Die Biene und das Fenster

Kurzgeschichte

von  Seelensprache

Er trank gerade ein Kaffee-Surrogat als eine Biene durch die geöffnete Terassentür flog. Es war ein unangenehmer Moment, denn es war unklar, ob der Eindringling in friedlicher, feindlicher oder überhaupt einer Absicht kam, wie lange er bleiben oder wie leicht er sich vertreiben ließe. Er hatte sich gerade etwas Zeit für Entspannung und Müßiggang genommen. Das Muckefuck-Getränk, also eine koffeinfreie Alternative zum herkömmlichen Kaffee, duftete heiß aus der Tasse. Immer wieder in kleinen Stößen trieb ein Windhauch angenehm kühlend in das aufgewärmte Zimmer. Es war ein heißer Sommertag. Den Oberkörper entblößt, saß er auf der Couch und ließ seinen Blick frei umherschweifen. Die Gedanken kamen und gingen. Die Biene hatte sich hinter die breite Fensterfront zurückgezogen und strampelte wie wild mit ihren Extremitäten dagegen. Er zählte noch einmal nach. Ja, es waren tatsächlich sechs Beine die dort wild umherfuchtelten und von einem aufdringlichen Surren begleitet wurden. In wildem Durcheinander, aus seiner Sicht unbeholfen und chaotisch, schlugen und griffen und drückten sie gegen die Scheibe. Er konnte kein sinnvolles Tun darin erkennen. Es war erstaunlich in welch kleinem Ausschnitt der Realität sie sich bewegte. Sie tänzelte mal ein paar Zentimeter nach rechts, dann nach links und wieder zurück, ein wenig nach oben und nach unten. Es wäre allzu interessant, dachte er, sich mit ihr über ihre Sicht der Dinge auszutauschen. Sie änderte ihre Taktik auch nach längerer Zeit des Zuschauens nicht, auch wenn sie zeitweise etwas in ihren Bemühungen nachzulassen schien und ihre Versuche für einen Moment unterbrach. Wie hatte Albert Einstein noch gesagt; es sei Wahnsinn immer das gleiche zu tun und dabei andere Ergebnisse zu erwarten. Hier fand etwas Derartiges statt. In ihrem Erleben musste aber etwas zutiefst Sinnvolles vor sich gehen. Wahrscheinlich folgte sie einem evolutionären Mechanismus, der genetisch tief verwurzelt war und in einer Welt ohne Fenster dazu geeignet wäre, ein Problem zu lösen. Doch bei einer Fensterscheibe funktionierte er nicht. Von außen betrachtet war die Lösung einfach, ja geradezu trivial. Sie müsste nur horizontal an der Fensterfront vorbeifliegen und schauen, wo sich eine Öffnung befand, durch die sie wieder hinaus käme. Er ertappte sich dabei, wie er einen inneren Dialog mit der Biene führte. Er feuerte sie an, wenn sie sich in die richtige Richtung bewegte, er spürte eine Frustration, wenn sie in die falsche Richtung abbog. So ähnlich müsste es für manches Elternteil sein, das seinen Kindern das Essen, das Fahrradfahren oder sonst eine alltägliche Tätigkeit beibrachte. Es wirkte so einfach, so banal, von einem, der die Lösung bereits sehen und durchführen konnte. Nach einer Weile des passiven Zuschauens und aktiven Beobachtens reichte es ihm. Er nahm ein kleines Büchlein und trieb die Biene vor sich her. Der Versuch schien eine Menge Stress zu verursachen, denn das Surren wurde lauter und brummiger, wie bei jemandem, dem man ungefragt versuchte zu erklären, wie der Geschirrspüler denn nun richtig einzuräumen wäre. Es war zwecklos. Sie wandte sich drum herum, flog über das Büchlein hinweg oder darunter durch. Er fühlte sich wie jemand, der versuchte einen Ertrinkenden zu retten und dabei von diesem attackiert wurde. Das Surren nahm nun tatsächlich etwas Bedrohliches an. „Du undankbares Ding,“ dachte er genervt bei sich. Wofür machte er sich die Mühe?  Am Ende würde er noch selbst gestochen und zwei Leidende wären das Resultat. Der eine mit stechendem Schmerz, der andere verzweifelt und erschöpft durch unfruchtbares Tun. Es gab hier keine Auszeichnung, nicht einmal ein Schulterklopfen für seinen Einsatz. Lediglich sein Eigeninteresse, dass danach, wenn sie davon geflogen wäre, wieder Ruhe einkehren würde, schien ihm eine Art der Belohnung. Sie, die Biene, würde niemandem von seinem ehrenhaften Verhalten erzählen, es noch nicht einmal erkennen können. Und könnte sie sprechen, würde sie ihn als einen Übeltäter, nicht als einen Retter darstellen. Dies war nun wirklich keine befriedigende Erkenntnis. Nachdem diese eingesickert war, verstärkte er sein Bemühen und jagte sie schließlich davon. Er hatte getan, was eben getan werden musste. Dann klopfte er sich auf die Schulter und sagte „Gut gemacht.“.



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Kommentare zu diesem Text


 minimum (16.06.22, 20:17)
Eine bemerkenswert intensive Vergegenwärtigung alltäglichen Wahnsinns. Sehr gerne gelesen.

 Regina (17.06.22, 07:52)
Wenigstens eine Biene gerettet.

 magico meinte dazu am 30.06.22 um 23:07:
Sehr detaillierte Ansicht einer Situation, die wohl die meisten von uns kennen. Die ersten paar Zeilen kommen mir zeitlich falsch angeordnet vor. Ich wähnte den Erzähler auch erst in der Küche, nicht auf der Couch. 
Schade finde ich, dass dein Protagonist die Biene nur "rettet", um seine Ruhe zu haben und nicht, weil es bei dem aktuellen Insektensterben auf jedes einzelne Exemplar ankommt. Aber gut ... so ist der Alltag, so sind die Menschen.
Im Großen und Ganzen ein weitgehend gelungener Text.
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