Nanny
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Paco 

Das Herz der Hydra

Erzählung zum Thema Entfremdung

von  Mutter

Als ich am nächsten Morgen in meinem Bett ohne Nanni, dafür mit Morgenlatte aufwache, bereue ich kurz, gestern nicht noch mit ihr gegangen zu sein. Die Gelegenheit hat sie mir gegeben – mehr als einmal. Mich zum Abschied sanft auf die Lippen geküsst, gefragt: ‚Ganz unverbindlich? Ohne Komplikationen …‘ Unkomplizierter, entspannter Sex war im Laufe des Abends mehrmals Thema geworden – Nanni vertrat die Meinung, dass zusammen ins Bett gehen auch keinen großen Unterschied zu kuscheln, sich massieren oder Arm in Arm spazieren gehen darstellte.
Die Versuchung war groß gewesen – aber auch wenn ich ihr geglaubt habe, dass es zwischen uns beiden unkompliziert geblieben wäre – meine anderen Komplikationen im Leben hätten es mir sicher nicht gedankt.
Eines hatte Nanni auf jeden Fall bewirkt – ich war zur Ruhe gekommen. Hatte ein paar der Wackersteine in meinem Bauch, die ich seit der Sache mit Julia in meinem Bauch herumtrug, loswerden können. Mir ist klar, dass ich eine Menge tun muss, um die Geschichte mit ihr auszubügeln, dass das kein Selbstläufer sein würde. Aber zum ersten Mal hatte ich das Gefühl, dass ich das schaffen konnte.
Allerdings musste ich zuerst ein anderes Problem loswerden, das mir auf Leber, Herz und Niere drückte. Ich musste mich um Gabi und den Fight Club kümmern. Wenn ich da nicht herauskam, würde ich die ganzen anderen verhedderten Fäden ebenfalls nicht loswerden.

