Induktion in Duisburg
Text zum Thema Wahrheit
von DavidW
Erster Teil:
Im Ruhrgebiet, westlich neben der Großstadt Essen, am Ostufer des Rheins, liegt die deutsche Stadt Duisburg.
Auf den Journalisten Daniel Morss, nachdem er aus dem Duisburger Bahnhof getreten war, und der aus einem anderen Teil dieses Landes, München, kam, machte die Stadt einen grauen und traurigen Eindruck. Eine große, vielbefahrene Straße, die er überqueren musste. Nichtssagende, graue Neubauten. Es regnete aus einem kühlen Frühlingstiefdruckgebiet heraus ausdauernd, aber es ist unwahrscheinlich, dass es am grauen Wetter lag, dass die Stadt Duisburg so grau erschien und dass sie im Sonnenschein einen vorteilhafteren Eindruck machen würde, einen wie beispielsweise Bamberg oder Pisa, sondern an Duisburg selbst.
Würde Morss sich halblinks halten, träfe er auf ein überregional bekanntes Museum, um das herum einmal ein Skulpturenpark, in dem sich sogar ein Werk von Gerhard Richter befinden solle, aufgebaut worden war, sowie auf eine sehr bunte, im Vergleich zum Rest des Stadtteils, der ganzen Stadt wahrscheinlich, ausgesprochen bunte Eisdiele. Kann ja sein, dass jemand mal mit Kindern nach Duisburg.... Außerdem macht das Museum nur noch ab mittags auf, und man bekäme in der Eisdiele einen Espresso und ein Obdach vor dem Regen.
Morss' Interesse lag in der schräg gegenüberliegenden Richtung, halbrechts. Dort wird er auf eine dreigeschossige Einkaufscenterhalle treffen, in der sich diverse Einzelhandelsgeschäfte befanden, Billigklamotten, eine Drogerie, ein Optiker, ein Technikmarkt, eine Parfümerie, und so weiter, das Üblichste und Tristeste, was es an Filialen von Ladenketten so gibt.
Dahinter, in einer dem Autoverkehr entzogenen Straße (einer kleinen Fußgängerzone), betrieb sich ein kleiner, schmaler und langgezogener Markt, und in den Ladenzeilen am Rand hatten sich weitere Geschäfte und Gastronomiebetriebe angesiedelt.
Duisburg, eine graue Stadt, eine arme Stadt, eine Stadt, die sich insgesamt anstrengen musste, um überhaupt eine ordentliche Stadt darzustellen.
Unter den Geschäften dort befand auch ein Restaurant mit dem Namen "Starnberger Knödelwirt". Das war die Adresse, die Morss an seinem ersten Tag in Duisburg noch finden wollte. Er würde am nächsten Tag unmöglich zu spät kommen können, und sich zu diesem Zweck eine Grundlage an Ortskundigkeit verschaffen wollen.
Morgen würde er dort ein Konzeptinterview mit dem berühmten Franz Müntefering, X Jahre SPD-Vorsitzender, Y Jahre Vizekanzler unter Angela Merkel, über Wissenslücken führen, zumindest den zugehörigen Rahmen abstecken, der Rest wird dann, wie das heutzutage so üblich ist, schriftlich abgeklärt werden müssen.
Franz Müntefering, dessen schlimmste politische Niederlage bestimmt gewesen war, dass Angela Merkel gegen ihn in der damaligen großen Koalition eine Mehrwertsteuererhöhung durchgesetzt hatte. Mehrwertsteuererhöhungen, wusste Morss, will die SPD nie, so etwas macht immer nur die CDU. Kohl, Merkel machen das, nie die SPD, nie Schröder. Mehr Staatsknete von allen, einfachst abgeschöpft.
Ein Interview über seine, Münteferings, Wissenslücken, die Wissenslücken von Morss selbst, der Bundeskanzlerin ihre Wissenslücken, der Partei ihre Wissenslücken, der Grünen ihre Wissenslücken, der Jusos ihre Wissenslücken, pathologisch wirkende Wissenslücken....
Die Adresse des "Starnberger Knödelwirts", Königstraße 44, war nicht schwer zu finden. Morss trat in das Lokal ein, und verschaffte sich einen Überblick. Das Mobiliar war klobig-rustikal, nur etwas gekünstelt, noch ziemlich neu, die Tische am Rand des Raums mit Eckbänken um drei Ecken herum versehen, der Boden gekachelt. An den Wänden präparierte Hirschgeweihe, Gämsengehörne, Rehgeweihe. Dazwischen mittelgroßformatige Fotos, Landschaftsaufnahmen aus der Gegend des Starnberger Sees, einem Inbegriff des malerischen bayrischen Voralpenlandes. Morss erkannte ein Bild: "Das da ist der Blick von Starnberg über den See hinweg auf die Berge." Morss setzte sich auf eine der Eckbänke. Etwas essen musste er auch noch.
