Wie aus dem Nichts tauchten sie plötzlich auf und sind nun überall. Eine besonders Stattliche stand zwischen Autos und reckte ihren Hals zum staubigen Grün der Bäume empor. Es hatte sich eine Menschengruppe um sie gebildet, die aufgeregt miteinander diskutierte, ein Mann rief mit seinem Handy die Polizei und ein Anderer den Zoo. Man wisse, antworteten diese, bereits 27 Tiere wurden seit gestern im Stadtgebiet gemeldet und es werde alles in die Wege geleitet, man solle sich nicht beunruhigen.
Aber ihre Zahl stieg beständig. Sie beanspruchten mehr und mehr Platz auf den Straßen, in den Schlagzeilen und Nachrichten. Der regierende Bürgermeister beriet mit den zuständigen Gremien, doch es konnte nicht geklärt werden, woher sie kamen. Sie bildeten eine Untersuchungskommission, die täglich zwei Zählungen durchführen ließ und jedes Mal feststellte, dass sich ihre Anzahl erhöhte.
Um die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten, mussten Tiere eingefangen und in sicher umzäunte Gehege außerhalb der Stadt gebracht werden. Sie sollten dort verbleiben, streng nach Geschlechtern getrennt, bis eine Lösung gefunden würde. Bauern sollten sie so lange füttern.
Derweil wurden Verhandlungen mit ausländischen und einheimischen Zoos geführt und man versprach sich mögliche Einnahmen durch den Verkauf der Tiere, was die Tierschutzvereine beunruhigte und Sammelaktionen zu ihren Gunsten starten ließ.
Inzwischen saßen sie in Kneipen, fuhren mit Straßenbahnen und bummelten durch Fußgängerzonen, während sie zur Oper noch keinen Zutritt hatten. Der Transport der Giraffen ins Umland war sehr umständlich und ihre Zahl verringerte sich ohnehin nicht, im Gegenteil, es wurden mehr und mehr. Bedauerlich war dabei, dass ihr Verhalten nicht immer der gesellschaftlichen Norm entsprach. „Schon die sechste Giraffe in der Ausnüchterungszelle!“ oder „Giraffe bei der Verrichtung ihrer Notdurft auf einer Grabanlage verhaftet!“ und ähnliche Schlagzeilen prangten auf den Titelseiten der Tageszeitungen.
Doch man sollte nicht die positiven Auswirkungen übersehen. Es kam zu einem ungeahnten Aufschwung in der Modebranche und der Kuscheltierproduktion. Alle Kleinkinder wurden mit Plüschgiraffen versorgt, während sich Modeschöpfer auf Giraffenlook umstellten und es nun Hosen, T-Shirts und Lederjacken gelb gefleckt im Angebot gab. Die Leute rissen sich darum und erste Schuhe mit Hufen wurden kreiert. Auch Musiker wetteiferten um einen neuen Sound und Hundezüchter steckten ihre Ziele neu.
Auf den Straßen demonstrierten inzwischen die Tierschützer Arm in Arm mit ihren Schützlingen und wiesen auf das Grundrecht einer artgerechten Haltung hin. Politiker kamen noch zu keiner Entscheidung. Rot stritt mit Gelb, Blau wollte es besser wissen und Braun hielt sich nicht für kompetent. Die Gehege außerhalb der Stadt waren überfüllt, alle Bäume entlaubt und die Gemüsehändler ausgeplündert, selbst Blumen fraßen sie. Die ersten Bürger verließen die Stadt.
Dem Zustand müsse ein Ende bereitet werden, mehrten sich Stimmen, man könne sie doch für die Ernährung der Bevölkerung nützen, Fleisch und Fell statt Sozialhilfe verteilen, Asylantragsteller zum Giraffenfang verpflichten, diese kennten sich damit aus. Doch es gab keine offiziellen Handlungsanweisungen, nach denen man sich hätte richten können und eine gesetzliche Grundlage dafür war einfach nicht vorhanden. Die Bevölkerung wurde aufgerufen, Ruhe zu bewahren. Einstweilen wurden Beamte eingesetzt, die die Tiere kennzeichneten, namentlich erfassten und nach ihren persönlichen Wünschen und Absichten befragten. Indessen tauchten die ersten gelb-braun gefleckten Fleischstücke unter dem Ladentisch auf. Die Kunden griffen gern zu, weil sie billiges Fleisch ohne Rinderwahnsinn, Schweinepest oder Vogelgrippe selten bekommen.