Nächste Ausfahrt: Gabi. Kurz denke ich darüber nach, ob ich ihn ein weiteres Mal konfrontieren soll. Den Gedanken verwerfe ich. Weil ich es nicht für sinnvoll halte. Weil ich zu feige bin. Fühle mich ihm ohnehin meist nicht gewachsen, in meinem momentanen Zustand noch viel weniger.
Um mir in meinem Kopf Ruhe zu verschaffen, um Abstand zu bekommen, gehe ich im Morgenland frühstücken. Tatsächlich esse ich nichts, trinke nur ein paar Milchkaffees, während ich über die ganze Geschichte nachdenke. Lasse vor meinem inneren Auge die Büros der Hydra vorbeiziehen, versuche, mich an Details zu erinnern, die mir jetzt weiterhelfen.
Wenn man die Köpfe des Monsters abschlägt, wachsen sie nach, hatte Gabi gemeint. Also musste ich etwas anderes treffen. Das verletzlicher ist.
Kurzentschlossen stürze ich den Rest des Milchschaums hinunter, bezahle ungeduldig direkt vorne am Tresen und bin kurz darauf unterwegs. Trete ordentlich in die Pedale.
Gehetzt bremse ich vor seiner Haustür ab, hinterlasse einen schwarzen Streifen Gummi, wo meine Bremsen blockiert haben. Ich drücke auf die Klingel, warte. Drücke noch einmal, diesmal antwortet er. Ich ignoriere den Summer, der mich auffordert, einzutreten. Mache missmutig einen Schritt zurück, sehe reflexartig nach oben. Gabis Wohnung liegt im Seitenflügel – sehen kann ich also nichts.
Schräg gegenüber gibt es einen Kinderspielplatz, der in die ausgebombte Lücke zwischen zwei Häusern gebaut ist. Ein paar Bäume, Büsche, Klettergerüste. Dorthin ziehe ich mich zurück, hocke mich auf die Lehne einer Parkbank. Von hier aus kann ich den Hauseingang im Auge behalten, bin selbst aber ausreichend verdeckt. Vielleicht nicht so, dass ich einem paranoiden FBI-Agenten entgehen würde, aber Gabi hat keinen Grund, paranoid zu sein.
Ich warte.
Eine knappe Stunde später erscheint er in der Tür, lässt sie hinter seinem Rad zufallen. Steigt auf, fährt davon. Ich gebe ihm noch ein paar Minuten, bis ich sicher bin, dass er weg ist. Löse mich von der Parkbank und mache mich daran, den Spielplatz zu verlassen, die Straße zu überqueren.
Die Straße ist belebt – zu  belebt, um die Haustür von Hand aufzumachen. Also drücke ich wahllos ein paar Klingelknöpfe, nuschel etwas von Katalogen in die Gegensprechanlage, bis mir tatsächlich jemand aufmacht.
Kurz darauf überquere ich den Hinterhof, betrete den Seitenflügel. Nehme die Stufen doppelt, stehe vor Gabis Tür im dritten Stock. Sicherheitshalber klingel ich noch einmal, warte. Versuche, die Tür zu öffnen. Mit dem Schloss habe ich meine Schwierigkeiten. Es ist neuerer Bauart, widersteht den ersten Versuchen. Ich fluche, strecke den krummen Rücken durch. Bah, damit habe ich nicht gerechnet. Ich bin vorher noch nie bei Gabi gewesen. Ich bin vorher noch nie ohne Gabi bei Gabi gewesen.
Atme durch, versuche es noch mal. Endlich bekommen meine schmalen Metall-Zungen etwas zu fassen, einen Augenblick später klickt es. Ich bin drin.
Es ist schon eine ganze Weile her, dass ich ihn das letzte Mal besucht hatte. Orientiere mich kurz – sehe zu dem überlebensgroßen Afro Samurai-Poster hoch, das den Flur beherrscht. Das Ding hatte Gabi vor ein paar Jahren beim Fantasy Filmfest geklaut. Überhaupt gibt es in Gabis Wohnung ziemlich viele Dinge, die von seiner kriminellen Energie zeugen. Trophäen, nennt er das. Seine Siegerpokale, die er dem Leben aus den Händen gerissen hat.
Am Ende des Flurs sind seine beiden Zimmer – ursprünglich eine Zwei-Zimmer-Wohnung, hatte Gabi bei seinem Einzug große Teile der Zwischenwand herausgerissen und so eine Art Wohnhalle mit über fünfzig Quadratmetern geschaffen. Keine schlechte Art zu leben für einen notorischen Single.
Im vorderen Teil steht ein riesiger Esstisch mit dazu passenden Stühlen. Ein Erbstück seines Vaters, soweit ich weiß. Hier vorne ist die Einrichtung karg gehalten, das meiste Zeug steht hinten.
Eine Kombination aus Couch und Futons in Doppelbettgröße steht vor einer riesigen Stereoanlage, dem Plasmafernseher und verschiedenen Spielkonsolen. Früher hatten wir uns öfter hier zum Zocken getroffen. Tekken, Dead Or Alive, Gran Tourismo. Renn- und Prügelspiele, die Quintessenz von Gabis Leben, denke ich mit einem schiefen Grinsen, werfe mich auf den Futon.
Ich betrachte sein Leben aus meiner neuen Position heraus, denke darüber nach, was er treibt, wenn er sich außer meiner Sicht befindet. Ob es vielleicht einen anderen Gabi gibt, einen, den ich nicht in- und auswendig kenne.
Nach einem Augenblick reiße ich mich von solchen Betrachtungen los, stehe auf. Methodisch fange ich an, seine Sachen zu durchsuchen. Die Regale, einen niedrigen Schreibtisch, vor dem er nur im Schneidersitz sitzen kann. Seinen Laptop hat er mitgenommen. Ich habe keine Ahnung, nach was ich suche. Einem Hinweis, einen Faden, irgendwas, das auf eine Schwäche hinweist. Das ihn angreifbar macht, so dass ich es gegen ihn wehren kann.
Wahllos krame ich in seinem Leben. Finde Fotos von uns beiden. Damals haben wir einen Kurs im Gleitsschirmfliegen unten im Breisgau gemacht. Ich sehe von dem Stapel Bilder in meiner Hand hoch, betrachte eins der gerahmten Fotos von Gabi im Regal. Es ist Bild, das unser Kumpel Chris von uns beiden gemacht hat. Auf dem Bild in meiner Hand stehen wir beide sonnenverbrannt und grinsend am Hang, die bunten Schirme geknüllt in den Armen. Gabi links, ich rechts.
Auf dem gerahmten Foto steht nur Gabi. Hat das Bild geteilt, mich aus der Szene geschnitten. Für einen Moment überkommt mich das Bedürfnis, das Scheiß-Foto in seinem billigen Rahmen an der Wand zu zerschmeißen.
Nach einem Moment lege ich die Fotos zurück, stöbere weiter. Finde einen alten Brief, handschriftlich, von seiner Schwester. Überfliege ihn - es geht um ihre Mutter und deren Reise in die Bretagne. Der Ton ist eindringlich, sie will, dass Gabi sich kümmert. Ich frage mich, ob er den Brief damals genauso teilnahmslos weggelegt hat wie ich.
Ich gehe kurz rüber in die Küche, hole mir aus dem Kühlschrank Orangensaft. Trinke direkt aus dem Tetrapack.
Zurück im Wohnzimmer setze ich mich vorne an der Tür auf den Boden. Überblicke den Raum, versuche, Gabi zu ‚fühlen‘. So, wie ich damals Mischa gefühlt habe, denke ich mit einem grimmigen Gesichtsausdruck. Sehe die Szene auf dem Bahnsteig vor mir, aber diesmal dreht sich Gabi bestürzt um, bevor ich ihn mit einem bedauernden Kopfschütteln vor den Zug stoße.
Mit einem Seufzer will ich gerade wieder hochkommen, als ich einen weißen Umschlag aus einem Stapel Magazine neben seinem Schreibtisch ragen sehe.
Ich gehe rüber, ziehe den Umschlag heraus. DINA4, per Post gekommen, adressiert an Gabriel Sutter.

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Kommentare zu diesem Text

Kitten (36)
(20.02.10)
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 Mutter meinte dazu am 22.02.10:
Glaub nicht ... :)

Das freut mich zu hören, also das mit dem Knacks - das fällt mir nämlich gar nicht so leicht.
Danke ...
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