Erschrocken stellte er fest, dass er in ein Schnellrestaurant geraten war: Der "Starnberger Knödelwirt" in Duisburg war ein Schnellrestaurant. Jemand hatte die bayrische Küche für ein Schnellrestaurantkonzept adaptiert! Man nahm sich ein Tablett, ging zur Kasse, wählte aus einer Liste eine Sorte Knödel, aus einer Liste eine Sorte Braten und aus einer Liste eine Sorte Salat. Nach kurzer Zeit war dann das bestellte Essen da. Morss dachte sich: "Klar, man kann auch Knödel und Braten schnell aufwärmen, wenn man weiß, wie."
Morss dachte: "Solche Geweihe kaufte doch seit fünfzig Jahren niemand mehr, die sind bestimmt spottbillig", und stellte sich, irgendwo in Österreich oder im bayrischen Oberland ein riesiges Lagerhaus voller unverkäuflicher präparierter Geweihe vor.
Morss sah eine Karte an der Wand, auf der lauter rote Punkte, Morss stellte erschrocken fest, dass der "Starnberger Knödelwirt" nicht nur ein Schnellrestaurant war, sondern dass er in eine Filiale einer Schnellrestaurantkette geraten war, eingezeichnet waren. In West- und Norddeutschland, zwischen Hamburg, Amsterdam und Köln gab es 40 bis 50 Filialen des "Starnberger Knödelwirts".
Rohe Kartoffelknödel, Kartoffelknödel halb-und-halb, Semmelknödel, Brezenknödel, Speckknödel. Saisonale Knödel, gekräuterte Frühlingsknödel, kalte Sommerknödel, süße Knödel, Zwetschgenknödel, Germknödel.
Krustenbraten, Spanferkel, Nackenbraten (durchwachsen), Schulterbraten (mit Kruste), Rückenbraten (mager), alles vom Schwein, Schweinebauch gegrillt, Schweinebauch gesotten.
Salate: Gurkensalat, Grüner Salat bayrischer Art, gemischter Salat, Krautsalat, Wurzelgemüsesalat, Bohnensalat, Radieschensalat, gesalzener Bierrettich, "Rotkohl".
Morss entschied sich, wenn schon denn schon, für einen Speckknödel, den gegrillten Schweinebauch und ein Stück gesalzenen Bierrettich, dazu ein dortmunder Bier. Während er begann, einen geschmacksarmen Speckknödel, eine ordentliche Tranche resolut gebratenen Schweinebauch und den Rettich zu verzehren, erinnerte er sich:
An den Starnberger See. Erinnerte sich an den Weg vom S-Bahnhof Possenhofen hinunter zur Liegewiese. Am Schloß vorbei. Das, was in den Sissi-Filmen als Schloss Possenhofen herhalten musste, fiel ihm wieder ein, sei nicht das echte Schloss Possenhofen. Das sei wohl irgendein Bergbauernhof, viel weiter oben gelegen im Voralpenland, auf irgendeiner Alm. Die possenhofener Liegewiese. Die possenhofener Liegewiese war eine stille, schmale langezogene, dicht beschattete, an einem Waldstück gelegene Liegewiese. Die tutzinger Liegewiese (zwei Orte weiter südlich) war sonniger, breiter, öffentlicher, mondäner. Zwischen beiden eine starnberger Liegewiese.
Morss stellte während des Essens fest: "Das Marketingkonzept des "Starnberger Knödelwirts" funktioniert."
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Am nächsten Tag war Morss überpünktlich im "Starnberger Knödelwirt" erschienen und wartete auf Franz Müntefering. Er wartete eine ganze Stunde lang, aber Franz Müntefering war nicht erschienen, und würde wohl nicht mehr erscheinen. Dann stieg Morss auf eine der klobigen Eckbänke und schrie in den Restaurantraum:
"ICH WAR HIER MIT EINEM POLITIKER VERABREDET, DER ABER NICHT GEKOMMEN IST. IST JETZT ZUFÄLLIG EINE MEDIZINSTUDENTIN DA, DIE SICH IRGENDWIE FÜR PSYCHIATRIE INTERESSIERT?"
