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Engagiertes Gedicht zum Thema Terror

von  Misanthrop

Der schwarze Schnee verbreitet seine Sporen,
besät den Grund, will alles Land verfärben.
Den Knochenmenschen geht der Mut verloren,
die Geister tragen ungezählte Kerben.

Anita friert


Die Schlachtbank wartet, schweigsam schleichen Lämmer
in Reih und Glied. Zu ihren letzten Schritten
erschallt der Hass der Metzger wie Gehämmer,
die Luft durch kranken Redeschwall zerschnitten.


Anita hört


Entseelte Tote treiben hin zu Schloten.
Das Kaddisch bricht an Übermenschdiktaten.
Anita überspielt Geschrei mit Noten
aus Schumanns Träumerei und Moll-Sonaten.


Anita spielt


Die Schatten schwärzen kommende Äonen,

denn ihre Opferzahl misst sechs Millionen.



Anmerkung von Misanthrop:

 Anita Lasker-Wallfisch überlebte das Konzentrationslager Auschwitz nur aufgrund ihrer Fähigkeiten im Cellospiel. Sie begleitete die Todesmärsche und Wartende vor den Gaskammern mit dem eigens zusammengestellten Häftlingsorchester. Ihre Häftlingsnummer stand Pate für den Titel dieses Textes.

Interessant ist die Tatsache, dass sich in Hitlers Schallplattensammlung nicht nur die üblichen Verdächtigen finden ließen, sondern unter Anderem Bronislaw Hubermann (polnischer Jude), Artur Schnabel, Rachmaninow, Tschaikowski und Mussorgski. Dafür taugte jenes "minderwertige Erbgut" anscheinend ja doch.

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Kommentare zu diesem Text


 derNeumann (12.01.22, 22:03)
Guten Abend.

Zu sagen, dass das Gedicht mir gefällt, erscheint mir unpassend. Es bewegt und berührt mich jedoch sehr.
Gut gemacht, nur die erste Zeile hat nach meiner Lesart nicht die gleiche Melodie. Die wäre mit "verteilte" getroffen, aber dann würde die Zeit wechseln. Vielleicht lese ich aber auch falsch.

es grüßt,
der Neumann

 Misanthrop meinte dazu am 12.01.22 um 22:17:
Hallo derNeumann,

vielen Dank für Deinen Kommentar. Ich spreche das Wort verteilt tatsächlich dreisilbig aus (praktisch ver-tei-elt), dies scheint mir eventuell dialektbedingt zu sein. Alternativ könnte verbreitet als Ersatz herhalten, wie klänge das für Dich?

Es grüßt
derMisa

 derNeumann antwortete darauf am 13.01.22 um 12:25:
Mahlzeit.

Die Melodie passt jetzt und die Aussage gefällt mir sogar noch besser, da sie eine stille Wertung beinhalten kann, wenn man sie so herauslesen möchte.


es grüßt,
der Neumann

 



 Misanthrop schrieb daraufhin am 13.01.22 um 12:51:
Richtig, zumal der Kontext auch passt. Vielen Dank für Deinen Denkanstoß.

Misa

 AndreasG (13.01.22, 00:48)
Beim ersten lesen wurde mir das Gedicht erst zum Ende hin klar. Beim zweiten lesen trieb es mir die Tränen in die Augen. Sehr stark.

lg Andreas

 Terminator äußerte darauf am 13.01.22 um 00:53:
Nach der ersten Strophe dachte ich: "Wen parodiert er jetzt?"

 Misanthrop ergänzte dazu am 13.01.22 um 12:52:
Moin Andreas,

so war es gedacht, das Grauen kriecht auf leisen Sohlen, so wie es damals halt war. Vielen Dank für Worte und Empfehlung, Dein Lob ist gewichtig.

Grüße zurück
Misa

 Misanthrop meinte dazu am 13.01.22 um 12:53:
@Terminator Ach komm, das ist bei Weitem nicht mein erster ernsthafter Beitrag.

Was mich interessiert: An wen dachtest Du denn, wen ich hätte parodieren wollen?

