Sonntag

Kurzgeschichte zum Thema Einsamkeit

von  Ganna

Sonntag


    Nun sitzt sie wieder am Fenster, am Sonntagmorgen, dem stillen. Ruhe nach Familien- und Festspektakel. Alle schlafen, sie wacht. Vor ihrem Kaffee am runden Tisch vor dem Fenster horcht sie hinaus. Tauben gurren. Ruhe füllt die Hauszwischenräume wie mit dicken Kissen. Unsichtbare Ruhekissen zwischen die Häuser gestopft. Tauben gurren. Sie schlürft am Kaffee und lauscht.
  Von Ferne läuten Glocken unordentlich durcheinander. Töne schwimmen durch die Sonntagmorgenstille und fallen in Hinterhöfe. Weiche Töne fallen weich, stören nicht den Schlummer, stören nicht das Gurren. Sie rufen Menschen zum Dienst am Gott, leise, leise. Menschen schlafen. Menschen betreten zum Beten nicht den Dom. Glocken läuten einsam bis sie stumm bleiben.
  Sie schaut hinaus auf die graue Wand. Gelb-Ocker schimmert durch. Auch Wände altern grau, erhalten Faltenrisse. Die unterste Wohnung ist feucht.
  Dort wohnen Türken, viele Türken. Sie blickt oft in ihre Fenster und zählt sie nicht. Eine Familie mit Kindern, Männern und Frauen mit Tüchern. Die Männer sitzen im Zimmer auf Sofas und reden. Frauen in der Küche. Kniend betet die Alte auf dem Teppich. Kinder rennen vorbei, sitzen am Fenster, auf Frauenschößen und Männerknien. Sie bleiben unter sich, die Türken, leben wie in Istanbul, wie in den Bergen Anatoliens. Sie trauen unseren Lebensregeln nicht.
  Über ihnen wohnt eine allein im Leben stehende Frau mit ihrer Katze. Blumentöpfe stehen vor Fensterscheiben, Plastikrollos sind bei einbrechender Dämmerung nach unten gezogen.
  Sie schlürft wieder am Kaffee und ärgert sich ein bisschen, dass sie nie in ihre Fenster schauen kann. Es wäre so interessant.
Es ist die Wohnung, in der am meisten Krimskrams steht. Halbgardinchen, Korbsessellehnen, selten sichtbare Möbelbeine deuten es an. Einmal gelang es ihr, die Frau zu sehen. Dicklich mit Schürze und Brille goss sie Wasser aus der Schnörkelgießkanne in Blumentopfübertöpfe, derweil die Katze zwischen Grünpflanzenblättern schnurrte. Wahrscheinlich häkelt die Frau Deckchen, während die Familienserie läuft, isst Kuchen mit Schlagsahne und besitzt Kaffeewärmer.
  Es beginnt zu regnen. Tropfen fallen auf blecherne Fensterbretter. Das Loch in der Regenrinne lässt einen Wasserfall auf den Beton platschen. Häuserwände werden nasser, dunkler, Papierfetzen weichen auf und Hundedreck. Regentropfen verschleiern die Welt, verwischen Konturen und Kontraste, lassen Widersprüche verschwinden. Regentropfen sind Gleichmacher. Sie beruhigen und bringen einen Zeitaufschub. Scharfe Dachkanten verschwimmen mit Wolkengrau und Mauergrau. Es rauscht.
  Graue Trauer rauscht um die Häuser. Kein Sonnenstrahl kitzelt Nasen. Sie schlafen und rekeln sich. Einer hustet. Es pladdert auf blecherne Fensterbretter.
  Sie steht auf, nimmt ihre leere Kaffeetasse und schlurft hinüber in die Küche. Den Kaffeesatz kippt sie in den Ausguss und spült die Tasse sauber, den Löffel auch und blickt sich um. Für die Kartoffeln ist es noch zu früh. Mit der Schokolade trottet sie zurück in die gute Stube, setzt sich wieder an den runden Tisch.
  Über der Blumenfrau wohnt ein junges Mädel. Es ist selten daheim. Ihre Wohnung ist wie unbewohnt. An die Fenster gehängte weiße Laken sind nie zugezogen und nackte Glühlampen genügen ihr. Das Mädel hat weder Grünpflanzen noch Bilder oder Möbel, das kann sie gut sehen. Wahrscheinlich schläft sie auf dem Fußboden, vielleicht auf einer Luftmatratze. Heute ist alles anders.
  Einmal führte sie unter der hellen Glühlampe rhythmische Bewegungen aus, warf Arme durch die Luft und pendelte mit ihrem Oberkörper hin und her. Beim Drehen einer Pirouette flogen ihre Haare durch den Raum. Auch hinter einem Laken schnellten Arme hervor. Erst nach längerer Beobachtung war zu sehen, dass sie einem zweiten Mädel gehörten. Sie hatte also Besuch. Tonlose Verrenkungen im kalt erhellten Raum, wie unwirklich. "Verrückt" will sie nicht denken, denn was ist nicht verrückt heutzutage? Die Grenzen zur Verrücktheit sind durchlässig und sie hat große Angst, dass dieses Wort auf sie selber passen könnte. Darum spricht sie jeden anderen davon frei, streicht es aus ihrem Wortschatz. Sie bricht ein Stück cremiger Schokolade ab und schiebt es sich in den Mund.
