Der 86. Breitengrad, oder: Erwin, eine Bewegung und du bist tot!
Erzählung zum Thema Unterdrückung
von kirchheimrunner
Der 86. Breitengrad…oder: Erwin, eine Bewegung und du bist tot!
Das ist die Geschichte von Erwin Dittmaier. Er war mein Schulkamerad. Na, ja - Kamerad wäre vielleicht zuviel gesagt. Der Erwin ging in meine Klasse. Mit Ihm wollte sich keiner abgeben.
Auch ich nicht! Erwin war ein Streber. Seine Eltern hatten hohe Ziele mit ihm: Übertrittsklasse ins Gymnasium. Um das zu schaffen, brauchte er die richtige Dosis Gehirndoping. Es waren große gelbe Tabletten die er in einer Plastikdose aufbewahrt hatte. In jeder Pause zählte er sich 4 oder 5 auf die Hand und würgte sie mit einem Schluck Milch aus der Tüte hinunter. Zusätzlich lutschte er noch winzig kleine rote Pillen; - aber die waren für die Konzentration, sagte der Erwin und wirkte dabei immer so eigenartig fahrig und abwesend.
Über den Erwin erzähle ich euch später mehr. Denn ihr kennt bisher weder meine Schule noch mich. Bei mir, da habt ihr nicht viel verpasst, aber für unsere Schule solltet ihr euch schon ein bisschen Zeit nehmen, - sie ist es wert!
Vier Jahre lang, von 1970 bis 1974, besuchte die Fritjof –Nansen Realschule für Knaben in München Bogenhausen. Unsere Schule war ein prachtvoller Jugendstilbau mit übergroßen Fenstern. Das Gebäude hatte einen Glockenturm. Da wusste man immer, was es geschlagen hatte.
Heute ist Mittwoch. Wir befinden uns in der Klasse 9b. Unser Zimmer ist im 4. Stock. Auf dem Stundenplan steht Erdkunde.
Wir grinsen.
„Der Doffeck wird zu spät kommen. Bis er vom Pausenhof die Treppen hochgehechtet ist, vergehen bestimmt 5 Minuten“. Wir hatten wieder einmal recht. Der Doffeck Vitus war völlig ausgepumpt und kam ein ganzes Stück zu spät. Wie jeden Mittwoch nach der kleinen Pause. Er konnte es einfach nicht lassen. Er hatte auf dem Pausenhof mit der Erika Kapeindl geflötet. Sie gab für die 7. und 8. Klassen Musikunterricht.
Wir wussten es genau.
„Der Doffeck hat es auf diese alte Jungfer abgesehen. Er hat ein Auge auf sie geworfen!“ Fragt sich nur welches? Das rechte, dass immerzu stier geradeaus schaute, oder das linke, dass gefährlich nach außen schielte?
Aber das nur nebenbei!
Doffeck stürmte ins Zimmer, wischte sich die letzten Brösel seine Laugenbrezel aus dem faserigen roten Bart und setzte sich ans Pult.
Wir wussten was jetzt kam: Er kramte ein Taschentuch aus seinen fleckigen Cordjeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt konnte er klar denken! Aber für uns wurde die Luft stickig und ungemütlich. Und das aus zweierlei Gründen. Erstens weil hinter dem Doffeck immer eine ekelhafte Schweißwolke herzog und zweitens weil wir die Stegreifaufgabe in Erdkunde herausbekommen würden.
"Die Stunde der Wahrheit", wie Doffeck meinte.
Die Arbeit war gar nicht so schlecht ausgefallen.
Kein Einser, wie üblich; drei Zweier, zwölf Dreier, vierzehn Vierer, sechs Fünfer und ein Sechser.
Ich war mit meiner Zwei überglücklich und nutzte die Zeit zum Träumen. Ich wurde erst wieder wach, als der Erwin Dittmaier hinter mir aus Verzweiflung zu heulen anfing. Der Doffeck machte ihn gerade fertig: „Der Fritjof Nansen würde sich im Grab umdrehen, wenn er gelesen hätte, was du da zusammen gesponnen hast!
