Kapitän Krüppel
Kurzgeschichte zum Thema Familie
von Waschenin
Ich biege um die Ecke und stehe vor seinem Grundstück. Das Haus ist alt. Die Blumen und die anderen Pflanzen zwischen Tor und Haustür wuchern wild durcheinander.
Ich betrete das Haus. Die Tür ist auf, wie immer. Innen drin ist die Luft alt und stickig, weil sie sich nicht bewegt. Viele Holzgegenstände. Ich steige die Treppe hoch. Die Treppenstufen quietschen und ächzen. Das Zimmer links. Tür ist halboffen. Der Alte Mann sitzt in seinem Rollstuhl und liest Zeitung. Er blickt zu mir auf, mustert mich und legt die Zeitung zur Seite.
-Was? Fragt er mich.
Ich blicke mich um.
-Hast du mich gemeint? Frage ich zurück. Was meinst du mit „Was?"
-Was willst du hier?
-Dich besuchen. Mutter hat mich geschickt. Ich sollte nachsehen was du so treibst.
-Deine Mutter ist eine Schlampe. Was will die denn von mir? Die Hure.
-Ey, Alter Mann. Du sprichst hier mit mir. Also, entweder vernünftig, oder ich verschwinde sofort.
Er lacht auf und nimmt einen Schluck von einem Getränk, das ich nicht kenne.
-Deine Mutter ist behindert. Sagt er, zieht die Augenbrauen hoch. Aber das weißt du. Das brauche ich dir nicht zu sagen.
-Der einzige, der hier behindert ist, das bist du. Sage ich und zeige mit dem Finger auf seine Stummel, die vor Jahren Beine gewesen waren.
Er schaut mich streng an und sagt in normaler Lautstärke:
-Mach dich ruhig lustig über mich. Das stört mich nicht. Aber du schon. Und du bist immer noch hier. Deswegen will ich, dass du mir etwas erzählst. Etwas neues. Etwas, was ich noch nicht kenne. Schieß los!
-Was soll ich dir schon erzählen? Gibt nichts neues. Ich arbeite immer noch nebenbei. Mutter quält sich immer noch auf ihrer Arbeit ab. Tatsache.
-Du Trottel, schreit er auf. Nicht nur, dass du mich langweilst, erzählst du mir auch noch von euren dämlichen Problemen, du Idiot. Meinst du das interessiert mich? Dass ihr wie die Blöden schuftet, ist schon schlimm genug, aber dass du das auch noch rumerzählst und mich da hineinziehst...
Ich unterbreche ihn: Niemand zieht dich irgendwo hinein. Wenn du willst, dann schweige ich, gut?
-Gut, sagt er und zieht die Mundwinkel hoch. Er lächelt.
Ich blicke nach rechts. Zur Wand, wo die Uhr hängt. Bald gehe ich, denke ich dabei. Dann trete ich zum Fenster.
Er führt wieder das Glas zum Mund und trinkt.
-Dein Papa war ein netter Kerl, eigentlich. Sagt er und schaut mich dabei an. Aber wie kommts, dass deine Mutter, so eine, sich für so einen entschieden hat? Sie ist Diplom-Bibliothekarin. Er war Metalgießer. Wer zum Teufel hat sie zusammengebracht?
-Keine Ahnung.
-Deine Oma wollte niemals, dass sie eine Russen heiratet. Sie meinte immer, dass jedes Tier oder so bei seiner Gattung bleiben sollte. So ungefähr ging das, was sie sagte.
Diese Geschichte höre ich sehr oft von ihm, ich bin also vorbereitet.
-Kurz bevor wir abgereist sind, saß ich mit ihm zusammen und wir haben ordentlich einen gebechert. W., frage ich, hast du es dir überlegt? Ja, sagt er, ich komme nicht mit. Meine Schwestern lassen mich nicht. Was für eine Begründung! Seine Schwestern lassen ihn nicht, glaubst du das?
Er schlägt mit seinen Händen auf die Stummel. Ich stehe immer noch vor dem Fenster, mit der Seite zu ihm, dann drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. Er lächelt wieder vor sich hin.
-Was gibt es da zu lachen, frage ich.
-Halt den Mund. Sagt er und lacht los.
Und jetzt sind wir hier. Und du bist 25 Jahre alt und saugst an den Titten deiner Mutter, Muttersöhnchen. Hast du mich verstanden? Gibst du mir recht? Dass du ein Muttersöhnchen bist?
Wütend bin ich. Aber wütend sehe ich nicht aus und drehe den Kopf wieder zum Fenster. Er nimmt mit der Rechten eine Fernbedienung und drückt einen Knopf. Der Fernseher geht an. Sein Ton entspricht der normalen gesprächslautstärke.
