Paul schaute noch in den Ställen nach dem Rechten, während seine Frau Anna das Abendessen zubereitete. Er fütterte die Schafe und Ziegen, gab der Kuh Heu, wünschte seinem Pferd eine gute Nacht und erneuerte das Wasser im Hühnerstall. Sorgsam schloss er alle Türen und Luken, damit kein Marder oder Fuchs eindringen und Unheil stiften konnte. Dann streichelte er seinen Hund, der draußen wachte und legte ihm den versprochenen Knochen hin, die Katze lief ihm nach ins Haus.
Ein friedliches und zurückgezogenes Leben führen Paul und seine Frau seit sie vor über vierzig Jahren den kleinen Hof erbten. Sie ernähren sich einfach, erfreuen sich am Wechsel der Jahreszeiten, am Wachsen der Pflanzen und ihren Ernten, sowie am Miteinander mit den Tieren. Gerne verbringen sie den Abend auf der alten Bank vor dem Haus, betrachten die sinkende Sonne im Abendrot und spüren die Zufriedenheit ihrer Tage.
Anna stellte gerade einen duftenden Holunderblütentee auf den Tisch, als ihr Mann mit der Katze die Küche betrat. Sie bekam ihr Futter, bevor sich die beiden alten Leutchen an den gedeckten Tisch setzten. Es gab Gemüsesuppe zu knusprigen Fladen, die die Frau zu jeder Mahlzeit frisch zubereitete.
„Sie sagen, die Erde soll wieder beben heute Nacht“, sagte Anna, „so wie neulich schon, nur noch schlimmer.“
„Hm.“
„Sie sagen, man soll die Ställe offen lassen und nicht im Haus schlafen, sondern draußen.“
Paul schüttelte den Kopf und schwieg.
„Sie sagen auch, dass Häuser einfallen können und dass wir in Schutzräume gehen sollen.“
Anna verstummte. Sie wusste, dass ihr Mann jetzt über eine Entscheidung nachdachte und sie ihn nicht stören sollte. Er schlürfte seine Suppe aus, dann räumten sie schweigend den Tisch ab. Während Anna die Teller spülte, drehte sich ihr Mann eine Zigarette. Nach einigen Zügen sagte er: „Wir räumen die Betten aus dem Haus, auch das Werkzeug, die Gartengeräte und schlafen auf dem Hof. Stell du ein paar Töpfe und das Küchengerät raus und verpacke das Mehl in eine wasserdichte Tüte. Man weiß nie, vielleicht haben sie diesmal Recht. Ich habe so ein komisches Gefühl.“
Sie begannen zusammenzupacken und räumten die Betten und das Werkzeug in den Hof. Leise begann es zu regnen. Paul holte die Plane aus dem Schuppen und breitete sie über das Bett. Dann öffnete er nach und nach alle Ställe und nahm auch den Hund von der Leine, der freudig zu ihm aufsprang. Die Katze war verschwunden.
Es regnete stärker, als die Frau das Mehl unter der Plane verstaute. Noch einmal gingen beide ins Haus, zogen sich warme Sachen an, packten noch etwas Wechselwäsche ein und nahmen ein zweites Paar Schuhe mit, auch die Uhr, die Taschenlampen und die Zahnbürsten. Dann zogen sie sich unter die Plane in die Betten zurück. Doch schlafen konnten sie nicht.
Der Bauer dachte an die Tiere, die die Ställe verlassen hatten und unruhig auf dem Hof hin- und her liefen. Seine Frau begann zu beten, was sie noch nie getan hatte, doch ihr fiel nicht ein, was sie sonst hätte tun können.
Es regnete inzwischen, wie es noch nie geregnet hatte. Wasser sammelte sich zu Rinnsalen, die sich schnell zu Bächen verbreiteten und den Hügel an vielen Stellen hinunterschossen bis zum Fluss unten im Tal, der sich füllte, über die Ufer stieg und schließlich als brauner reißender Strom alles im Weg Stehende mit sich nahm. Wassergewalt überschwemmte Wiesen und Gärten, legte Zäune flach, riss Unrat und Schlamm mit sich, löste Steine, totes Holz, transportierte Bäume und Autos, die ihre Besitzer nicht mehr retten konnten. So etwas gab es hier noch nie.
Der Lärm war ohrenbetäubend. Paul kroch noch einmal unter der Plane hervor und öffnete das große Holztor. Sollen die Tiere doch gehen, dachte er, ihre Instinkte werden sie leiten und morgen werde er sie schon wieder finden, wenn es ein Morgen noch gibt, wer weiß.
Das Tosen der Wassermassen drang vom Tal herauf und ließ ihn seine eigene Stimme nicht hören, als er mit ihnen noch einige letzte Worte sprach. Durchnässt schlüpfte er wieder unter die Plane zu seiner Frau, die ihn aus dem Dunkel mit fragenden Augen ansah.
„Ist nicht so schlimm“, sagte er, um sie nicht noch mehr zu beunruhigen. „Morgen scheint wieder die Sonne, wirst sehen. Die in den Nachrichten übertreiben immer und wir haben uns die Mühe umsonst gemacht.“
Doch denken tat er etwas anderes.
Wasser floss unter die Betten durch und staute sich an der Plane, so dass sie sie anheben mussten. Das Bettzeug war nass geworden, voller Lehm und nur die Aufregung ließ sie nicht frieren. Wie aus Eimern goss es, als sie wie von sehr fern eine Kuh muhen hörten und die Erde in feinen Stößen zu zittern begann.
Als zöge sie sich unter Schüttelfrost zusammen, dachte Anna, welch Glück, dass wir draußen sind und begann zu wimmern. Paul nahm sie in den Arm und sagte: „Es ist gleich vorbei, wirst sehen.“ Tatsächlich ließ das Zittern nach und beide schliefen erschöpft ein.
Gegen Morgen, es war so um fünf Uhr, begann der ganze Hügel zu rutschen, bewegte sich ins Tal hinunter und begrub Haus, Hof, Menschen und die verbliebenden Tiere unter sich. Der gesamte Landstrich wurde durch Beben erschüttert, Hochwasser und Erdrutsche verwüsteten Felder und Gärten, Brücken und Straßen wurden fortgespült, Häuser mitgerissen oder unter Erdmassen begraben.
Mit der ersten Helligkeit flogen Hubschrauber die Gegend ab, dokumentierten die Verwüstung und stellten fest, dass ganze Dörfer nicht mehr zu finden waren.
Man rechne mit bis zu 60 000 Toten und noch viel mehr Obdachlosen, verkündete der Nachrichtensprecher. Er rief zu Spenden auf. Spendenkonten und Notrufnummern wurden bekannt gegeben.
Bloß gut, dass das noch so weit weg ist, denke ich...