Reinsteigern

Kurzgeschichte

von  Seelensprache

"Fahrkartenkontrolle". Ein graues Bündel Haare tauchte hinter der Rückenlehne des Vordersitzes auf. Unruhe waberte Reihe für Reihe durch das Abteil. Noch bis vor wenigen Minuten war lediglich das dumpfe Humpeln und Rumpeln der Bahnräder im Gleis zu hören. Ihm schräg gegenüber, auf der anderen Seite des Gangs, ebenfalls in Fahrtrichtung sitzend, saß ein schwarzer Mann. Sein Vater würde jetzt wohl provokanterweise das N-Wort benutzen, so wie ebenjener es tat, wenn andere einen Schoko-Kuss bestellten. Sein Vater konnte solchen Provokation nicht widerstehen, es war wie ein geistiger Juckreiz oder einen Tick, den er wohl nur sehr schwer unterdrücken konnte.
Der Schwarze trug eine modisch zerissene Jeans und strahlend weiße Schuhe. Obwohl er ihn nur seitlich von hinten sah, stellte er sich vor, dass er wohl ebenso strahlend weiße Zähne hätte.
Als die Schaffnerin, ebenjene mit dem grauen Bündel Haare auf dem Kopf, sich dem Schwarzen zuwandte, spürte er einen kleinen Stress in sich aufsteigen. "Ihre Fahrtkarte bitte", sagte sie ruhig und freundlich, so wie es eben üblich war. Die Situation verschaffte ihm ein unerwartetes Unwohlsein, so als ob etwas Aufregendes geschehe. Ein Hoffen und Bangen ergriff ihn, als der Schwarze in seiner Hosentasche herumkramte und sein Handy hervorholte. Einen kurzen Moment erlebte er etwas von einem Gefühl, das wohl eine Mutter hatte, die bereit war, ihren kleinen Nachwuchs vor Ungemach zu schützen. Der Schwarze zeigte der Schaffnerin das Handy und aus den Augenwinkeln sah er die Konturen eines Ticketcodes. Die Kontrolleurin hob das Ticketprüfgerät, das aussah, wie eine Laserkanone aus einem 70er-Jahre Science-Fiction-Streifen. Ein kleiner Pieps, dann war es eingelesen. "Danke", sagte sie. Seine Schultern entspannten sich, die Atmung setzte wie gewohnt ein. Es war nun wirklich keine leichte Situation ein stummer Beobachter zu sein. "Dürfte ich noch die Bahncard sehen?", folgte nur einen Moment darauf. Die Anspannung kehrte zurück. Seine Fußzehen drückten in das Schuhleder, das Herz pochte spürbar und druckvoll gegen seine Brust. Die Hände wurden feucht. Das ganze Spiel begann von vorne. Hätte sie nicht darüber hinweggehen können? Wen interessierte es, ob er eine Bahncard besaß. Es gab nun wirklich keinen Grund ihn zu drangsalieren. Wie unzufrieden musste man mit dem eigenen Leben sein um sich an solchen Spielchen zu erfreuen? Dies war dieselbe Art von Mensch, die sich an allerlei Perversitäten ergötzte, z.B. den eigenen Ehemann aus einem Fressnapf essen ließ oder ihn per Leine Gassi führte. Konnte sie es nicht einfach sein lassen, einfach weitergehen, Fünfe gerade sein lassen, mal bei achtzig Prozent aufhören? Stattdessen aber lebte sie ihren Hass an denjenigen aus, die aufgrund irgendwelcher Merkmale nicht in ihr verachtendes Menschenbild passten. Oh ja, er konnte sich gut vorstellen, wie sie mit Stolz, aufrecht und kerzengerade in Reih und Glied stand, Tränen starker nationalistischer Rührung in ihren Augen. Ein starkes Drängen und Stoßen pochte ihm bis in die Fingerspitzen, in die Fußzehen, bis in die Haarspitzen hinein. "Es reicht", entfuhr es ihm harsch. "Leben Sie Ihre Großmachtfantasien doch woanders aus! Fehlt ja nur noch die Marschmusik und das Oberlippenbärtchen!", bebte er, so dass das ganze Abteil vor Schreck stramm in den Sesseln saß.

Am Bahnsteig sitzend grübelte er. Niemand war aufgestanden, niemand hatte Haltung gezeigt, alle sich feige weggeduckt. Er folgerte, dass es wohl die Früchte einer substanzlosen, hohlphrasigen Politik waren. Für ihn war die Sache klar. Dieses Regime hatte jede Legitimation verloren!


Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (16.06.22, 12:45)
Etwas zu viele (blumige) Adjektive, ansonsten interessanter, weil ambivalenter Text.
Ich hätte diesen polternd-unhöflichen Fahrgast auch vor die Türe gesetzt, manche Woke-Teenager vlt. nicht.
Teolein (70)
(16.06.22, 16:08)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram