Schlüsselerlebnis

Kurzgeschichte zum Thema Unterdrückung

von  tastifix

Berlin, eine Stadt der Geschichte, aber auch Sinnbild pulsierender Lebensfreude. Doch hinter dieser Fassade der Dynamik stehen Menschen und ihre Einzelschicksale.
Meine Geschichte handelt von Martina, einem 14jährigen Teenager, dem all dieser Schwung der Jugend vorenthalten worden war. Der in einem inneren, aufgezwungenen Käfig wie eine Marionette lebte. Aufgezwungen vom eigenen Elternhaus, von der eigenen herrschsüchtigen Mutter. Einer Dame der Gesellschaft, attraktiv, intelligent und, wenn sie es wollte, von sprühendem Charme. So kannten sie Freunde und Bekannte. Das Andere ahnte niemand. Das spielte sich hinter der Bühne ab. Bedeutete für die Tochter eine Kindheit und Jugend im Zwiespalt der mütterlichen Gefühle. Martina wurde geliebt und verwöhnt, solange sie im Sinne ihrer Mutter agierte, die angepasste Tochter aus gutem Hause spielte. Martina wurde gehasst, versuchte sie, ihrer eigenen Persönlichkeit Raum zu geben, sie selbst zu sein. Selten genug hatte das Mädchen dazu den Mut. Immer dirigierte sie die Angst vor Entdeckung, vor Strafe, Missachtung oder durch ihr ab und an aufmüpfiges Verhalten ausgelöste Hassgefühle. Empfand die Mutter Hass, führte das zu für einen Teenager schlimmen Demütigungen, körperlicher Züchtigung und psychischer Quälerei.
Eines Tages gipfelte es darin, dass die Mutter in ohnmächtiger Wut ihrer Tochter das Letzte raubte, was diese noch als ihr Ureigenes ansehen konnte: Das Tagebuch. Sie nahm es sich, las laut daraus vor, zwang ihre zitternd vor ihr stehende Tochter, zuzuhören, verlachte sie: „Wie kannst du eine solche Scheiße schreiben?“ Ihr Kind stand vor ihr wie gelähmt, vermochte weder zu protestieren, zu schreien und erst recht nicht zu weinen. Die Tränen waren vor Furcht wie eingefroren, die Kälte dieser Aktion wegen bemächtigte sich seines ganzen Körpers. Martina hatte in ihrer seelischen Vereinsamung und Not diesem Büchlein alle Phantasien, allen Kummer anvertraut, um sich Luft zu machen, um überhaupt noch atmen zu können. Warum sie, warum so? Was hatte sie verbrochen, dass ihre Mutter sie so behandelte, als wäre sie ein Wurm, ein Nichts. Unfähig zu allem und eigentlich unwürdig, überhaupt zu existieren. Jeden Tag hämmerte diese Frau es ihr ein. „Mir ginge es besser, du lebtest gar nicht. Zu nichts bist du fähig. Du bist der Nagel zu meinem Sarg.“ Doch beim Vorlesen allein blieb es nicht. Die Mutter nahm vor den Augen ihrer Tochter diese Sammlung der innersten Gedanken ihres Kindes und zerriss sie. Auch da keine Möglichkeit von Martinas Seite aus, zu reagieren. Sie war vor Entsetzen wie tot. Nur eine einzige Überlegung beherrschte das junge Mädchen: „Jetzt habe ich nichts mehr, was mir gehört. Jetzt ist es so, als ob ich nicht mehr wäre.“ Der fassungslose Blick zur Mutter war das Einzige, dessen sie fähig war. Ein absolut toter Blick. Mehr nicht.