Morss machte eine Pause, keine Medizinstudentin meldete sich. Dann schrie er weiter:
"DEN SCHMUTZIGEN TRICK KENNE ICH NÄMLICH SCHON, MAN WIRD VON EINEM POLITIKER VERSETZT UND TRIFFT AUF EINE MEDIZINSTUDENTIN, DIE SICH IRGENDWIE FÜR PSYCHIATRIE INTERESSIERT UND FÄNGT DANN MIT DER EIN GESPRÄCH AN. ERZÄHLT VON SEINER FREUD-LEKTÜRE, BETREIBT EIN BISSCHEN SYSTEMKRITIK. IM ANSCHLUSS HAT MAN DAS EIN BLÖDES GEFÜHL, WEIL ZU VIEL PREISGEGEBEN. UND IN DER FOLGEZEIT BEHANDELN EINEN ALLE UNTER UMSTÄNDEN GEMEINSAMEN BEKANNTEN DANN GANZ MERKWÜRDIG!"
Keine Medizinstudentin tauchte auf. Morss schaute von seiner erhöhten Position aus noch einige Momente über die anderen Gäste. Niemand erweckte den Anschein, ihn ansprechen zu wollen. Dann setzte er sich wieder, stand nach kurzer Zeit wieder auf und kaufte sich ein Bier. Schüttete es in sich hinein. Wollte noch eine Weile, schon der Form halber, warten, ob irgend jemand etwas von ihm wollen würde, oder die Polizei gerufen worden war. Kaufte sich noch ein zweites Bier. Trank dieses langsamer. Niemand wollte etwas von ihm. Stellte fest, dass man auch einen Knödel ohne Fleisch, aber mit zweierlei Salat bestellen konnte.
Zweiter Teil:
Bald schon verließ Morss das Ruhrgebiet in einem ICE der deutschen Bahn, in dem er begann, einen Brief zu schreiben, wieder in Richtung München.
Morss schrieb: "Liebe Bettina,
vielen Dank für Deinen letzten Brief.
Ich wollte Dir noch erklären, was ich mit dem Begriff "induzierter Psychose", den ich in einem meiner letzen Brief an Dich verwendet hatte, gemeint hatte. Die Erklärung schulde ich Dir irgendwie. Ein seltener Begriff, vielleicht etwas leichtfertig von mir verwendet.
Ich sehe das so, dass Menschen während ihres Lebens in einen Zustand des Wissen-Müssens geraten können. In diesem Zustand der zwanghaften Recherche ist natürlich ein Scheitern der Recherche möglich. Und zusammen mit diesem Scheitern ist der Rückzug des suchenden Individuums auf paranoide Pseudoerklärungen möglich, also die Generierung einer paranoiden Psychose. Natürlich kann dieser Zustand des Wissen-Müssens zufällig entstehen und natürlich muss er sich nicht ins Pathologische entwickeln. Ich meine aber, dass Sprech- und Spruchtechniken in der Welt existieren (ich nenne das ironisch immer so), also schmutzige Rhetorik, mit denen so ein Zustand des Wissen-Müssens bei einem anderen Menschen vorsätzlich herbeigeführt werden kann.
Und ich meine auch, schon beobachtet zu haben, dass solche schmutzige Rhetorik angewandt wird. Also vorsätzlich versucht wird, zu induzieren, strukturell-soziologisch vielleicht von falschen Freunden oder missgünstigen Verwandten. Diese versuchen dann, einen "psychotischen", zwanghaften Ausraster zu induzieren, der dann als, Vorwand dafür dient, ihr Opfer in die Psychiatrie werfen zu "müssen". So ist die Gesellschaft (oder mein Blick auf sie) halt,
Ich sehe es auch allgemein so, dass eine Psychose entwicklungspsychologisch das Ergebnis einer gescheiterten ziellosen Suche sein kann.
Gerade geriet ich in eine Situation, in der ich es für angemessen gefunden hatte, den Beginn einer solchen "induzierten Psychose" zu parodieren (nur zu parodieren)."
An dieser Stelle seines Briefs erzählte Daniel Morss von seinem Auftritt im duisburger "Starnberger Knödelwirt".
Schrieb dann weiter: "Ach Bettina. Vielleicht wird das Verhalten, eine Psychose induzieren zu wollen, jetzt in Deutschland modern. Oder war es schon immer gewesen, und ich bin bloß älter geworden. Normaler Weise ist und war schmutzige Rhetorik eine Domäne der Rechtsradikalen. Suggestion in diverser Hinsicht, kriminelle Verhöre, kriminelle politische Reden (damals gegen "Juden" oder so), Sündenböcke, Übertragung und so Zeug.
