Es klingelte schon zum dritten Mal. So langsam wurde Frau Bauer ärgerlich. Grundsätzlich öffnete sie nie die Tür zur Mittagszeit, weil sie schon mehrmals von nervigen Vertretern um diese Tageszeit besucht worden war. Wahrscheinlich war dies auch wieder einer. Was erlauben sich diese Leute nur, dachte sie verärgert. Dem wollte sie ein paar Takte erzählen und rannte wutentbrannt zur Tür.
Doch als sie diese öffnete, stand dort keine Person, die einem Vertreter ähnelte, sondern die Polizei.
„Frau Bauer?“, fragte der Polizist. Er mochte etwa 40 Jahre alt sein und war in Begleitung einer jungen Kollegin, etwa 25 Jahre alt.
„Ja?“, antwortete Frau Bauer ganz überrascht und ängstlich.
„Es geht um Ihren Sohn, Achim. Das ist doch Ihr Sohn, oder?“, sprach der Mann.
„Ja, was ist mit ihm, hat er etwas angestellt?“
„Nein, nein…“ Er zögerte einen Moment. „Frau Bauer, Ihr Sohn musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Er wurde in der Schule brutal zusammen geschlagen.“
„Was??? Oh Gott…“, Frau Bauer verdeckte mit ihren Händen ihr Gesicht und begann zu zittern. „Wer…Wer hat das getan?“
„Wir haben die Täter“, schaltete die junge Polizistin sich ein. „Sie befinden sich bereits im Präsidium und werden verhört.“
„Ich muss zu meinem Sohn“, rief die Mutter verzweifelt und wollte ihre Autoschlüssel suchen. Jedoch konnte sie nicht klar denken und wusste nicht, wo sie sie hingelegt hatte.
„Ich glaube, es wäre nicht so gut, wenn Sie jetzt Auto fahren“, äußerte der Mann sich. „Wir fahren Sie ins Krankenhaus. Wenn es Ihnen recht ist, würden wir Ihnen während der Fahrt ein paar Fragen stellen.“
„Ja, ja, okay“, erklärte Frau Bauer sich einverstanden und holte den Haustürschlüssel.
Die junge Polizistin fasste ihr wie eine Tochter an die Schulter und führte sie zum Steifenwagen.
„Hatte Ihr Sohn schon öfter Probleme mit seinen Mitschülern. Gab es schon irgendwelche Vorfälle oder hat er etwas erzählt?“, fragte der Polizist, während er fuhr.
„Er wurde schon immer von klein auf gehänselt. Aber seit er hier an dieser Schule ist, ist es noch schlimmer geworden. Wir wohnen noch nicht lange hier, wissen Sie? Wir sind vor einem halben Jahr hier hingezogen und seitdem ist er auf dieser Schule.“
„Und was gab es bisher für Vorfälle?“
„Er sagte oft, dass ihm Sachen geklaut wurden. Manchmal kam er auch ganz verdreckt nach Hause, weil er mit Dreck beworfen wurde. Ich hätte ihn so gern von der Schule genommen. Aber mein Mann, wissen Sie, der wollte das nicht. Er hat immer gesagt, man darf nicht weg laufen, man müsse sich seinen Problemen stellen.“
„Wo ist ihr Mann jetzt?“
„Er ist beruflich unterwegs. Er hat Termine außerhalb seines Büros. Ich muss ihn gleich vom Krankenhaus aus anrufen.“
„Und wie hat Ihr Sohn reagiert?“
„Er kam oft weinend nach Hause. Aber er hat sich immer an die Ratschläge meines Mannes gehalten und versucht diese Menschen zu ignorieren. Weil er tatsächlich geglaubt hat, es würde den anderen Jugendlichen irgendwann langweilig. Aber ich hätte nie gedacht, dass es nur noch schlimmer wird und so weit kommt.“
„Glauben Sie mir, es ist falsch zu glauben, dass man solche Probleme mit Ignoranz lösen kann“, sagte die Polizistin. „Ich weiß, was bei den Jugendlichen üblich ist. Wenn sie einem das Leben schwer machen wollen, geben sie nicht auf, wenn man versucht, sie zu ignorieren. Ganz im Gegenteil, sie stellen immer mehr an. Manchmal hilft nur weg zu laufen. Ihr Mann hätte auf die hören sollen.“
„Ist der Feind in der Überzahl, verliert man“, fügte der Mann hinzu.
„Ihr Sohn hat schwere innere Verletzungen“, erklärte ihr der Arzt.
„Ich muss zu ihm“, bat Frau Bauer, die in Tränen ausgebrochen war.
„Es tut mir wirklich leid, aber das geht jetzt nicht. Er braucht Ruhe. Und wir tun für ihn alles, was wir können.
„Bitte lassen Sie mich zu ihm“, wiederholte sie.
Der Arzt seufzte einen kurzen Moment, sah nach oben, und gab sich schließlich geschlagen.
„Na gut, ich werde eine Ausnahme machen.“
„Vielen Dank. Könnten Sie mir vielleicht noch einen Gefallen tun und meinen Mann verständigen?“
„Ja, natürlich.“ Frau Bauer gab ihm die Telefonnummer.
Eine Krankenschwester gab ihr einen Kittel und führte sie auf die Intensivstation.
Sie erschrak, als sie ihren Sohn sah, so übel war er zugerichtet. Seine Nase und seine Augen waren angeschwollen. Um seine Stirn trug er einen Verband. Er war an diversen Maschinen angeschlossen. Sie begann noch mehr zu weinen, aber versuchte sich wieder zu fangen.
„Achim“, sprach sie. Doch er konnte sie nicht hören. „Wer hat dir das nur angetan?“
20 Minuten später betrat Herr Bauer aufgeregt das Zimmer.
„Wer war das nur?“, fragte er.
Piep…Piep…Piep…Pieeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeep. Auf der Anzeige der Maschine war nur noch eine Linie zu sehen. Ärzte stürmten in das Zimmer.
„Es tut mir leid, bitte verlassen Sie den Raum“, sprach der Arzt auf sie ein.
Von draußen konnten die Eltern sehen, wie die Ärzte vergeblich versuchten, ihren Sohn zurückzuholen.
„DU MISTKERL, es ist alles deine Schuld“, schrie Frau Bauer plötzlich auf ihren Mann ein und begann wild auf ihn einzuschlagen.
„DU HAST IHN UMGEBRACHT!“