Ein Kind, dem Elternhaus völlig ausgeliefert, nicht in der Lage, sich gegen dies alles zu wehren, resigniert, ergibt sich irgendwann in sein Schicksal und macht diese aus der Luft gegriffenen Anschuldigungen zu Wahrheiten sich selbst gegenüber. Bringt es nicht mehr, sich positiv zu sehen, sich anzunehmen als ein wertvoller Mensch, der es aber ist. Wie alle Menschen.
Der Vater schwieg zu allem, um seine Ruhe zu haben. Er lebte in der Welt der Wissenschaft, stand total unter dem Pantoffel seiner Frau. Nicht nur ihre Tochter demütigte diese, sondern auch ihn, sogar vor den Augen Martinas. Auch er lebte ein Marionettendasein. Auch er lachte, wenn sie es befahl. Auch er liess es zu, dass sie ihn als Persönlichkeit lächerlich machte, wehrte sich nicht. Hauptsache, er konnte sich seinen Büchern widmen.
Zu ihm hatte Martina ein normal gutes Verhältnis. Sie war ihm ähnlich, hatte seine Ader zur Schwärmerei, seine extreme Liebe zur Natur in übergrossem Maße geerbt. In Bezug darauf hatten sie dieselbe Wellenlänge. verstanden und ergänzten sich. Trotz der Versuche der Mutter, dieses Verständnis für einander zu zerstören, in dem sie Ehemann und Tochter gegeneinander auszuspielen versuchte.
Das Leben im Elternhaus trug dazu bei, dass Martinas einziger Gedanke war: „Weshalb eigentlich lebe ich nur? Bitte entschuldigt, dass ich überhaupt auf der Welt bin!“ Durchweinte Nächte voller Angst vor Entdeckung dieser Gefühlsregung waren die Folge. Mit niemandem durfte sie darüber ein Wort reden. Noch nicht einmal ihren Freundinnen vertraute sie sich an. Der einzige Mitwisser: Ihr Teddybär. Verschwiegen wie ein Grab und immer für sie da. Nein, es gab  noch etwas, was Martina in ihrem Kummer Halt bot: Ihr Glaube an Gott half ihr, so manche Tage zu überstehen, an denen die Mutter zur Furie wurde. Später hätte Martina nicht mehr sagen können, wie viele verzweifelte Stossgebete sie gen Himmel geschickt hatte. Wie oft sie gefragt hatte: Warum nur, warum? Was habe ich denn getan? Es waren hilflose Fragen ohne Antworten. Doch allein dadurch, dass sie sie gestellt hatte, erleichterte Martina für Sekunden ihr Herz und schöpfte Kraft für den seelischen Überlebenskampf des nachfolgenden Tages.
Jahrelang verkroch sich Martina in sich selbst, war fast menschenscheu zu nennen. Hielt den Kopf gesenkt, kamen ihr Leute auf der Strasse entgegen: „Seht mich bitte nicht an. Ich bin so hässlich!“ Selbst ihren Freundinnen gegenüber spielte sie mittlerweile eine Rolle. Trug ein überaus fröhliches, liebenswertes Wesen zur Schau, um sich dahinter zu verschanzen. Sie war es, und doch war es in all diesen Jahren ihr Schutzmantel, damit niemand in sie hinein sehen sollte, um wohlmöglich zu erkennen, welche innere Marter sie gefangen hielt.