Dittmaier, schreib auf was ich dir diktiere:
Fritjof Nansen geboren 1861, gestorben 1930; er war Polarforscher und kein Entdecker Afrikas, du beschränkter Zulu, du! Nansen kam auf die Idee, sein Schiff im Packeis einschließen zu lassen, um so - wie er hoffte - den Nordpol zu erreichen. Er machte allerdings die Entdeckung, dass das Packeins nach Süden trieb. Fritjof Nansen hatte auf seiner Suche nach dem Pol immerhin den 86. Breitengrad erreicht!
Der Doffeck klappte den Schulatlas auf, der vor dem Erwin auf dem Tisch lag und klopfte mit seinem Zeigefinger immerzu auf den sechsundachtzigsten Breitengrad herum.
Der Erwin, der Depp konnte sich das nie merken.
„Sechsundachzigster Breitengrad, Dittmaier! Muss ich für dich alles drei Mal erklären? Und tu mir einen Gefallen: Mümmle nicht mit deinen Kiefern, wie ein Großvater wenn ich mit dir rede!“
Wenn der Doffeck wüsste! Erwin hatte sich gleich nach diesem Anpfiff eine Handvoll gelber Tabletten in den Mund geschoben und panisch darauf herumgelutscht.
Es ist der 86. Breitengrad, Erwin – konzentriere dich!
Nach der Erdkundestunde hatten wir Religion. Erwin musste umziehen. Er war evangelisch. Das war seinerzeit sowieso äußerst verdächtig! Da der Prälat Kiefinger, der uns für das heilige Sakrament der Firmung vorbereiten sollte, verhindert war, kamen wir in den Genuss einer Freistunde. Stilles Ausarbeiten der Hausaufgaben!
Wir hatten eine bessere Idee:
Wir wollten dem Erwin helfen.
„Der hat sowieso nicht alle Tassen im Schrank, meinte der Alfred; - ein Brett hat er vor dem Hirn, so lang wie der 86. Breitengrad!“
Alle wieherten! Ich auch.
Und damit der Depp nicht vergisst, wo der 86. Breitengrad ist, nageln wir ihm seinen Atlas auf den Tisch. Den Dachpappenstift, den wir vom Pedell geholt hatten, fixierten wir mit der Spitze nach unten, genau nördlich von Spitzbergen.
Ihr könnt mir glauben, dass es eine verdammt harte Angelegenheit war, den Nagel mit dem Rahmen des Schirmständers so ins Holz hineinzuschlagen, dass wir ihn auf der Unterseite der Platte umbiegen konnten. Der Atlas wurde zuge-klappt. Nichts Verdächtiges war zu sehen.
In der letzten Stunde hatten wir Englisch.
Der Erwin saß wieder auf seinem Platz.
„Alles vom Tisch“, kreischte Frau Gebel mit ihrer unnachahmlichen Kreissägenstimme. „Wir schreiben eine Vokabel – Ex“.
Na prima. Keiner hatte was gelernt, - außer Erwin vielleicht. Der war gut in Englisch. Er sollte ja ins Gymnasium übertreten.
„Dittmaier! Hörst du nicht? Alles vom Tisch habe ich gesagt! Den Schulatlas brauchst du nicht für Englisch!“ Ehrlich, die Frau Gebel war manchmal wirklich unangenehm.
Der Erwin gehorchte. Das heißt eigentlich, er wollte gehorchen. Aber der Atlas bewegte sich nicht vom Fleck. Er zog und zerrte wie ein Berserker, und machte ein absolut doofes Gesicht dabei.
Wir wieherten wieder.
Dann riss er mit aller Gewalt am Atlas, kippte mit dem Stuhl nach hinten und stürzte seine Schulbank um.
Jetzt hatte er die Bescherung und wir hatten Glück. Mrs. Gebel zeterte mindestens eine Viertelstunde über diese Unverfrorenheit. Sie zeterte nicht auf Englisch, sie zeterte auf Deutsch.
Der Erwin, der Sauhund, er hatte uns vor der Extemporale gerettet. Heute tut mir der Erwin leid. Wie konnten wir so gemein zu ihm sein?
