Wenn er stirbt, stirbt sie und stirbt sie, sterben wir.
Kurzgeschichte zum Thema Absurdes
von Seelensprache
Sie sitzt den ganzen Tag dort. Ich weiß nicht ob sie uns bemerkt, wenn wir sie durch den Türspalt zwischen Flur und Wohnzimmer beobachten. Sie sitzt auf dem alten braunledernen Sofa und wippt leicht mit ihrem Oberkörper vor und zurück.
Sie sitzt den ganzen Tag dort. Es gibt nichts in diesem Raum. Nicht einmal Farbe an der von Rissen überschwemmten Wand. Nicht einmal einen Teppich oder eine kleine Pflanze. Nur sie, das braunlederne Sofa und ein alter Röhrenfernseher. Davor ein paar vertrocknete Fliegenleichen, die wie kleine Fetttropfen dunkle Flecken auf dem Boden hinterlassen.
Sie starrt die ganze Zeit darauf, auf das matte, grobmaschig verpixelte Fernseherbild. Die Fernbedienung ist an ihrem Unterarm mit zwei Schnallen befestigt. Wir nennen es ihren dritten Arm. Und tatsächlich kenne ich sie nicht anders.
Dieser Fernseher darf niemals ausgehen. Wir haben ein Aggregatorennetz eingerichtet. Notstromaggregator eins würde anspringen sobald der normale Stromkreislauf unterbrochen würde, Aggregator zwei bei einem Ausfall von Aggregator eins.
Ich studiere Bücher über Fernseh-, Kommunikations- und Informationstechnik. Nichts werde ich riskieren. Ich kenne ein jedes Wort, jeder Zeile, jeder Seite. Doch es wäre zu spät. Das wusste ich. Das Ende des Fernsehers ist auch ihres. Sie würde das Leben nicht länger dulden. Auf keinen Fall. Nicht einmal eine Sekunde lang. Keine 32-Halbbilder.
Mit ihr würden aber auch wir sterben.
Wir saßen meist die ganze Zeit über dort, vom frühen Morgen über den Mittag, bis spät in die Nacht, dort, vor ihrem Zimmer und starrten hinein. Selbst die Mahlzeiten verzehrten wir davor. Manchmal kamen Fremde und zahlten um ebenfalls davor sitzen und hineinstarren zu dürfen. Die meisten hatten ihre Gesichter in dunkle Tücher gehüllt und ihre Blicke hinter nachtschwarzen Brillen versteckt. Sie sprachen nicht mit uns. Sie zahlten und begaben sich sofort zur Tür um hineinzustarren. Untereinander zahlten sie hohe Beträge um die besten Plätze zu bekommen. So saßen die vorderen Reihen immer ein Stück tiefer als die jeweils folgenden. Doch immer noch war nicht genug Platz. Des Öfteren geschah es, dass ein paar einschliefen oder vom langzeitigen Stehen das Bewusstsein verloren. Man reichte sie sofort nach hinten und schob sie hinaus. Ein paar hatte ich dabei beobachtet, wie sie ihre Beine schienten und lange Stöcke vom Stiefelrücken entlang der Waden und der Wirbelsäule bis an den Hals hoch befestigten, so dass sie auch über lange Dauer einen sicheren Stand haben würden. Andere hatten Arme und Beine an der Decke oder den Wänden festgezurrt. Sie hatten lange Pflöcke in den Boden geschlagen und sich daran gekettet. Manche warteten Monate oder Jahre. Einige starben, weil sie vergaßen zu essen oder weil sie, um ihren Kopf höher zu binden, an einem Seil erstickt waren.