  Einmal passierte es, dass sie gleichzeitig mit dem Mädel ein Fenster öffnete. Über den Hof hinweg sahen sich beide bei gleicher Tätigkeit in die Augen und tauschten erschrocken einen Blick. Sofort wendete sich das Mädel ab und verließ den von ihr einsichtbaren Bereich, so als hätte sie sie aufdringlich beobachten wollen. Nein, es ist nicht mehr wie früher. Nie ist es mehr wie früher.
  Über dem Mädel wohnt wieder eine türkische Familie, diesmal eine kleinere, jüngere, mit zwei Kindern und einer Oma. Dort wirft der Fernseher abends bläuliches Licht gegen die Gardinen. Auch bei Kälte und Regen ist mindestens ein Fenster geöffnet. Die Kinder schlafen im kleinen Zimmer genau vor dem Fenster, wo nachts das Licht brennt. Es überscheint den Mondschein, so wie Werbung Gedanken übertönt.
  Schnee mischt sich unter die Regentropfen. Wenn es doch nur schneien würde! Die Kinder könnten Schlitten fahren und Schneebälle gegen Scheiben werfen. Schneematschflocken fallen langsamer als Wassertropfen. Sie lösen sich auf, wenn sie den Beton berühren, als sei es nutzlos liegen zu bleiben. Als lohne es sich nicht, eine Schönheit zu zeigen, welche der Vergangenheit angehört. Als wäre Schönheit vergebens gewesen.
  Dabei ist es nur zu warm. Früher waren Winter kalt. Früher lag der weiße Schnee zu hohen Haufen aufgetürmt am Straßenrand und Kinder kletterten darauf. Langsam wurden die Haufen dreckig grau und sackten in sich zusammen, bis neuer weißer Schnee eine Pulverschicht über allen Schmutz zog, früher.
  In der fünften Etage wohnt wieder ein Single. Auch er lebt zwischen kahlen Wänden unter nackten Glühlampen. Aber er zieht nachts einen bunten Vorhang vor sein Schlafzimmerfenster. Selten verlässt er die Wohnung und sieht spät am Abend fern. Sie weiß nicht, an was er denkt, wenn er ruhelos in seinen Zimmern auf und ab geht. Manchmal tritt er mit einem Handy am Ohr an die Scheibe, schaut hinaus, schaut hinunter, sieht nichts und spricht in sein Handy hinein. Allein. Dabei sieht er sympathisch aus, denkt sie, so ganz durchschnittlich.
  Sie schiebt noch ein Stück Schokolade in ihren Mund und schaut hinauf, wo Wolken und Dach grau in grau ineinander übergehen. So ist es, denkt sie, wie in einem Cheeseburger wohnen sie geschichtet übereinander. Mal Türken, mal Deutsche, mal Single, mal Familie. Wie bei einem Cheeseburger vermischen sich die Schichten nicht. Säuberlich getrennt bleibt jeder für sich. Als hätten sie Angst voreinander, als wären sie nicht von gleicher Materie, als wären sie unvermischbar. Jeder hofft für sich allein. Jeder weint für sich allein.
  Wie bei einem Cheeseburger werden sie gemeinsam verschlungen. Sie wissen es und haben sich gefügt, halten es für unabänderlich. Sie denken nicht über Widerstand nach.
  Es regnet immer noch. Sie sitzt immer noch und schaut hinaus. Oben unter dem Dach in einer Luke schnäbeln zwei Tauben miteinander. Eine ist weiß, eine grau. In der Wohnung unter ihr beginnt ein Kind zu weinen. Der Fernseher wird eingeschaltet. Sie wird jetzt die Kartoffeln aufsetzen, denkt sie und steht auf.

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Kommentare zu diesem Text


 Vaga (19.04.07)
Ich dachte zunächst: Oh - so ein langer Text. Na, fängst mal an zu lesen. Und dann - meine Güte, wie fesselnd du ein alltägliches Situationsmilieu beschreibst aus der Sicht dieser Frau. Das gefällt mir supergut. Bis zum Ende ist jeder Satz lesenswert und - wie ich meine: Literatur vom Feinsten! LG - Vaga.

 Maya_Gähler (09.09.07)
Dieser Text hat etwas Fesselndes. Beginnt man zu lesen, kann man nicht mehr aufhören.
Die Protagonistin beschreibt etwas was viele kennen. Es wird aber deswegen nicht langweilig. Sie zieht gute Vergleiche und würzt den Text mit kleinen Passagen, welche nachdenklich stimmen.
LG Maya

 Ganna meinte dazu am 17.09.07:
Danke!

 Dieter_Rotmund (30.07.20)
Etwas arg dröger, weil sich ständig wiederholender Satzbau.
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