Nach den Osterferien wurde es für viele von uns eng. Besonders für mich. Der Übertritt in die 10. Klasse war gefährdet; Mathe, Englisch, Physik und Chemie. Alles mangelhaft, wenn nicht ungenügend. Anderen ging es ähnlich. Die meisten würden sich so durchwursteln. Ein paar wenige machten Anstalten, wirklich fleißig zu sein. Sie wollten wirklich etwas leisten. Oder taten sie ihren ambitionierten Eltern nur einen Gefallen.
Fragen wir den Erwin:
Er stand auf der Toilette, genau zwischen Alfred und mir. Irgendwie bewunderte ich ihn. Er erledigte sein Geschäft mit einer totalen geistigen Hingabe; - er war absolut konzentriert. Erwin würde sich nie beim Pinkeln die Finger nass machen; - nie und nimmer. Alfred wollte das ändern!
„Erwin, schau auf die Uhr, die Pause ist schon vorbei. Meinst du nicht, dass dich der Doffeck heute mündlich ausfragen will. Du musst doch deinen Fünfer ausbügeln!“
Auf so etwas war der Dittmaier offensichtlich konditioniert: Noten ausbügeln! Leistung bringen!
Der Erwin zögerte keinen Moment, riss den Reißverschluss seines Hosenstalls mit einem Ruck nach oben und rannte zur Tür und stürmte ins Klassenzimmer. So stand er dann vor dem Doffeck. Hilflos baumelte sein eingezwickter Specht zwischen seinen Hemdzipfeln herum.
Er musste zum Sanitäter gebracht werden. Die Haut war eingeklemmt. Das war bestimmt unangenehm. Aber besonders blöd war, dass er seine schlechte Erdkundenote nicht verbessern konnte.
Der Erwin würde sich das nicht gefallen lassen. Das machte er uns am nächsten Tag klar. Seine Eltern wollten wissen, wie ihm das Ungeschick passieren konnte. Erwin war drauf und dran den Alfred und mich zu verpetzen.
Für solche verräterischen Absichten gab es nur eine Strafe: Der Erwin wird auf den Thron gesetzt!
Und zwar nach der letzten Stunde, damit sich die Folter auch rentiert!
Nach dem Schlussgong verwickelte ich den Erwin in ein Ge-spräch, das ihn überaus interessierte:
Mathehausaufgaben! Er war wirklich lieb. Er erklärte mir alles haarklein. Er erkannte meine gemeine Absicht nicht.
Als er so richtig am vorrechnen war, schubste ich ihn, Erwin strauchelte nach hinten und fiel in den Papierkorb, den der Alfred unter seinen Hintern schob.
Erwins dürre Beine baumelten heraus.
Kennt ihr diese übergroßen Papierkörbe aus Peddigrohr? Da hat passt allerhand hinein: Apfelbutzen, Butterbrotpapiere, Spickzettel, Milchtüten (Cola – Dosen gab es zu meiner Zeit noch nicht); - und der Hintern vom Erwin hatte auch noch platz.
So leicht kam man da nicht heraus!
Auch der Erwin nicht.
Mochte er noch so fuchteln.
Trotzdem musste es schnell gehen:
Eine Schulbank wurde auf das Lehrerpult gehoben und ein Stuhl auf die Bank gestellt. Und dann zu guter letzt folgte der Papierkorb mit dem Deliquenten. Der Verräter saß nun gut 2 Meter über dem Erdboden auf seinem wackeligen Thron.
Wie blass er auf einmal war, wie ein Leichengräber.
Wie ruhig er war. Ganz regungslos und starr vor Angst.
Er hörte mich bestimmt noch rufen:
„Erwin, eine Bewegung und du bist tot!“
Dann löschten wir das Licht und gingen nach Hause.
Am nächsten Montag war der Erwin nicht mehr an unserer Schule.
Er kam ins Internat.
Sein Fünfer in Erdkunde hatte ihm das Kreuz gebrochen.
Heute denke ich oft an den Erwin Dittmaier.
Wir waren echt gemein zu ihm.