Seit ich denken kann sitzt sie dort. Sie ist alt geworden. Ich weiß nicht ob sie uns kennt. Sie bewegt ihr Gesicht niemals. Wir treten nicht zwischen sie und das Fernseherbild. Das würde alles zerstören. Wir sprechen auch nicht mit ihr. Manchmal sitzt einer von uns seitlich neben ihr um sie zu füttern. Ihr Mund ist zittrig. Sie schaut das Essen nicht an. Ihre Lippen sind schrumplig und dünn und ich beführchte der metallne Löffel wird ihr die Zunge herausscharben so schlapprig herausgelöst liegt sie zwischen ihren angefaulten Zähnen. Es gibt geschnetzeltes vom Rind, Kartoffeln und Erbsen. Drei kleine nur anhand der Farbe unterscheidbare Häufchen. Ich klappe das an Ohr und Nacken befestigte Trinkgestell zur Seite und fülle den Kanister mit frischem Wasser. Dann portioniere ich ein wenig der breiigen Mahlzeit auf der Löffelspitze. Langsam nähere ich mich ihrem Mund. Bei einem ersten Versuch wird sie mit der Unterlippe gegen das Löffelende stoßen. Es ist jedes mal so. So ist es auch dieses mal. Ein wenig grüner Erbsenrest hängt nun an ihrer Lippe und über dem Kinn. Sie greift mit ihren verbliebenen Zähnen über die Unterlippe, die sie mit letzter Kraft, wie mir scheint, in das Mundinnere hineinwölbt. Dann senkt sie ihren Oberkiefer bis die vordere Zahnreihe weit über den Lippentiefpunkt hinabreicht. Ihr kellenförmiges Obergebiss zieht nun den verbliebenen Rest über ihre Lippen, wo er in der Mundhöle verschwindet. Ein Teil, so scheint mir, verbleibt in den tiefen Versenkungen und Rissen ihrer Lippen, in diesen metertiefen Schluchten, von denen ich nicht weiß wieviele Gedecke, Fingerenden, ganze Hände und Arme sie schon hinabgerissen haben. Es dauert lange bis es zu einem zweiten Bissen kommt. Manchmal schauen wir uns dazwischen mehrere Cartoons oder einen Film an. Währenddessen löst sich die aufgenommene Nahrung wie eine Brausetablette in ihrem Mund. Ihre Drüsen überschwemmen den Mundraum mit klebrigem Speichel und ich fürchte sie könne daran ertrinken. Ich fahre mit dem Löffel zwischen ihre Lippen und stemme die beiden Zahnreihen auseinander. Eine kleine Speichelflut schießt nun dazwischen hervor und ich fange sie mit einem Stück Papier ab, noch bevor sie das Kinn hinabtrielen kann. Mir scheint, als vergäße sie schlicht das Schlucken. Ich lege den Löffel auf den kleinen Fernsehertisch und warte. Bevor ich gehe, klappe ich das Trinkgestell wieder zurück. Dann verlasse ich das Zimmer.
Ich schaue in die angespannten Gesichter nahe der Tür. Diese verkrampften Gesichter in denen sich wurzeldicke Adern dicht unter die rissige Haut geschlagen haben. In ihre kleinen Augen, die kaum erkennbar in ihren eingefallenen, dunkelrot-bläulich schimmernden Einbuchtungen verschwunden sind. Auf ihre blasse Stirn, dieses dichte undurchdringlich befremdliche Feld an enggezwirrlten Höckern. Ich stoße sie zur Seite und werde allein durch ihre Masse hinausgedrückt. Ich bin wie Wachs in ihren Händen und möchte ihnen die Stirn zeigen, doch tropfe an ihren hitzigen Körpern wie kleine Schweißkügelchen ab. Ich drohe zu ersticken. Mein ganzer Köper bebt zwischen dem Pochen ihrer adernen Haut und dem wallenden Fett ihrer bebenden Körper. Ein breitschultriger Mann, mit stahlrohrdicken Armen und Brüsten als gehörten sie einer Frau reißt mich schließlich wie ein Stück Fett aus der fleischigen Masse und lässt mich am Rand einen Moment austropfen.
Dann wird es still. Ich feile meine Ohren spitz, doch nichts. Gar nichts. Nichts ist mehr zu hören. Nichts bewegt sich. Niemand atmet. Nichts. "Die Tür, die Tür, die Tür." Sofort wende ich mich der Tür zu, lasse meinen Blick an ihr vorbeistreifen und durchdringe den Raum, als klebte er direkt auf meiner Stirn, als gäbe es keine Strecke zwischen mir und ihm. Ich lande auf ihr. Meine Blicke schlagen so heftig auf ihr auf, dass es schmerzt. Schlagen auf, auf ihrer Wange, die noch kindlich, unberührt, unangetastet ist. Und dann sehen wir, worauf wir alle warteten und gewartet haben und immer und immer wieder warten werden.
Eine Träne. Eine Träne fließt unsicher stockend, als mangelte es ihr an Grund. Sie schmiegt sich an die Wange wie Tautropfen eines Frühlingsmorgens an ein durstiges Blatt.
Für die Menschen, die sich nun dichtgedrängt und aufeinander liegend vor dem Zimmereingang stapeln ist dieser zerbrechliche Tropfen alles und mehr. Sie haben die Sonnenbrillen von ihren Gesichtern geschmissen. Ihre Münder sind weit aufgerissen und für einen Moment ist es, als müsste ich auch ihre tausend Münder mit breiiger Masse stopfen und ihnen den Speichel von den Lippen tupfen. Ihre Blicke durchschneiden den Raum und ich fürchte er wird durch sie wie ein Puzzle zersägt und zerfällt wie Sand den man zwischen zwei Fingern hindurchrieseln lässt.
Es gibt nur noch wenige Menschen, die weinen können. Diejenigen, die es können, wollen nichts anderes mehr. Diejenigen, die es nicht können, werden abhängig von denen, die es können. Wir stellen sie aus wie in einem Zoo. Es ist eine Droge. Tränen sind süßer Nektar und Quell des Lebens geworden. Der Fernseher darf nicht sterben. Wenn er stirbt, stirbt sie und stirbt sie, sterben wir.