Die in meinem Auftritt durchscheinende Geschichte mit der Medizinstudentin, das ist alles sehr lange her. Ich kam auch erst Jahre später darauf, dass es Absicht gewesen sein könnte. Es ist mir eigentlich auch fast egal. Ich war aber in eine persönliche Situation gekommen, dass ich darüber hatte nachdenken müssen.
Andererseits gibt es den Begriff des "Signifikanten". Und den Begriff des "Zweifelns"."
"Signifikant" ist ein Fachwort aus der Sprachwissenschaft, bezeichent den Ausdrucksgehalt, im Unterschied zum reinen Inhalt, eines sprachlichen Zeichens.
Morss schrieb weiter: "In meiner Jugend wurde eine Geschichte durch die Presse getrieben, dass einige linke, spontane Studenten enteckten, dass die F.D.P. in der Universitätsstadt, in der sie studierten, beinahe keine Mitglieder mehr hätte, und wollten diese durch einen Masseneintritt übernehmen.
Vielleicht sind so gut wie alle Personen aus meiner Generation, der um die Vierzigjährigen, aufgrund so einer Art Domino- oder sogar Schmetterlingseffekts in die falsche Partei eingetreten (hahaha). Die F.D.P. war ja von linken Studenten besetzt, also traten die eigentlich an der F.D.P. Interessierten wiederum woanders ein, und so weiter. Keiner kann es ernst meinen, alle betreiben nur Rhetorik und werden nie über eine 5-Argumente-aus-dem-Wahlprogramm-Baukastenrede hinauskommen können."
Dritter Teil:
An dieser Stelle seines Textes will der Verfasser selbst sich einklinken. Er will ein paar literarhistorische Verweise offenlegen und sich erklären: Der Name "Morss" verweise auf Karl-Philipp Moritz, meint hier aber auch Nicht-Goethe. "Daniel" sei die Parodie einer Freudschen Fehlleistung zum Vornamen des Verfassers. "Bettina", an die Morssens Brief gerichtet ist, verweise auf den unbestritten allergrößten Briefeschreiber der deutschen Literaturgeschichte, Bettina von Arnim: Spätestens, wenn man den realen Briefwechsel mit dem späteren Mann zu den bekannten Briefromanen hinzunimmt, sei der Rang unstreitig.
Es habe wirklich eine liebe junge Briefpartnerin im Leben des Verfassers gegeben, der gegenüber er einmal den Begriff der "induzierten Psychose" verwendet habe, sogar so falsch oder zumindest persönlich umdefiniert, unkanonisch, wie vorhin praraphrasiert.
Dann sei ihm, der manchmal Prosa schreibe, die Idee mit der Schnellrestaurantkette namens "Starnberger Knödelwirt", von der kaum einer seiner Leser je gehört haben wird, gekommen, und er konnte nicht widerstehen.
In Wirklichkeit befindet sich unter der Adresse eine "Nordsee"-Filiale.
Die reale Briefpartnerin sei aber nicht mit der Bettina aus dieser Erzählung gleichzusetzen. So tolle Briefpartner, denen man solche Sachen wie an Bettina schreiben könne, gebe es in der Wirklichkeit gar nicht.
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Daniel Morss sah aus dem ICE-Fenster; hatte seinen Briefentwurf kopfschüttelnd weggepackt.
"Sophistik" hätte er gerne zusammen mit Christoph Martin Wieland anstelle von "Rhetorik" geschrieben. Aber den Begriff verstehe heute niemand mehr.
Morss sah deutsche Felder; Wiesen; Wälder; Mittelgebirge. Der Zug, der ihn nach Hause bringen wird, näherte sich dem nächsten Halt: Stuttgart.
Anmerkung von DavidW:
- 2017. Letzte Speicherdatum war 2017/09/21
- Eine Hommage an die Rheinberger Gruppe aus kv und ihre "Zusammenkunst", ein sehr erfrischendes Ereignis war das damals gewesen.
- Der einzige Text, den ich je bei einem Wettbewerb einreichte (als Münchner beim Münchner Kurzgeschichtenpreis, damals sehr hoch dotiert). Deswegen ist er auch ausgearbeiteter als die meisten anderen Texte von mir. Er wurde dort ignoriert.
Es hat trotzdem Spaß gemacht, zu vesuchen, dem münchner Literaturpublikum ein surrealistisch umgearbeitetes Duisburg nahezulegen.
- Ich sah wirklich einmal unter merkwürdigsten Umständen Franz Müntefering (oder ein Double). Damals, 2006/ 2007, als ich kurz für Jura immatrikuliert war, hetzte er im münchner U-Bahnhof Universität oder Giselastraße Richtung Norden an mir vorbei.