-Guck dir das an, sagt er und schüttelt den Kopf. Wie kann man so jemanden zum Kanzler haben? Kein Mann ist er! Kein Mann! Putzt sich die Nase bei einem öffentlichen Empfang und schüttelt danach mit derselben Hand dem Staatschef die Hände. Kinder hat er auch keine. Verdammt! Ein Mädchen aus Russland hat er sich gekauft...mit Geld bezahlt...
Er richtet sein Gesicht auf mich und schreit:
-Du stehst ja immer noch hier? Was denn noch?
-Ja, sage ich, aber jetzt gehe ich.
-Gut, ich werde hier noch eine Weile sitzenbleiben. Ha, ha, du Student. Weißt du eigentlich, dass du hier auf meine Kosten lebst? Jawohl. Du frisst, säufst und fickst auf meine Rechnung. Ich bin dafür verantwortlich, dass du erst überhaupt in deiner Position bist. Ich hab auf meinen Job und meine Frau verzichtet, damit ihr hier rüberkommen könnt. Alles für die Familie. Was hältst du davon?
-Nichts, sage ich, die Sache ist die: Mich hat keiner gefragt, ob ich mitkommen will oder nicht. Ihr habt euch dafür entschieden.
Er lacht auf. Es ist etwas Lustiges im Fernsehen zu sehen. Eine Tiersendung.
-Okay, okay, sagt er, schon gut. Setz dich hin und bleib ruhig.
Ich drehe mich, bis ich mit dem Gesicht zur Tür stehe und mache mich dann auf den Weg. Bevor ich die Treppe hinabsteige, bleibe ich kurz stehen.
-Nichts bist du, brüllt er hinter mir her. Nichts hast du bis jetzt erreicht. Du wohnst bei deiner Mutter und lässt dich bekochen und bedienen. Was willst du eigentlich? Mit 25 keine Freundin. Keine Kinder. Keine Ziele. Wer zum Teufel bist du überhaupt?
Ich drehe mich um und gehe in das Zimmer wieder zurück. Ich stehe ihm gegenüber. Ich beuge mich vor und stütze mich mit beiden Händen rechts und links auf seinem Rollstuhl ab. Ich sehe ihn an. Er blinzelt nicht und behält einen ernsten Blick. Mit ganzer Kraft verlagere ich mein Gewicht auf die Rechte. Der Rollstuhl kippt. Der Alte Mann fliegt zur Seite und landet auf dem Boden.
Ich drehe mich wieder um und verlasse das Zimmer, das Haus, die Straße.
Ich betrete das Haus. Die Tür ist auf, wie immer. Innen drin ist die Luft alt und stickig, weil sie sich nicht bewegt. Viele Holzgegenstände. Ich steige die Treppe hoch. Die Treppenstufen quietschen und ächzen. Das Zimmer links. Tür ist halboffen. Der Alte Mann sitzt in seinem Rollstuhl und liest Zeitung. Er blickt zu mir auf, mustert mich und legt die Zeitung zur Seite.
-Was? Fragt er mich.
Ich blicke mich um.
-Hast du mich gemeint? Frage ich zurück. Was meinst du mit „Was?"
-Was willst du hier?
-Dich besuchen. Mutter hat mich geschickt. Ich sollte nachsehen was du so treibst.
-Deine Mutter ist eine Schlampe. Was will die denn von mir? Die Hure.
-Ey, Alter Mann. Du sprichst hier mit mir. Also, entweder vernünftig, oder ich verschwinde sofort.
Er lacht auf und nimmt einen Schluck von einem Getränk, das ich nicht kenne.
-Deine Mutter ist behindert. Sagt er, zieht die Augenbrauen hoch. Aber das weißt du. Das brauche ich dir nicht zu sagen.
-Der einzige, der hier behindert ist, das bist du. Sage ich und zeige mit dem Finger auf seine Stummel, die vor Jahren Beine gewesen waren.
Er schaut mich streng an und sagt in normaler Lautstärke:
-Mach dich ruhig lustig über mich. Das stört mich nicht. Aber du schon. Und du bist immer noch hier. Deswegen will ich, dass du mir etwas erzählst. Etwas neues. Etwas, was ich noch nicht kenne. Schieß los!
-Was soll ich dir schon erzählen? Gibt nichts neues. Ich arbeite immer noch nebenbei. Mutter quält sich immer noch auf ihrer Arbeit ab. Tatsache.
-Du Trottel, schreit er auf. Nicht nur, dass du mich langweilst, erzählst du mir auch noch von euren dämlichen Problemen, du Idiot. Meinst du das interessiert mich? Dass ihr wie die Blöden schuftet, ist schon schlimm genug, aber dass du das auch noch rumerzählst und mich da hineinziehst...