 Terminator meinte dazu am 13.01.22 um 14:24:
Ich dachte nicht, es war ein Gefühl, weniger umgangssprachlich: eine Fehlleistung der Intuition. Ein Vor-Urteil angesichts vorheriger bitterböser Parodien der letzten Tage.

 harzgebirgler (13.01.22, 11:05)
es wird uns sicherlich auch nie gelingen
über diesen schatten je zu springen.

 Misanthrop meinte dazu am 13.01.22 um 12:54:
Das hoffe ich doch sehr, lieber Harzler. Danke fürs Reinluschern. :)

 harzgebirgler meinte dazu am 15.01.22 um 19:28:
PS: cello ist voll mein lieblingsinstrument -
toll auch, wenn wer noch arthur schnabel kennt! :)

 loslosch (13.01.22, 21:10)
zur anm.: hitler war zwar rassist, machte aber auch seltene ausnahmen. er schätzte Lehar und seine musik und verschonte daher dessen jüdische ehefrau:

https://de.wikipedia.org/wiki/Franz_Leh%C3%A1r#B%C3%BChnenwerke

sie wurde damit zur sog. ehrenarierin. der diktator hatte also keine "fundierte" ideologie, sondern war ein hundsgewöhnlicher schwerverbrecher mit dem alleinstellungsmerkmal großer macht. ich stelle mir vor, dass der diktator feuchte augen bekam, wenn er auf der schallplatte hörte:

"Hast du dort oben vergessen auch mich?
Es sehnt doch mein Herz nach Liebe sich.
Du hast im Himmel viel Engel bei dir!
Schick doch einen davon auch zu mir." (passage aus dem wolgalied der operette zarewitsch.)


zum gedicht: der "schwarze Schnee" erinnert ein wenig an die schwarze milch der todesfuge. die hatte Celan schon bei Rose Ausländer gekupfert. aber dein bild ist schlüssiger eingebettet, erinnert an sublimierten altschnee, der ascheregen aufgenommen hat.

was die metapher stark macht.   lo

 Misanthrop meinte dazu am 14.01.22 um 15:59:
Hallo Loddar,

die Story mit Lehar kenne ich. Seinen Hang zum Klassenfeind (bolschewistische Russen) hielt er allerdings geheim, manches aus seiner Schelllacksammlung enthielt weder den typischen Sticker 'Führerhauptquartiert' noch eine entsprechende Inventarnummer. Sein heimlicher Favorit war "Der Tod des Boris Gudonow".

Der schwarze Schnee entsprang tatsächlich dem Ascheregen, Celan hatte ich beim Verfassen gar nicht im Blick, aber egal, selbstredend kannte ich zu diesem Zeitpunkt seine schwarze Milch. Nochmals tausend Dank an derNeumann, sein Hinweis hat den Text verbessert.

Auch Dir danke ich, Loddar, für Lektüre und Anmerkungen, und auch für die Empfehlung.

Hutziehende Grüße
Misa (jupp, der von damals)

 AvaLiam (15.01.22, 10:23)
...es gibt der Menschen gar nicht so wenige, die, um zu lieben, nicht achten müssen...

Hitler liebte die Musik - dabei war es weniger von Bedeutung, wer sie spielte - nur wie sie ihn berührte...  ich könnte noch das Beispiel der Prostitution bringen... aber ich fürchte, mit einer weiteren Ausführung meines Kommentars entwerte ich deine Zeilen und ihre Weise, mich zu berühren... das haben sie nicht verdient...

Liebe Grüße
Ava

 Misanthrop meinte dazu am 15.01.22 um 10:36:
Moin Ava,

danke für das Mitteilen Deiner Assoziationen. Wie arm wäre diese Welt, wenn wir nicht unseren Konnotationen zeitweilig nachhängen würden.

Eine Abwertung erfolgt nicht, keine Angst, die Hauptsache ist ja - wie Markus Lanz jetzt sagen würde - dass der Text etwas mit Dir macht. Ist es gelungen, so freue ich mich für Dich.

Nebelgruß
Misa

 Teichhüpfer meinte dazu am 17.01.22 um 21:26:
Geh nach Hause, E.T. wartet schon.

 Misanthrop meinte dazu am 17.01.22 um 21:37:
Ach so.
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