Darum lieber Erwin, wenn du das liest, sollst du wissen, dass mir alles das, was wir dir angetan haben, sehr leid tut. Kannst du mir verzeihen?
05. April 2005
Das ist die Geschichte von Erwin Dittmaier. Er war mein Schulkamerad. Na, ja - Kamerad wäre vielleicht zuviel gesagt. Der Erwin ging in meine Klasse. Mit Ihm wollte sich keiner abgeben.
Auch ich nicht! Erwin war ein Streber. Seine Eltern hatten hohe Ziele mit ihm: Übertrittsklasse ins Gymnasium. Um das zu schaffen, brauchte er die richtige Dosis Gehirndoping. Es waren große gelbe Tabletten die er in einer Plastikdose aufbewahrt hatte. In jeder Pause zählte er sich 4 oder 5 auf die Hand und würgte sie mit einem Schluck Milch aus der Tüte hinunter. Zusätzlich lutschte er noch winzig kleine rote Pillen; - aber die waren für die Konzentration, sagte der Erwin und wirkte dabei immer so eigenartig fahrig und abwesend.
Über den Erwin erzähle ich euch später mehr. Denn ihr kennt bisher weder meine Schule noch mich. Bei mir, da habt ihr nicht viel verpasst, aber für unsere Schule solltet ihr euch schon ein bisschen Zeit nehmen, - sie ist es wert!
Vier Jahre lang, von 1970 bis 1974, besuchte die Fritjof –Nansen Realschule für Knaben in München Bogenhausen. Unsere Schule war ein prachtvoller Jugendstilbau mit übergroßen Fenstern. Das Gebäude hatte einen Glockenturm. Da wusste man immer, was es geschlagen hatte.
Heute ist Mittwoch. Wir befinden uns in der Klasse 9b. Unser Zimmer ist im 4. Stock. Auf dem Stundenplan steht Erdkunde.
Wir grinsen.
„Der Doffeck wird zu spät kommen. Bis er vom Pausenhof die Treppen hochgehechtet ist, vergehen bestimmt 5 Minuten“. Wir hatten wieder einmal recht. Der Doffeck Vitus war völlig ausgepumpt und kam ein ganzes Stück zu spät. Wie jeden Mittwoch nach der kleinen Pause. Er konnte es einfach nicht lassen. Er hatte auf dem Pausenhof mit der Erika Kapeindl geflötet. Sie gab für die 7. und 8. Klassen Musikunterricht.
Wir wussten es genau.
„Der Doffeck hat es auf diese alte Jungfer abgesehen. Er hat ein Auge auf sie geworfen!“ Fragt sich nur welches? Das rechte, dass immerzu stier geradeaus schaute, oder das linke, dass gefährlich nach außen schielte?
Aber das nur nebenbei!
Doffeck stürmte ins Zimmer, wischte sich die letzten Brösel seine Laugenbrezel aus dem faserigen roten Bart und setzte sich ans Pult.
Wir wussten was jetzt kam: Er kramte ein Taschentuch aus seinen fleckigen Cordjeans und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Erst jetzt konnte er klar denken! Aber für uns wurde die Luft stickig und ungemütlich. Und das aus zweierlei Gründen. Erstens weil hinter dem Doffeck immer eine ekelhafte Schweißwolke herzog und zweitens weil wir die Stegreifaufgabe in Erdkunde herausbekommen würden.
"Die Stunde der Wahrheit", wie Doffeck meinte.
Die Arbeit war gar nicht so schlecht ausgefallen.
Kein Einser, wie üblich; drei Zweier, zwölf Dreier, vierzehn Vierer, sechs Fünfer und ein Sechser.
Ich war mit meiner Zwei überglücklich und nutzte die Zeit zum Träumen. Ich wurde erst wieder wach, als der Erwin Dittmaier hinter mir aus Verzweiflung zu heulen anfing. Der Doffeck machte ihn gerade fertig: „Der Fritjof Nansen würde sich im Grab umdrehen, wenn er gelesen hätte, was du da zusammen gesponnen hast!