Ich unterbreche ihn: Niemand zieht dich irgendwo hinein. Wenn du willst, dann schweige ich, gut?
-Gut, sagt er und zieht die Mundwinkel hoch. Er lächelt.
Ich blicke nach rechts. Zur Wand, wo die Uhr hängt. Bald gehe ich, denke ich dabei. Dann trete ich zum Fenster.
Er führt wieder das Glas zum Mund und trinkt.
-Dein Papa war ein netter Kerl, eigentlich. Sagt er und schaut mich dabei an. Aber wie kommts, dass deine Mutter, so eine, sich für so einen entschieden hat? Sie ist Diplom-Bibliothekarin. Er war Metalgießer. Wer zum Teufel hat sie zusammengebracht?
-Keine Ahnung.
-Deine Oma wollte niemals, dass sie eine Russen heiratet. Sie meinte immer, dass jedes Tier oder so bei seiner Gattung bleiben sollte. So ungefähr ging das, was sie sagte.
Diese Geschichte höre ich sehr oft von ihm, ich bin also vorbereitet.
-Kurz bevor wir abgereist sind, saß ich mit ihm zusammen und wir haben ordentlich einen gebechert. W., frage ich, hast du es dir überlegt? Ja, sagt er, ich komme nicht mit. Meine Schwestern lassen mich nicht. Was für eine Begründung! Seine Schwestern lassen ihn nicht, glaubst du das?
Er schlägt mit seinen Händen auf die Stummel. Ich stehe immer noch vor dem Fenster, mit der Seite zu ihm, dann drehe ich meinen Kopf in seine Richtung. Er lächelt wieder vor sich hin.
-Was gibt es da zu lachen, frage ich.
-Halt den Mund. Sagt er und lacht los.
Und jetzt sind wir hier. Und du bist 25 Jahre alt und saugst an den Titten deiner Mutter, Muttersöhnchen. Hast du mich verstanden? Gibst du mir recht? Dass du ein Muttersöhnchen bist?
Wütend bin ich. Aber wütend sehe ich nicht aus und drehe den Kopf wieder zum Fenster. Er nimmt mit der Rechten eine Fernbedienung und drückt einen Knopf. Der Fernseher geht an. Sein Ton entspricht der normalen gesprächslautstärke.
-Guck dir das an, sagt er und schüttelt den Kopf. Wie kann man so jemanden zum Kanzler haben? Kein Mann ist er! Kein Mann! Putzt sich die Nase bei einem öffentlichen Empfang und schüttelt danach mit derselben Hand dem Staatschef die Hände. Kinder hat er auch keine. Verdammt! Ein Mädchen aus Russland hat er sich gekauft...mit Geld bezahlt...
Er richtet sein Gesicht auf mich und schreit:
-Du stehst ja immer noch hier? Was denn noch?
-Ja, sage ich, aber jetzt gehe ich.
-Gut, ich werde hier noch eine Weile sitzenbleiben. Ha, ha, du Student. Weißt du eigentlich, dass du hier auf meine Kosten lebst? Jawohl. Du frisst, säufst und fickst auf meine Rechnung. Ich bin dafür verantwortlich, dass du erst überhaupt in deiner Position bist. Ich hab auf meinen Job und meine Frau verzichtet, damit ihr hier rüberkommen könnt. Alles für die Familie. Was hältst du davon?
-Nichts, sage ich, die Sache ist die: Mich hat keiner gefragt, ob ich mitkommen will oder nicht. Ihr habt euch dafür entschieden.
Er lacht auf. Es ist etwas Lustiges im Fernsehen zu sehen. Eine Tiersendung.
-Okay, okay, sagt er, schon gut. Setz dich hin und bleib ruhig.
Ich drehe mich, bis ich mit dem Gesicht zur Tür stehe und mache mich dann auf den Weg. Bevor ich die Treppe hinabsteige, bleibe ich kurz stehen.
-Nichts bist du, brüllt er hinter mir her. Nichts hast du bis jetzt erreicht. Du wohnst bei deiner Mutter und lässt dich bekochen und bedienen. Was willst du eigentlich? Mit 25 keine Freundin. Keine Kinder. Keine Ziele. Wer zum Teufel bist du überhaupt?
Ich drehe mich um und gehe in das Zimmer wieder zurück. Ich stehe ihm gegenüber. Ich beuge mich vor und stütze mich mit beiden Händen rechts und links auf seinem Rollstuhl ab. Ich sehe ihn an. Er blinzelt nicht und behält einen ernsten Blick. Mit ganzer Kraft verlagere ich mein Gewicht auf die Rechte. Der Rollstuhl kippt. Der Alte Mann fliegt zur Seite und landet auf dem Boden.
Ich drehe mich wieder um und verlasse das Zimmer, das Haus, die Straße.