Wodka violett

Kurzgeschichte zum Thema Rausch

von  RainerMScholz

Er war betrunken, seine abgeschnittenen Beine lagen auf den Schienen und der Straßenbahnschaffner schlug die Hände vor das Gesicht. Alle glotzten an den Fenstern, Passanten blieben stehen, sahen das Blut und die leblosen, durchtrennten Gliedmaßen und Wodka im Koma unter dem regengrauen Himmel über der Stadt.
Erst sehr viel später erwachte er, und dann begann er zu schreien. Weil er seine Beine nicht finden konnte.
Viel weiter in der Zeit sollte er wieder mit Hilfe von ungelenken, steifen Prothesen mühsam eine Art von Fortbewegung praktizieren können.

"Ich habe mir die Eier gepierct.".
"Was? Mach´ kein´ Quatsch!".
"Wenn ich dir`s sage. Ich hab`s selbst gemacht, mit einer heißen Nadel, dann Alkohol `drauf und die Ringe `reingesteckt.".
Wodka zieht die kurze Trainigshose herunter, indem er mit dem Oberkörper von der einen auf die andere Seite seines Steißbeines pendelt und läßt seine haarigen Hoden mit den silbernen Ringen sehen, an denen, bei näherem Betrachten, zwei kleine Totenköpfe angelötet sind. Die Durchstichstellen scheinen leicht gerötet, ausgefranst und geschwollen zu sein.
"Du bist bescheuert, Wodka.".
Chris lacht unsicher und starrt indigniert zwischen Wodkas grobvernarbte Schenkelstummel. Russe nimmt noch einen Schluck aus der Flasche und sagt weiter kein Wort dazu, glotzt stattdessen lieber auf die flimmernde Mattscheibe des Fernsehers, die das dunkle Zimmer mit einem blauen Echo unterlegt. 'Man behind the sun' läuft da, aber eigentlich interessiert ihn der Inhalt (wen schon?!), nicht sonderlich, das Japanisch ist ohnehin nicht synchronisiert und der Ton abgestellt. Nur ein weiterer, für den freien Verkauf nicht zugelassener Metzgerfilm mit B-Movie-Qualitäten aus Wodkas immenser Sammlung mindestens fragwürdiger Videofilme, den er jedoch mit Sicherheit als Kult- und Originalobjekt klassifizieren und beschreiben würde, früge jemand, der an einem halbstündigen Vortrag dahingehend Interesse zeigte.
"Ganz toll, Wodka. Hat das nicht wehgetan?".
"Hab´ mich vorher inwendig mit Aldischnaps betäubt. Da ging`s ganz gut. Eigentlich war ich total weg.".
"Da kann man ja von Glück sagen, daß du nicht danebengeschossen hast.".
Alle lachen, oder sie grinsen vielmehr hustend.
"War wohl billiger als im Studio.".
"Aber was ist mit Infektionen?".
Chris verdreht die Augen und blickt vielsagend zu Russe hinüber.
"Ich brauche meine Eier doch `eh nur zum Wichsen.", sagt Wodka. Die alte Leier. Er stützt sich auf eine Krücke und greift nach der Flasche, die am Boden steht. Er kippt leicht vornüber und rutscht auf seine Stümpfe hinab, die Hoden mit den Ringen hängen links aus der Hose heraus.
"Da hast du auch wieder recht.".
Wodka hatte einen massiven Oberkörper, er war eine imposante Erscheinung: die langen schwarzglänzenden Haare, gebändigt von einem Stirnband über den buschigen Augenbrauen, die Augen selbst, in denen die Iris kaum auszumachen war, die breiten Schultern, von der einseitigen Belastung der Fortbewegung mit den Gehhilfen muskulös gewölbt, starke Arme, die im Kontrast zu den weißen, blaugeäderten Klavierspielerfingern standen. Wodka hatte immer ein Metal-T-Shirt an, auf dem der Name der Band aufgrund des verkrakelten Schriftzuges für Uneingeweihte nicht einfach zu entziffern war. Was meistens auch besser war. 'Impaled Nazarene', 'Gorgoroth', 'Blasphemy', 'Cannibal Corpse'. Wodka war immer betrunken. Wodka hatte keine Beine.
Russe schläft ein, delirierendes Zeug brabbelnd, Chris erzählt wirre Geschichten von norwegischer Musik, schwarzweiß angemalten Kirchenschändern und brennenden Herz Jesu-Gemeinden. Die Flasche ist leer, und im Fernsehen macht Danuta wieder die Beine breit, um sich von einem gorillaähnlichen, unterbezahlten Bodybuilder penetrieren zu lassen.