Dittmaier, schreib auf was ich dir diktiere:
Fritjof Nansen geboren 1861, gestorben 1930; er war Polarforscher und kein Entdecker Afrikas, du beschränkter Zulu, du! Nansen kam auf die Idee, sein Schiff im Packeis einschließen zu lassen, um so - wie er hoffte - den Nordpol zu erreichen. Er machte allerdings die Entdeckung, dass das Packeins nach Süden trieb. Fritjof Nansen hatte auf seiner Suche nach dem Pol immerhin den 86. Breitengrad erreicht!
Der Doffeck klappte den Schulatlas auf, der vor dem Erwin auf dem Tisch lag und klopfte mit seinem Zeigefinger immerzu auf den sechsundachtzigsten Breitengrad herum.
Der Erwin, der Depp konnte sich das nie merken.
„Sechsundachzigster Breitengrad, Dittmaier! Muss ich für dich alles drei Mal erklären? Und tu mir einen Gefallen: Mümmle nicht mit deinen Kiefern, wie ein Großvater wenn ich mit dir rede!“
Wenn der Doffeck wüsste! Erwin hatte sich gleich nach diesem Anpfiff eine Handvoll gelber Tabletten in den Mund geschoben und panisch darauf herumgelutscht.
Es ist der 86. Breitengrad, Erwin – konzentriere dich!
Nach der Erdkundestunde hatten wir Religion. Erwin musste umziehen. Er war evangelisch. Das war seinerzeit sowieso äußerst verdächtig! Da der Prälat Kiefinger, der uns für das heilige Sakrament der Firmung vorbereiten sollte, verhindert war, kamen wir in den Genuss einer Freistunde. Stilles Ausarbeiten der Hausaufgaben!
Wir hatten eine bessere Idee:
Wir wollten dem Erwin helfen.
„Der hat sowieso nicht alle Tassen im Schrank, meinte der Alfred; - ein Brett hat er vor dem Hirn, so lang wie der 86. Breitengrad!“
Alle wieherten! Ich auch.
Und damit der Depp nicht vergisst, wo der 86. Breitengrad ist, nageln wir ihm seinen Atlas auf den Tisch. Den Dachpappenstift, den wir vom Pedell geholt hatten, fixierten wir mit der Spitze nach unten, genau nördlich von Spitzbergen.
Ihr könnt mir glauben, dass es eine verdammt harte Angelegenheit war, den Nagel mit dem Rahmen des Schirmständers so ins Holz hineinzuschlagen, dass wir ihn auf der Unterseite der Platte umbiegen konnten. Der Atlas wurde zuge-klappt. Nichts Verdächtiges war zu sehen.
In der letzten Stunde hatten wir Englisch.
Der Erwin saß wieder auf seinem Platz.
„Alles vom Tisch“, kreischte Frau Gebel mit ihrer unnachahmlichen Kreissägenstimme. „Wir schreiben eine Vokabel – Ex“.
Na prima. Keiner hatte was gelernt, - außer Erwin vielleicht. Der war gut in Englisch. Er sollte ja ins Gymnasium übertreten.
„Dittmaier! Hörst du nicht? Alles vom Tisch habe ich gesagt! Den Schulatlas brauchst du nicht für Englisch!“ Ehrlich, die Frau Gebel war manchmal wirklich unangenehm.
Der Erwin gehorchte. Das heißt eigentlich, er wollte gehorchen. Aber der Atlas bewegte sich nicht vom Fleck. Er zog und zerrte wie ein Berserker, und machte ein absolut doofes Gesicht dabei.
Wir wieherten wieder.
Dann riss er mit aller Gewalt am Atlas, kippte mit dem Stuhl nach hinten und stürzte seine Schulbank um.
Jetzt hatte er die Bescherung und wir hatten Glück. Mrs. Gebel zeterte mindestens eine Viertelstunde über diese Unverfrorenheit. Sie zeterte nicht auf Englisch, sie zeterte auf Deutsch.
Der Erwin, der Sauhund, er hatte uns vor der Extemporale gerettet. Heute tut mir der Erwin leid. Wie konnten wir so gemein zu ihm sein?
