängig macht) gedreht hat?

Der Roman „Jahre mit Martha“ von Martin Kovać ist unbedingt lesenswert.
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Kommentare zu dieser Rezension


 Pearl (09.02.23, 12:32)
Hallo Quoth,

eine gute Buchbesprechung, interessant, auch weil sie zwischen Prosa - Film und Lyrik (Hertha Kräftner will ich lesen.) schwankt.

Ich muss zugeben, dass ich von Fassbinder noch keinen Film sah. Doch ich habe eine Freundin aus Serbien, eine Filmbesessene, die wegen Fassbinder angefangen hat Deutsch zu lernen. Sie legte ihn mir ans Herz.

Liebe Grüße,

Stefanie

 Quoth meinte dazu am 09.02.23 um 14:39:
Es gibt Fassbinder-Filme, z.T. sehr gut digital remastered, im Netz zu kaufen oder zu leihen (für den Bruchteil einer Kinokarte), z.B. auch "Angst essen Seele auf" und "Martha".
Hertha Kräftner war mir auch neu, schätze sie inzwischen aber sehr.
Ja, ich hätte in die Rezension vielleicht noch hineinschreiben sollen, dass der Roman nicht ins Deutsche übersetzt, sondern auf Deutsch von Kordic geschrieben wurde - auf dem Nabokov-Pfad ...
Danke für Deinen Kommentar! Gruß Quoth

 AlmaMarieSchneider (22.02.23, 21:50)
Eine gelungene Rezension muss ich sagen.
"Angst essen Seele auf" habe ich mindestens drei mal gesehen. Brigitte Mira ist einzigartig. Mein Gedicht über die Angst wurde von diesem Film inspiriert.

Den Roman "Jahre mit Martha" kenne ich noch nicht. Danke für diesen Tipp.

Liebe Grüße
Alma Marie

 Quoth antwortete darauf am 23.02.23 um 12:06:
Würde mich freuen, Dich zu diesem bemerkenswerten Buch verführt zu haben. Grüße zurück! Quoth

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