Dicke, weiche Schneeflocken stoben durch die Nacht. Decken die Welt behutsam ein, in einem sanften Puderzuckerschein. Die Sterne funkeln blass durch schwarz-graue Wolken, die vom ruhigen Nachtwind davongeschoben werden und den Blick auf den rötlichen Vollmond freigeben. Leises Rabenkrächtzen durchzieht die Stille und das leichte Raunen im Nordmannwald. Die großen, dunklen Tannen wiegen sich sacht in den Schlaf. Irgendwie scheint die Zeit hier still zu stehen - die ganze Welt so friedlich dazuliegen, wie ein kleines Kind in seinem Bettchen. Im Dunkeln tummeln sich kleine Fledermausschwärme, die leise Schwirrend durch die kalte Nachtluft gleiten. Auch ein leises Plätschern dringt an meine Ohren. Es ist sinnlich und berauschend - fast so schön, wie das Rauschen des Meeres und ein leichter Salzwassergeschmack, der auf der Zunge zergeht. Wäre es nur nicht so kalt und dunkel. Keine Menschenseele verirrt sich hier her, das ist meine Welt. Meine private Zuflucht aus dem Alltag. Hier ist alles schön. Still. Friedlich. Nur die Natur. Die unendlich gnädige, majestätische Mutter Natur, und ich. Schnee knarzt unter meinen Schuhen, und ich habe Angst, dass diese Barmherzigkeit, die sich wie ein Schleier auf diesen Wald herniederlegt, mit einem Male schwinden könnte. Befürchte, dass ich dieses harmonische Gleichgewicht, das hier noch herrscht, zu Fall bringen könnte. Sogar das lautlose Pochen meines Herzens, kann ich laut und deutlich hören. Die Missgunst und Sorgen ausatmen, und einfach hinter mir lassen. Meine Schritte werden langsamer und ich lasse den Blick über die dunklen Umrisse der Tannen schweifen. Wische mir ein paar kränklich-blasse Flocken aus meinem Gesicht. Meine Haare sind nass. Ich friere schrecklich. Das Tempo meiner Schritte verlangsamt zunehmend immer mehr. Trete an das Ufer des Baches heran. Das Mondlicht spiegelt sich cremig im zarten Blau. Vom Grunde her leuchten blasse, goldene Punkte auf - die Sterne, sind sie gefallen? Kämpfen sie hier, in dieser Idylle, ums Ertrinken? Knie mich in den Schnee und versinke wieder in Gedanken einer anderen Welt. Einer anderen, schlechteren Welt - der Wirklichkeit. Wieder ziehen Bilder in meine Gedanken, die ich so sehr zu verdrängen versucht hatte. Und wieder stehe ich vor den Trümmern meiner Kindheit. Erneut hallt das Gelächter von den Zinnen dieser finsteren Festung, aus der ich immerzu verzweifelt zu entkommen versuchte. Sie haben es geschafft. Sie haben mich eingeholt. Bis hierher sind sie mir gefolgt. Laut brüllend. Kreischend. Von Hass angetrieben und von Wut geführt. Mir ist kalt. Und wieder drängen sich die alten Fragen auf. Wieder steigt die Angst, mit jedem neuen Herzschlag. Tränen fallen, mit jedem weitern Stern am nächtlichen Firmament. Das Lachen haben sie mir schon lange Zeit zuvor ausgetrieben. Hatte gehofft, hier, in den Katakomben meiner Träume, sicher zu sein. Allein. Allein mit mir, und der Erinnerung, an etwas Schönes. Etwas Schönes, das längst Vergessen ist und von Vergangenheit gesegnet ist. So weit liegt dieses freudige, strahlende Bild hinter mir, dass sein Leuchten und seine bunten Farben nicht mehr zu erkennen sind. Nur noch finsterstes Schwarz und knochenblasses Weiß. Blutrot mischt sich dazwischen. Und der Wind weht den Geruch von warmem Blut in meine Nase. Stehe jetzt mitten in diesem Bach, bis zu den Knien im eisigen Wasser. Atme ein letztes Mal diese Unbeschwertheit ein, bevor ich falle. Meine Augen fallen zu und um mich wird es still. Ganz still.
Ich wache auf, in einem alten, kaputten Bett. Unter einer mitgenommen aussehenden Decke, die niemanden warm halten könnte. Es riecht nach Zigaretten und Whisky. Neben dem Bett, auf dem Boden, liegen Tabletten und ein Messer. Blutverschmiert. In meiner Hand halte ich etwas, das sich wie Papier anfühlt - zerknülltes Papier. Mir ist schwindelig, und ich spüre eine leichte Ohnmacht mich überrollen und liebevoll zudecken, wie es eine Mutter mit ihrem Kind hätte tun sollen. Ein schönes Gefühl, das ich bisweilen nie erlebt habe. Es fühlt sich großartig an, und die Angst verlässt mit leisen Schritten diesen beengenden Raum. Mein Herz schlägt langsamer. Wieder zieht sich etwas Markantes durch den Raum - Blut. Es riecht wundervoll. Und mein letzter Gedanke schweift zu dem zerknüllten Stück Papier in meiner Hand: "... Ich werde dich nicht mehr vermissen brauchen. Deine Lachen nicht mehr suchen müssen. Meine Ängste und Schmerzen nicht mehr weiter tragen. Ich werde meinen Weg durch die dichten Wälder gehen. Durch Schnee und Eiswüsten wandern, um am Ende dein Lachen im Horn des kristallenen Pegasus zu finden. Ich liebe dich, schön, dass ich dieses Elend nun verlassen darf."