Weine liebe Mutter, weine!
Sie sitzt den ganzen Tag dort. Es gibt nichts in diesem Raum. Nicht einmal Farbe an der von Rissen überschwemmten Wand. Nicht einmal einen Teppich oder eine kleine Pflanze. Nur sie, das braunlederne Sofa und ein alter Röhrenfernseher. Davor ein paar vertrocknete Fliegenleichen, die wie kleine Fetttropfen dunkle Flecken auf dem Boden hinterlassen.
Sie starrt die ganze Zeit darauf, auf das matte, grobmaschig verpixelte Fernseherbild. Die Fernbedienung ist an ihrem Unterarm mit zwei Schnallen befestigt. Wir nennen es ihren dritten Arm. Und tatsächlich kenne ich sie nicht anders.
Dieser Fernseher darf niemals ausgehen. Wir haben ein Aggregatorennetz eingerichtet. Notstromaggregator eins würde anspringen sobald der normale Stromkreislauf unterbrochen würde, Aggregator zwei bei einem Ausfall von Aggregator eins.
Ich studiere Bücher über Fernseh-, Kommunikations- und Informationstechnik. Nichts werde ich riskieren. Ich kenne ein jedes Wort, jeder Zeile, jeder Seite. Doch es wäre zu spät. Das wusste ich. Das Ende des Fernsehers ist auch ihres. Sie würde das Leben nicht länger dulden. Auf keinen Fall. Nicht einmal eine Sekunde lang. Keine 32-Halbbilder.
Mit ihr würden aber auch wir sterben.
Wir saßen meist die ganze Zeit über dort, vom frühen Morgen über den Mittag, bis spät in die Nacht, dort, vor ihrem Zimmer und starrten hinein. Selbst die Mahlzeiten verzehrten wir davor. Manchmal kamen Fremde und zahlten um ebenfalls davor sitzen und hineinstarren zu dürfen. Die meisten hatten ihre Gesichter in dunkle Tücher gehüllt und ihre Blicke hinter nachtschwarzen Brillen versteckt. Sie sprachen nicht mit uns. Sie zahlten und begaben sich sofort zur Tür um hineinzustarren. Untereinander zahlten sie hohe Beträge um die besten Plätze zu bekommen. So saßen die vorderen Reihen immer ein Stück tiefer als die jeweils folgenden. Doch immer noch war nicht genug Platz. Des Öfteren geschah es, dass ein paar einschliefen oder vom langzeitigen Stehen das Bewusstsein verloren. Man reichte sie sofort nach hinten und schob sie hinaus. Ein paar hatte ich dabei beobachtet, wie sie ihre Beine schienten und lange Stöcke vom Stiefelrücken entlang der Waden und der Wirbelsäule bis an den Hals hoch befestigten, so dass sie auch über lange Dauer einen sicheren Stand haben würden. Andere hatten Arme und Beine an der Decke oder den Wänden festgezurrt. Sie hatten lange Pflöcke in den Boden geschlagen und sich daran gekettet. Manche warteten Monate oder Jahre. Einige starben, weil sie vergaßen zu essen oder weil sie, um ihren Kopf höher zu binden, an einem Seil erstickt waren.
Seit ich denken kann sitzt sie dort. Sie ist alt geworden. Ich weiß nicht ob sie uns kennt. Sie bewegt ihr Gesicht niemals. Wir treten nicht zwischen sie und das Fernseherbild. Das würde alles zerstören. Wir sprechen auch nicht mit ihr. Manchmal sitzt einer von uns seitlich neben ihr um sie zu füttern. Ihr Mund ist zittrig. Sie schaut das Essen nicht an. Ihre Lippen sind schrumplig und dünn und ich beführchte der metallne Löffel wird ihr die Zunge herausscharben so schlapprig herausgelöst liegt sie zwischen ihren angefaulten Zähnen. Es gibt geschnetzeltes vom Rind, Kartoffeln und Erbsen. Drei kleine nur anhand der Farbe unterscheidbare Häufchen. Ich klappe das an Ohr und Nacken befestigte Trinkgestell zur Seite und fülle den Kanister mit frischem Wasser. Dann portioniere ich ein wenig der breiigen Mahlzeit auf der Löffelspitze. Langsam nähere ich mich ihrem Mund. Bei einem ersten Versuch wird sie mit der Unterlippe gegen das Löffelende stoßen. Es ist jedes mal so. So ist es auch dieses mal. Ein wenig grüner Erbsenrest hängt nun an ihrer Lippe und über dem Kinn. Sie greift mit ihren verbliebenen Zähnen über die Unterlippe, die sie mit letzter Kraft, wie mir scheint, in das Mundinnere hineinwölbt. Dann senkt sie ihren Oberkiefer bis die vordere