Irgendwann gehen Chris und Russe. Wodka schläft am Boden zwischen seinen Prothesen. Sie werden ihn nicht wecken. Später in der Nacht sollte er in den Plastikeimer neben seinem Bett kotzen. Seine Hoden schmerzten dumpf pochend, und er träumte von den zweidimensionalen Bildschirmbrüsten Tracy Lords´ und ihren falschen spitzen Schreien, wenn sie einen Orgasmus mit irgendeinem nachgemachten Hausmeister vortäuschte, bevor er in noch bizarrere Träume abdriftete, in denen er wieder laufen konnte.

Wodka war dreißig Jahre alt. Er war seit fünf Jahren nicht weiter als dreihundert Meter - so weit war es zum Kiosk - von dem Haus entfernt gewesen, in dem er mit seinen Eltern lebte, seiner für den Lebensunterhalt sorgenden Mutter und seinem durchgedrehten, in seiner Nazivergangenheit steckengebliebenem Vater, der zu feierlichen Anlässen schon einmal das Horst Wessel-Lied im Garten intonierte. Wodkas Bruder Connie sah von Zeit zu Zeit herein. Er war längst fortgezogen und hatte ein eigenes Leben außerhalb der Schattenwelt seines Bruders aufzubauen versucht. Er hatte einen psychomotorischen Defekt, einen Tick, der sein Leben im Grunde unnötigerweise verkomplizierte: ein Zucken der linken Gesichtshälfte, das gelegentlich unkontrollierbar seine Mimik durchschnitt, besonders wenn er aufgeregt war. Sein Bruder hatte ihm einmal mehr mit der Krücke auf den Kopf geschlagen, seitdem ging das Zucken nicht mehr weg. Aberwitzig zerschnitt eine Falte sein Gesicht, wenn er versuchte zu lächeln, was zum Glück selten genug vorkam. Wie eine leere Stelle, an der etwas sein sollte, von dem keiner zu sagen gewußt hätte, was es sei. 

Jetzt war das jedoch gleichgültig, denn Connie ist einer Überdosis zu nahe. Als hätte das einen Unterschied gemacht. Russe und Chris sitzen wieder einmal um seinen bewußtlosen, in sich zusammengesackten Körper herum und hören dem alkoholisierten Lachen, Kreischen und Weinen Wodkas zu und warten, dass Connie wieder aufwacht oder eine Regung von sich gibt, trinken aus der Flasche, rauchen und warten. Das Zimmer hat die Farbe des Innern eines Sarges, das dunkle Violett verblühter Veilchen, gebrochen vom flackernden, zischenden Licht des permanent strahlenden Bildschirms.
Die Welt befindet sich außerhalb dieses Raumes. Hierdrin ist die Auszeit des Lebens, eine mit Schatten angefüllte Nische, ein Daseinsvakuum.
"Wieviel Uhr ist es ?".
"Ist doch scheißegal. Deine Bahn ist `eh abgefahren.".
"Wieviel Uhr?", insisitiert Chris.
"Hast du einen Termin?".
"Ich muß morgen aufstehen.".
"Arbeiten?".
"So ähnlich.".
"Aha, na dann: die Sonne ist schon seit geraumer Zeit untergegangen, dann ist es bestimmt so ungefähr Viertel nach halb oder so ähnlich.".
"Vergiß es.".
"Genau.", schaltet Wodka sich ein.
"Sehen wir uns lieber...".
"Was!?".
"Sehen wir uns lieber...".
"Ich weiß schon, was jetzt kommt.".
"Sehen wir uns lieber den Rest vom 'Chainsaw Massacre' an.".
"Schon wieder.".
Russe öffnet ein Bier mit der Unterseite des Feuerzeugs.
"Das ist doch egal, oder?!".
"Texas, oder?!".
Chris nimmt sich ebenfalls ein Bier.
"Also gut. Schieb`s eben `rein.".
Wodka legt die Kassette ein, drückt die Katastrophen ohne Ton in N-TV weg und startet an der Stelle, an der die Eingeschlossenen merken, dass im Keller nicht nur Rinderhälften am Haken baumeln. Schweigend starrten sie in den gläsernen Nebel. Connie schlief mittlerweile auf dem Sofa und atmete regelmäßig. Der Chantré war umgestürzt und sickerte in den dunklen farbunspezifischen Velourteppich.
Niemand wusste, wann die Sonne aufgeht. Die Kettensäge raste, jemand schrie hysterisch. Russe, Chris und Wodka.



(c)  Rainer M. Scholz

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Kommentare zu diesem Text

PaulVicious (26)
(15.01.09)
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 RainerMScholz meinte dazu am 16.01.09:
Kenn ich nicht, klingt aber gut. Danke.
Grüße,
R.

 Mutter (15.01.09)
Kann mich da Paul nur anschließen - harter Text, gut gemacht. Besonders den erzählerischen Übergang am Ende zu den Dialogen fand' ich cool, hat noch mal enorm das Tempo verändert.

 RainerMScholz antwortete darauf am 16.01.09:
Schön, wenn´s schnell geworden ist, obwohl sich niemand wirklich bewegt.
Danke, Mutter.
Grüße,
R.
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