1:99

Geschichte zum Thema Nonsens

von  Lala

Dieser Text gehört zum Projekt    Stilübungen nach Raymond Queneau
„Diese Figur bitte nicht anfassen, junger Mann!“, raunzte der alte Mann an der Kasse und schaute mich streng über seine Brille hinweg an. Die Bommeln, die an seiner albernen Mütze hingen, wedelten ihm dabei noch um die Nase, so schlagartig hatte er seinen Kopf zu mir gedreht und mich angeschnauzt. So barsch er mich angefahren hatte, so freundlich war er im nächsten Moment wieder zu seinen Kunden, die zahlreich zur Hauptgeschätszeit hinein- und herausströmten.

Während ich meine Griffel in meinen zu kurzen und zu engen Fischgrätmantel vergrub und schmollend auf die Figur, die ich unbedingt anfassen und befühlen wollte, starrte, kassierte der Alte routiniert seine Kunden ab, die alle, mal bösartig, mal mitleidig einen langen Hals zu mir machten. Aber das war mir egal, das war ich als hässliches, dickes Kind gewohnt. Einstecken aber ausharren, hatte ich zeitlebens gelernt. Ich wollte nicht die Anerkennung der Kundschaft, sondern diese Figur. Sie stand en miniature an einer Haltestelle, trug einen Borsalino Hut mit Band und einen langen Mantel. Sie war trotz ihres Maßstabes 1:99, außerordentlich scharf geschnitten, schlicht sexy und supercool. Eine Figur, die auf mich wie ein Versprechen wirkte.

„Endstation, junger Mann“, holte mich der Alte aus meinen Tagträumen. Er war mit einem Male ganz nah bei mir, quasi Wange an Wange, und ich konnte ihn spüren, riechen, hören als hätte er mich körperlich angerempelt. „Du steht jetzt schon“, knarzte es aus seinen Lungenbeuteln und ich sah Spucketröpfchen niederregnen, “seit mindestens zwei Stunden hier. Hat es Dir die Figur da so angetan?“ Kalt und heiß lief es über meinen Rücken, denn den Alten so nah am eigenen Leib zu spüren, machte ihn mir unheimlich. Einen Moment lang starrten wir beide unbewegt auf die Figur. „Sie heißt Raymond“ beendete der Alte das Schweigen. „Raymond?“, krächzte ich unwillkürlich zur Antwort und wiederholte im Geiste voller Ehrfurcht: Raymond.
„Raymond Queneau“, fuhr er fort, „So ist sein Name. Willst Du ihn haben, junger Mann?“ Ob ich ihn haben wollte? Was für eine Frage? Natürlich wollte ich Raymond Queneau haben, ihn anfassen, besitzen und mir einverleiben. Das war mein Raymond Queneau. Aber statt ihm das direkt zu sagen, nickte ich nur schüchtern. Ja, ich wollte ihn. „Da gibt es aber ein Problem“, sinnierte er und stockte. Ich erstarrte und hoffte, dass er weitersprechen möge.
„Allerdings ein Lösbares.“, erlöste er mich.
„Was, wie, welches? Sagt!; ich tue alles!“, explodierte ich, als hätte jemand ein Ventil in mir geöffnet und der Alte lachte laut auf.
„Gemach, gemach“, beruhigte er mich und fuhr fort; „Wenn Du Raymond haben willst,“, und als er das sagte, nickte ich so, wie ein junger Hund mit dem Schwanz wedelt, „musst Du zu ihm gehen, sonst kommt er nicht zu Dir - geschweige denn in Deinen Besitz.“ Ich hörte auf zu wedeln.
„Ich kann ihn nicht kaufen?“
„Nein“, schüttelte der alte Mann seinen Kopf, so sehr, dass wieder diese albernen Bommeln um seine große Nase flogen.
„Aber wie soll ich denn dann zu ihm kommen?“, fragte ich entrüstet.
„Mit dem Bus,“, antwortete er ohne den Anflug eines Lächelns. Er meinte es ernst und ich war eingeschüchtert. „Welcher Bus?“, fragte ich schüchtern, und während er noch sagte „Linie S“, hielt vor dem Schaufenster ein großer gelber Omnibus. Noch bevor der Bus hielt, sah ich ihn. Raymond. Er saß am Fenster, hatte seinen Hut in die Stirn gezogen, wirkte so als würde er nichts und niemanden beachten, aber ich wusste, dass er alles sah und stürzte zur Ladentür. „Moment!“ befahl der alte Mann und ich drehte mich erschrocken auf dem Absatz um. „Was?“, fragte ich tonlos? Was ist denn jetzt noch, dachte ich. „Nur eine Kleinigkeit“, antwortete er, und während er noch antwortete, knöpfte er meinen zu engen Mantel auf und wieder schief zusammen. Irritiert schaute ich ihn an und fragte: „Warum tust Du das?“ und er lächelte nur und sagte: „Damit er Dich erkennen kann. Und nun ab mit Dir.“ Das musste er mir nicht zweimal sagen.