Zahnreihe weit über den Lippentiefpunkt hinabreicht. Ihr kellenförmiges Obergebiss zieht nun den verbliebenen Rest über ihre Lippen, wo er in der Mundhöle verschwindet. Ein Teil, so scheint mir, verbleibt in den tiefen Versenkungen und Rissen ihrer Lippen, in diesen metertiefen Schluchten, von denen ich nicht weiß wieviele Gedecke, Fingerenden, ganze Hände und Arme sie schon hinabgerissen haben. Es dauert lange bis es zu einem zweiten Bissen kommt. Manchmal schauen wir uns dazwischen mehrere Cartoons oder einen Film an. Währenddessen löst sich die aufgenommene Nahrung wie eine Brausetablette in ihrem Mund. Ihre Drüsen überschwemmen den Mundraum mit klebrigem Speichel und ich fürchte sie könne daran ertrinken. Ich fahre mit dem Löffel zwischen ihre Lippen und stemme die beiden Zahnreihen auseinander. Eine kleine Speichelflut schießt nun dazwischen hervor und ich fange sie mit einem Stück Papier ab, noch bevor sie das Kinn hinabtrielen kann. Mir scheint, als vergäße sie schlicht das Schlucken. Ich lege den Löffel auf den kleinen Fernsehertisch und warte. Bevor ich gehe, klappe ich das Trinkgestell wieder zurück. Dann verlasse ich das Zimmer.
Ich schaue in die angespannten Gesichter nahe der Tür. Diese verkrampften Gesichter in denen sich wurzeldicke Adern dicht unter die rissige Haut geschlagen haben. In ihre kleinen Augen, die kaum erkennbar in ihren eingefallenen, dunkelrot-bläulich schimmernden Einbuchtungen verschwunden sind. Auf ihre blasse Stirn, dieses dichte undurchdringlich befremdliche Feld an enggezwirrlten Höckern. Ich stoße sie zur Seite und werde allein durch ihre Masse hinausgedrückt. Ich bin wie Wachs in ihren Händen und möchte ihnen die Stirn zeigen, doch tropfe an ihren hitzigen Körpern wie kleine Schweißkügelchen ab. Ich drohe zu ersticken. Mein ganzer Köper bebt zwischen dem Pochen ihrer adernen Haut und dem wallenden Fett ihrer bebenden Körper. Ein breitschultriger Mann, mit stahlrohrdicken Armen und Brüsten als gehörten sie einer Frau reißt mich schließlich wie ein Stück Fett aus der fleischigen Masse und lässt mich am Rand einen Moment austropfen.
Dann wird es still. Ich feile meine Ohren spitz, doch nichts. Gar nichts. Nichts ist mehr zu hören. Nichts bewegt sich. Niemand atmet. Nichts. "Die Tür, die Tür, die Tür." Sofort wende ich mich der Tür zu, lasse meinen Blick an ihr vorbeistreifen und durchdringe den Raum, als klebte er direkt auf meiner Stirn, als gäbe es keine Strecke zwischen mir und ihm. Ich lande auf ihr. Meine Blicke schlagen so heftig auf ihr auf, dass es schmerzt. Schlagen auf, auf ihrer Wange, die noch kindlich, unberührt, unangetastet ist. Und dann sehen wir, worauf wir alle warteten und gewartet haben und immer und immer wieder warten werden.
Eine Träne. Eine Träne fließt unsicher stockend, als mangelte es ihr an Grund. Sie schmiegt sich an die Wange wie Tautropfen eines Frühlingsmorgens an ein durstiges Blatt.
Für die Menschen, die sich nun dichtgedrängt und aufeinander liegend vor dem Zimmereingang stapeln ist dieser zerbrechliche Tropfen alles und mehr. Sie haben die Sonnenbrillen von ihren Gesichtern geschmissen. Ihre Münder sind weit aufgerissen und für einen Moment ist es, als müsste ich auch ihre tausend Münder mit breiiger Masse stopfen und ihnen den Speichel von den Lippen tupfen. Ihre Blicke durchschneiden den Raum und ich fürchte er wird durch sie wie ein Puzzle zersägt und zerfällt wie Sand den man zwischen zwei Fingern hindurchrieseln lässt.
Es gibt nur noch wenige Menschen, die weinen können. Diejenigen, die es können, wollen nichts anderes mehr. Diejenigen, die es nicht können, werden abhängig von denen, die es können. Wir stellen sie aus wie in einem Zoo. Es ist eine Droge. Tränen sind süßer Nektar und Quell des Lebens geworden. Der Fernseher darf nicht sterben. Wenn er stirbt, stirbt sie und stirbt sie, sterben wir.
Weine liebe Mutter, weine!