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II.

Novelle zum Thema Selbstbestimmung

von  Lala

II.

„War’s schön mit Papa?“, fragte Heinrich Klaus, ohne von seinem Schreibtisch aufzusehen, und rupfte dem Insekt auf seinem Schreibtisch ein weiteres Bein aus. Ein Wunder, dass der Weberknecht nicht Feuer gefangen hatte, denn Henner, der Name gefiel Heinrich besser als Heini oder Henne, hielt seine 259 Osram Watt Schreibtischlampe direkt auf den Chitinkörper des Insektes. Klaus wusste, wie heiß das war. Sie, also, er, Henner und Thomas, der Älteste der Brüder, hatten diverse Mutproben inklusive Weichteilmutproben an Heinrichs Forscherlampe durchexerziert. Thomas und Heinrich waren exakt ein Jahr voneinander getrennt, Klaus hinkte drei Jahre hinterher und war ein Frühchen. Aber alle hatten am sechsten Juni Geburtstag.

„War’s schön mit Papa beim Fußball?“, wiederholte Heinrich seine Frage, während er eine Nadel durch den sich auf dem weißen Papier windenden Körper steckte. „Oder hat er Dir einen auf den Hinterkopf gegeben, als Du für unser Stadtteam mitbrüllen wolltest?“

Zack!, letztes Bein, das Insekt, der beinlose Torso wand sich nicht mehr. Henner grinste. Knüllte es in das Papier ein, umwickelte es mit Alufolie und zündete es an der 259 Osram Watt Birne an. Es brauchte eine Weile, dann zischte es und – da Henner und Klaus beide die Luft anhielten – vermeinten sie beide, ein Zischpoppen gehört zu haben.
„Hast Du es gehört, Klaus? Das war die Seele des Weberknechtes. So macht ein Weberknecht, wenn er dem Herrn gegenübertritt: Ftttpfft!“

Klaus hatte bis zur Verschmelzung des Weberknechtes mit Henners Feuerzangenbowle einen super Sonntag gehabt. Er war zwölf geworden und er wusste schon seit den zwölften Geburtstagen seiner Brüder, dass Vati ihn zum Fußballspiel mitnehmen und ihm eine neue Welt zeigen würde.
Lesen, schreiben, rechnen, könne er ja jetzt, hatte sein Vater, Dr. jur. Philip, ihm am Sonntag des sechsten Juni, am Frühstückstisch eröffnet und daher wäre es Zeit, dass er, Philip, Klaus Reife prüfe. Er, Philip, werde heute, mit ihm, Klaus, zum Fußball gehen und dann würden wir ja weitersehen. „Herzlichen Glückwunsch, Klaus“, schloss Vati seine Rede.

Klaus war so aufgeregt gewesen, dass er die Missmutigkeit in der Ansprache überhörte oder überhören wollte. Bei Tommi und Henner hatte alles viel feierlicher, verschworener und verbundener gewirkt. Aber Klaus war trotzdem glücklich. Mit dem heutigen Tage durfte auch er, der Jüngste, Philip zu Vati sagen. Heute würde sein Taschengeld angehoben werden, auch er würde vorne bei Vati, bei Philip, im Auto sitzen dürfen oder bei Muttis Männerrunden, die sie, seit Tommi Zwölf geworden war, einmal im Monat machte, dabei sein dürfen. Und Sie war es auch, die ihm am Sonntagmorgen ein Stullenpaket zusteckte, ihm über den Kopf strich und meinte: „Für die Halbzeitpause, mein Schatz.“
Das Wort „Halbzeitpause“ ließ Klaus erschauern und er sah sich selbst als die Figur des Wills, der in seinem Lieblingsroman „Wintersonnenwende“ mit elf Jahren eine große Aufgabe bewältigen muss. Der Blick seiner Mutter und das zärtliche Überstreichen der Haare ließen ihn im Herzen wachsen und davon träumen, dass eine große Aufgabe bevorstand.

Im Stadion war es für Klaus wie in einem Rausch. Er war Teil eines Schwarmes und er hatte nicht lange gebraucht, um zu kapieren, wie der Schwarm reagiert. Die Luft war erfüllt mit Gesängen und das Ambiente, gefüllt mit Rittern in bunten Uniformen, die sich unter das Banner der Stadt, des Clubs, der Stadt, in mannigreichen Trauben sammelten. Klaus fühlte sich erstmals männlich. Nicht so wie in einem feuchten Traum, sondern, so, als könne auch er die Welt aus den Angeln heben, so, als müsse sich die Welt vor ihm und nicht er vor ihr fürchten. Sein Herz schlug und seine Augen leuchteten. Klaus spürte nicht, wie hart der Griff seines Vaters geworden war. Klaus war im Rausch der Farben, der Trachten, der Rufe, Gesänge und Posaunen. Er war auf einem Turnier und wenigstens war er ein Knappe – nur die Uniform, die Kluft eines Fans fehlte ihm. Aber bei Anpfiff wusste Klaus, was die Stunde geschlagen hatte und er war Teil des Rausches, und spürte nicht, wie sein Vater, der unmittelbar hinter ihm saß, ihm ein ums andere Mal mit dem Pfeifenkopf auf den Kopf schlug, so als wolle er ihn bändigen.