Wenn der letzte Omnibus der Linie S vorbeigefahren ist, setzt Raymond Queneau seinen Hut ab, steht auf, geht zu seiner Figur, hockt sich vor sie hin, schaut zu dem Spielzeug-Omnibus, der nahebei, aber nicht bei steht und in dem ich seither sitze; sucht mich, zwinkert mir zu, erhebt sich, geht zu seiner Ladentür, schließt ab und dreht das Schild auf fermée.


Anmerkung von Lala:

Es lässt mir keine Ruhe, daher muss ich es noch pflichtschuldigst loswerden: Das ist keine Stilübung a la Queneau. Hier verschraube ich - alle Pflicht gegenüber der Aufgabe vergessend - Versatzstücke aus der Übung neu zusammen, aber ich gebe die Begebenheit, um die es bei Queneau geht, in keinster Weise wieder. Wäre dieser Text eingereicht als Klassenarbeit zu Queneau die Note könnte nur Thema verfehlt, durchgefallen lauten. Diese Geschichte ist ein Kommentar zur Situation, eine Anekdote mit der vorgeschriebenen Begebenheit (Figur) zu verfassen. Aber es ist keine Stilübung im Sinne Queneaus.

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Kommentare zu diesem Text


 Lluviagata (13.10.11)
Böse! Schön!
Gab es da nicht mal einen Fährmann, der einem Blödmann nur seine Stange übergeben musste, damit er erlöst war?
Warum aber Nonsens? Das ist eine sehr schöne Geschichte, eine echte Jungensgeschichte, bei der auch Mädels mitfiebern ... ;) Lu ♥!
(Kommentar korrigiert am 13.10.2011)

 Lala meinte dazu am 13.10.11:
Hallo Lluviagata

Vielen Dank für Deine Hilfe(n). Die waren mir sofort einleuchtend und ich wünschte mir, sie wären auch offenbar ;)

Aber böse und schön, das höre ich immer gerne. Nonsens? Warum? Ich hab's halt lieber etwas kleiner, so im Maßstab 1:99. Ja, das ist feige.

Gruß

Lala

 Lluviagata antwortete darauf am 13.10.11:
Okay, gebongt! ;)

Was ich vergessen hatte zu erwähnen ist, dass mir der Schluss: [schließt ab und dreht das Schild auf fermée.] einen Gänsehautschauer übern Rücken gejagt hat. Es ist diese Endgültigkeit, die einem Angst macht.
Fazit: Ziel erreicht. Auch im Maßstab 1:99! ♥
(Antwort korrigiert am 13.10.2011)

 Lala schrieb daraufhin am 14.10.11:
Hallo Lluviagata,

hoffentlich beweist keiner das Gegenteil, aber auch beim Schreiben hatte das Gefühl, dass dieses "geschlossen" passt und zwar aus dem Grund, den Du nanntest.Klasse.

Gruß

Lala

 Songline (13.10.11)
Das ist super! Jetzt musst du es nur noch zu Didis Projekt verlinken ))

 Didi.Costaire äußerte darauf am 13.10.11:
Zu Dieters Projekt.

 Songline ergänzte dazu am 14.10.11:
:-)) Richtig! Wie komme ich darauf, dass es deins ist? Synapsenkollaps

 Lala meinte dazu am 14.10.11:
Hallo Songline,

super höre ich immer gerne :)

Ja, das Projekt war schließlich der Auslöser. Ich hatte gestern Abend den Text von schronzdorf gelesen, der in einem Satz diese Aufgabe löst. Frech und sprachlich sehr viel feiner, als das was ich hier sprachlich treibe. Aber Du hast recht, das muss ich jetzt noch tun, denn stilistisch und inhaltlich ist es mein Queneau und ohne den Ursprungstext wäre er witzlos. Dann werde ich mal Didi bitten, den Text in Dieters Projekt zu linken :D

Gruß

Lala

 Dieter_Rotmund (14.10.11)
Ikonographisch gesehen sind gelbe Busse doch zu sehr dem Bild des US-amerikanischen Schulbusses verbunden, da würde ich eine andere Farbe wählen.
Ansonsten: Super, dieser Einzug einer Art Meta-Ebene + Perspektivenwechsel...

 Lala meinte dazu am 14.10.11:
Hallo Dieter,

danke für Dein Gefallen und gelb ist zwar auch der große Gelbe in Berlin aber auch die amerikanischen Schulbusse und die Dinger von den Simpsons hatte ich bem Schreiben im Kopf gehabt. Welche Farbe haben französische Omnibusse?
Oder sollte ich die Farbe ganz weg lassen?
Gruß

Lala
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