Martina wurde älter, wuchs zum Teenager heran. Im Verhalten der Mutter änderte sich nichts. Nichts? Halt...doch, es verschlimmerte sich alles noch. Martina hatte über alles, was sie redete, mit Freundinnen oder sonst wem redete, wortwörtlich Auskunft zu geben, durfte nichts zurück halten, wurde ausgepresst bis auf die geringste Kleinigkeit. Sie hatte die Schule vorzeitig verlassen und stattdessen eine Ausbildung zur PTA gemacht. In den Augen ihrer Mutter eine absolute Schande für die Familie, in der fast alle aufs Abitur oder sogar ein Studium verweisen konnten. Seelisch fast am Ende, kam Martina in die Tanzschule. Für eine Tochter aus gutem Hause gehörte das zum guten Stil. Voller Komplexe rechnete sie damit, niemals in eine Clique aufgenommen zu werden. Immer aus der fröhlichen Schar der Jugendlichen ausgeschlossen zu sein. Noch weitaus tragischer, lebte sie in der Überzeugung, dass sie ein Nichts sei. Doch es sollte die Wende ihres Lebens werden. Endlich, endlich würde sie aufwachen dürfen, sich als vollwertiges Mitglied der Menschheit sehen dürfen. Ja, nicht nur das.

Das Schlüsselerlebnis, dass für Martina die absolute Rettung aus der inneren Not bedeutete, wartete schon auf sie. Kaum mochte sie es sich eingestehen, kaum wagte sie es, diese darob aufkommende Freude richtig auszukosten, sich zu sagen: „All dies gilt mir, niemandem sonst!“ Was aber war es, was sie plötzlich leben, zu einem überaus frohen Menschen werden liess?
Es war nicht die Tatsache, dass sie eine hervorragende Tänzerin war. Es war nicht die Tatsache, deswegen von allen Seiten bewundert zu werden. Auch nicht, deshalb für die Karriere einer Turniertänzerin vorgeschlagen zu werden. Natürlich freute es sie und imponierte ihr, in der Richtung solche Beachtung zu finden. Doch das war nicht das Ausschlaggebende.
Die Säulen für ihr zukünftiges Selbstbewusstsein wurden anders begründet.
Sie konnte es kaum fassen. Sie wurde von allen Seiten umschwärmt. Die attraktivsten Jungen rissen sich um sie. Nicht nur als Tanzpartnerin war sie begehrt, sondern noch viel mehr als Gesprächspartnerin. Die Twens lachten sich über so manche Mädchen mit deren Verführungsversuchen kaputt. Und setzten sich zu Martina und schütteten ihr Herz aus, liebten es ganz offensichtlich, sich mit ihr ernsthaft zu unterhalten. Martina brauchte Zeit. Es erschien ihr so unwirklich, sie selbst sich so unwert, dass dies alles ihr geschah. Nicht den Anderen, sondern tatsächlich ihr, dem in seinen Minderwertigkeitskomplexen gefangenen Mädchen. Sie spürte, wie langsam, ganz langsam die inneren Ketten zersprangen. Doch war dies verbunden mit vielen Tränen des Erleichterung und der immer krasser werdenden Erkenntnis dessen, was alles ihr von der Mutter zugefügt worden war. Das alles, alles eine schlimme absichtliche Lüge gewesen war, um sie klein zu halten, sie zu zerstören. Martina fing an, die Verehrung zu genießen, das jahrelange Leid abzuschütteln und endlich frei zu lachen. Ja, sie gestand sich zu und verinnerlichte es, dass nichts, aber auch nichts von dem zuträfe, was ihre Mutter in ihre Kinderseele eingeimpft hatte.
Sie stand oft im Mittelpunkt, wurde umschwärmt. Ihre Meinung war gefragt.
Martinas Seele atmete auf. Und gesundete. Das junge Mädchen hielt sich vor Augen: „Sie mögen mich. Ich bin kein Nichts, kein bösartiges Biest, als das mich meine Mutter hin gestellt hat. Nein, ich bin jemand, den man für wert hält, beachtet zu werden. Den man gern hat. Ich brauche mich nicht zu verstecken, nie mehr in Angst vor den Mitmenschen meinen Kopf zu senken. Ich bin Wer!“

Martinas letzte innere Fessel zersprang. Wieder folgten für sie durchweinte Nächte. Doch es waren keine Nächte der Verzweiflung, der Selbstverurteilung. Nein, diesmal waren es Freudentränen, die sämtliche Qualen aus den vergangenen Jahren hinweg schwemmten. Martina wurde selbstbewusster. Froh trug sie ihren Kopf hoch, genoss den unbändigen Jubel ob der Befreiung aus ihrem inneren Gefängnis.

Niemand würde sie je seelisch mehr zerschmettern. Sie hatte gelernt, wer sie wirklich war. Ein junges intelligentes, beliebtes hübsches Mädchen voller Fröhlichkeit und Charme.

Ein Mädchen mit einer starken Persönlichkeit!

19. Okt. 04


Anmerkung von tastifix:

Über eine Beurteilung dieser Geschichte würde ich mich sehr freuen!

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Kommentare zu diesem Text

Symphonie (73)
(19.10.04)
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 tastifix meinte dazu am 19.10.04:
Liebe Ela!

>Ich freue mich riesig über Deinen tollen Kommentar.
Vielleicht ahnst du ja was.
Es ist meine(!) Geschichte!

Lieben Gruss
Deine Gaby
Tara (43)
(19.10.04)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 tastifix antwortete darauf am 19.10.04:
Danke, Tara, für Deine tolle Anerkennung. Ja, ich habe lange gezögert, ob ich überhaupt diesen Text ins Netz stellen sollte. Aber ich glaube, wer mich nicht kennt, der kommt nicht auf den Gedanken, dass ich die Martina sein könnte.
Und, wenn doch, dann kann ich es auch nicht ändern.
Ja, leider ist diese Geschichte in allen Einzelheiten wahr.
Jetzt weisst du auch, weshalb ich zeitweise Empfindungen gut verdrängen kann. Ich musste es ja von Kindesbeinen an. Sonst wäre ich nicht klar gekommen.

Gunny hat mir heute drei ganz ausgefallene Briefe geschrieben. So süss -das kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Ganz viel Gefühl und mit dollem Humor. Ich habe hier gesessen und fast geweint. So hat mich das gerührt.
Wie geht es Euch denn?
Hast Du schon eine Reaktion auf Deine Bemühungen wegen Schatzi? Oder noch gar nichts gehört?

eine liebe Umarmung
Deine Gaby
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