Diesmal legte der Bauernverband Protest ein, da er seine Absatzmärkte gefährdet sah, die Existenzgrundlage seiner Mitglieder bedroht und der Senat berief wieder eine Sondersitzung ein. Die Regierung raufte sich die Haare, änderte Meinungen, Parteien spalteten sich, gründeten sich neu und die Opposition war nicht nur völlig unfähig, sie hatte die Katastrophe herbeigeführt, das war klar.
Schließlich legten die Bauern ihre Arbeit nieder und man schickte eine Gruppe ausgesuchter Giraffen an den Streikherd, die von den Streikenden als Geiseln festgehalten wurden. Damit waren die Verantwortlichen zufrieden. Ein Ehrgeizling schlug vor, in Zukunft jeden Streik durch die Entsendung von Giraffen im Keim zu ersticken, so könne man sie nach und nach über die ganze Republik verteilen.
Immer mehr Menschen verließen die Stadt. Schon kampierten die ersten in Autos und Zelten auf den stillliegenden Äckern der Bauern. Die Giraffen ihrerseits richteten sich häuslich in den leerstehenden Wohnungen ein, schauten, auf bunte Kissen gelehnt aus den Fenstern und lümmelten vor Fernsehern auf Couchgarnituren.
Man versuchte, sie zu Schulungen zu bewegen, von Eingliederung war die Rede und die Tiere forderten einen wirksameren Giraffenschutz, das konnten sie verlangen. Die Polizei beschlagnahmte, um ihr Gesicht zu wahren, ab und zu einen illegalen Fleischtransport.
Die einheimische Bevölkerung war indessen stark zurückgegangen. Die restlichen Arbeitslosen wurden zu Ordnungshütern gemacht und als Sicherheitskräfte eingestellt. Die Situation habe sich beruhigt, die Verantwortlichen hätten alles im Griff, ließ sich der regierende Bürgermeister vernehmen. Die illegalen Schlächter und Händler verhielten sich unauffällig und brachten Geld in die Stadt, das müsse man schließlich auch sehen.
Die Stadt hatte die beste Bilanz seit Jahrzehnten und konnte auf einen ausgeglichenen Haushalt verweisen. Arbeitslose und Sozialhilfsempfänger gab es nicht mehr, das war beispielgebend für das ganze restliche Land. Allerdings hatte das Volk die Stadt verlassen. Um wenigstens die Regierenden zum Bleiben zu bewegen erhöhten sie sich ihre Diäten und zahlten sich gegenseitig Bleibezuschüsse und Erschwerniszulagen.
Also hatte sich die Situation zum Positiven entwickelt. Die anfängliche Notlage barg vielfältige Chancen in sich, wie jetzt deutlich wurde. Allein durch ziellose Untätigkeit der Verantwortlichen habe sie sich günstig entwickeln können. Den Rest könne man mit finanziellen Anreizen regeln, denn schließlich handele es sich um die Hauptstadt! Man stelle sich vor, eine Hauptstadt, in der es mehr Giraffen als Menschen gibt, kann sie denn noch ihren Regierungsaufgaben nachkommen und international bestehen? Wie würde es aufgenommen, wenn der amerikanische Präsident bei einem Staatsbesuch von einer Giraffe begrüßt würde? Würde er sich dann zu den Worten hinreißen lassen: „Ich bin eine Giraffe?“ Man weiß es nicht.
Inzwischen hatten die Flüchtigen begonnen, auf den brachliegenden Feldern Möhren, Kartoffeln und Salat zu pflanzen. Überall entstanden kleine Hütten, Brotbacköfen und es gab die ersten frei herum laufenden Hühner. Die Kinder spielten wieder Hopse und Vater-Mutter-Kind, während die Alten Lieder ihrer Jugendzeit aus dem Gedächtnis kramten und abends am offenen Feuer sangen. Und Großmütter erzählten Märchen und wurden wieder wichtig.
Mit dieser Situation sind alle zufrieden. Alle überflüssigen und störenden Menschen hatten sich von selber entfernt. Die Verbliebenen gehören der Regierung an, die Illegalen hatte man unter Kontrolle und Tiere waren nicht stimmberechtigt. Der Vorschlag, die Giraffe ins Staatswappen aufzunehmen findet großen Anklang. Erste Stimmen aus dem Ausland werden bekannt, die einen gewissen Neid erkennen lassen. Ja, die Stadt erhält Anfragen, ob sie bereit wäre, auf einen Teil der Tiere zu verzichten und sie zu exportieren, schließlich hätte sie ja genug. Nach ersten Verlautbarungen weist der regierende Bürgermeister dieses Ansinnen mit Empörung zurück – zum Glück! Sollen die sich doch nach Hasen oder Antilopen umsehen, wir behalten unsere Giraffen!