„Du hast was?“, Henner konnte sich kaum einkriegen vor Lachen. „Du hast weitergebrüllt, Klaus? Wie geil ist das denn. Hast Du denn nicht Philips Pfeife gespürt?“
Klaus dachte nach. Klar hatte er den maßregelnden Schlag mit der Pfeife auf seinem Hinterkopf verspürt. Es hatte ihm auch wehgetan. Irgendwie jedenfalls. Aber nicht so, dass er echte Schmerzen empfunden hätte. Er war so euphorisch gewesen, dass er dachte, dass sein Vater ihn nur ein bisschen im Zaum halten wollte, ihn gewissermaßen erden wollte. Heute würde Klaus nüchtern feststellen, dass er so voller Adrenalin gewesen war, dass ihm sowieso alles andere scheißegal war. Sein Team, das Team seiner Stadt, hatte zweimal zurückgelegen, 0:1, 1:2 und jedes Mal, angetrieben von diesem bulligen Spieler, der andauernd motzte und rackerte, kam Klaus Team, das Team, das den Namen seiner Stadt trug, zurück. Sie glichen aus und gewannen es noch 3:2. Das war sensationell. Der Freistoß, der den Siegtreffer ermöglicht hatte, war zwar nicht hundertprozentig gerechtfertigt und die Spielanlage, die technischen Möglichkeiten des Gegners waren zwar besser, aber wer fragt in so einer Schlacht noch danach, wenn Herz und Wille den Widerstand eines Goliaths niedergerungen hatten? Niemand, oder?

„Philip“, sagte Heinrich, schnippte das tote Insekt in den Mülleimer und machte die Forscherlampe aus. „Philip hat uns so erzogen, Klaus. Aber bei Dir hat er wohl anscheinend eine Ausnahme gemacht?“
„Arschloch“, antwortete Klaus instinktiv.
Henner lachte. „Klaus, Klaus, Klaus, es tut mir leid. Ich und Tommy hätten Dich warnen müssen. Aber ... aber ich dachte Du findest Fußball auch blöd? Verstehst Du?“
„Nicht ein Wort.“
„Man, Klaus! Bin ich etwa in einem Fußballverein? Ist es Tommi? Geht hier irgendeiner zum Fußball? Irgendeiner!“
Klaus schluckte, schüttelte den Kopf. Der Nachmittag war gerade dabei, richtig Scheiße zu werden.
Heinrich war aufgestanden und hatte den kleineren Klaus dabei an den Schultern gepackt.
„Denk mal nach Klaus“, herrschte Henner Klaus an.
Klaus sah das Gesicht seines älteren Bruders nur noch durch einen Tränenschleier. Klaus erinnerte sich an den vergangenen Nachmittag. An den ersten Nachmittag, den er bewusst mit seinem Vater, mit Philip, erlebt hatte. Er mit ihm, als zwei Erwachsene. Es war schön gewesen. Weil aber Henner mit seinem Gelächter alles kaputtgemacht hatte, erinnerte sich Klaus, wie hart der Händedruck seines Vaters an seinem Handgelenk geworden war, als sie im Pulk durch die Kartenhäuschen gingen und wie böswillig Vater die Umgebung betrachtete. Er erinnerte sich, wie oft er eine Kopfnuss mit Philips Pfeifenkopf bekommen hatte. Klaus erinnerte sich, dass einer aus der Schar, der gut gekleideten Herren, noch vor Anpfiff gemurmelt hatte: „Willkommen zur jährlichen Schrocktherapie.“
Klaus erinnerte sich, wie amüsiert diese Herren im Anzug jedes Mal waren, wenn er, Klaus, sich voller Erregung zu seinem Vater umgedreht hatte. Zum Beispiel, weil der Schiri gegen Klaus Team gepfiffen, oder sein Team unverhofft getroffen, ausgeglichen und sogar in Führung gegangen war. Immer dann hatte er sich erregt umgedreht, geschimpft oder gejubelt. Dabei hatte er von Philip, Zustimmung, nein nicht nur Zustimmung, das war ihm angesichts Henners Weberknechtsversuche klar geworden, nicht Zustimmung sondern Leidenschaft, Herz, erhofft. Philips Mundwinkel fühlten sich meist wie ertappt und klebten wie angetackert an den Ohrenwinkel.
„Ja, Klaus. Alles schön, Klaus“ nuschelte Philip und sagte kurz darauf „Aber vergess Dich bitte nicht, im Jubel. Hast Du gehört Klaus? Nicht vergessen! Nicht so emotional sein.“
Klaus nickte abgestumpft und blieb im ersten Rausch seines Lebens.

Als er dann bei Henner im Zimmer stand, erinnerte er sich, dass er, wenn er wieder die Augen auf das Spiel gelenkt und mit den anderen Fans die gegnerische Mannschaft brüllend zum Teufel wünschte, genau dann, ein, zwei oder gar drei Schläge mit dem Pfeifenkopf auf den Hinterkopf bekommen hatte. Und es tat weh.

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