Nach den Osterferien wurde es für viele von uns eng. Besonders für mich. Der Übertritt in die 10. Klasse war gefährdet; Mathe, Englisch, Physik und Chemie. Alles mangelhaft, wenn nicht ungenügend. Anderen ging es ähnlich. Die meisten würden sich so durchwursteln. Ein paar wenige machten Anstalten, wirklich fleißig zu sein. Sie wollten wirklich etwas leisten. Oder taten sie ihren ambitionierten Eltern nur einen Gefallen.
Fragen wir den Erwin:
Er stand auf der Toilette, genau zwischen Alfred und mir. Irgendwie bewunderte ich ihn. Er erledigte sein Geschäft mit einer totalen geistigen Hingabe; - er war absolut konzentriert. Erwin würde sich nie beim Pinkeln die Finger nass machen; - nie und nimmer. Alfred wollte das ändern!
„Erwin, schau auf die Uhr, die Pause ist schon vorbei. Meinst du nicht, dass dich der Doffeck heute mündlich ausfragen will. Du musst doch deinen Fünfer ausbügeln!“
Auf so etwas war der Dittmaier offensichtlich konditioniert: Noten ausbügeln! Leistung bringen!
Der Erwin zögerte keinen Moment, riss den Reißverschluss seines Hosenstalls mit einem Ruck nach oben und rannte zur Tür und stürmte ins Klassenzimmer. So stand er dann vor dem Doffeck. Hilflos baumelte sein eingezwickter Specht zwischen seinen Hemdzipfeln herum.
Er musste zum Sanitäter gebracht werden. Die Haut war eingeklemmt. Das war bestimmt unangenehm. Aber besonders blöd war, dass er seine schlechte Erdkundenote nicht verbessern konnte.
Der Erwin würde sich das nicht gefallen lassen. Das machte er uns am nächsten Tag klar. Seine Eltern wollten wissen, wie ihm das Ungeschick passieren konnte. Erwin war drauf und dran den Alfred und mich zu verpetzen.
Für solche verräterischen Absichten gab es nur eine Strafe: Der Erwin wird auf den Thron gesetzt!
Und zwar nach der letzten Stunde, damit sich die Folter auch rentiert!
Nach dem Schlussgong verwickelte ich den Erwin in ein Ge-spräch, das ihn überaus interessierte:
Mathehausaufgaben! Er war wirklich lieb. Er erklärte mir alles haarklein. Er erkannte meine gemeine Absicht nicht.
Als er so richtig am vorrechnen war, schubste ich ihn, Erwin strauchelte nach hinten und fiel in den Papierkorb, den der Alfred unter seinen Hintern schob.
Erwins dürre Beine baumelten heraus.
Kennt ihr diese übergroßen Papierkörbe aus Peddigrohr? Da hat passt allerhand hinein: Apfelbutzen, Butterbrotpapiere, Spickzettel, Milchtüten (Cola – Dosen gab es zu meiner Zeit noch nicht); - und der Hintern vom Erwin hatte auch noch platz.
So leicht kam man da nicht heraus!
Auch der Erwin nicht.
Mochte er noch so fuchteln.
Trotzdem musste es schnell gehen:
Eine Schulbank wurde auf das Lehrerpult gehoben und ein Stuhl auf die Bank gestellt. Und dann zu guter letzt folgte der Papierkorb mit dem Deliquenten. Der Verräter saß nun gut 2 Meter über dem Erdboden auf seinem wackeligen Thron.
Wie blass er auf einmal war, wie ein Leichengräber.
Wie ruhig er war. Ganz regungslos und starr vor Angst.
Er hörte mich bestimmt noch rufen:
„Erwin, eine Bewegung und du bist tot!“
Dann löschten wir das Licht und gingen nach Hause.
Am nächsten Montag war der Erwin nicht mehr an unserer Schule.
Er kam ins Internat.
Sein Fünfer in Erdkunde hatte ihm das Kreuz gebrochen.
Heute denke ich oft an den Erwin Dittmaier.
Wir waren echt gemein zu ihm.
Darum lieber Erwin, wenn du das liest, sollst du wissen, dass mir alles das, was wir dir angetan haben, sehr leid tut. Kannst du mir verzeihen?
05. April 2005