Im Bett mit Thomas Münzer
Erzählung zum Thema Vergangenheit
von KayGanahl
1.
John lag auf dem Bett und las in seinem Buch. Das braune Oberbett hatte er zur Seite geschoben. Im Licht einer antik anmutenden Nachttischlampe konnte er gut lesen. Er war zwar schon müde, wollte aber zunächst einmal möglichst diszipliniert weiterlesen, weil der Lesestoff ungeheuer interessant war, - er konnte von ihm nicht lassen. Geschichte fesselte ihn neuerdings sehr. Die Lampe leuchtete John den Weg durch einen Abschnitt der deutschen Geschichte, der bei den Leuten, die ihn meistens umgaben, nicht sehr bekannt war. Um so interessanter fand John ihn: keine Frage, dieser Führer war kein Führer, den man verachten musste. Längst hatte John aus einem der Bücher, die er über ihn las, ein großes Bild heraus gerissen und zu Hause an die Wand gepinnt. Jawohl, dieser Thomas Münzer lag ihm wirklich …, er war für ihn eine historische Gestalt, die er bewunderte. Immer wenn er in seiner Biografie las, wie auch jetzt, so fühlte John die ganze Geschichte der Menschheit in sich aufbrüllen, Geschichte in ihrer ganzen Bedeutung für die Welt. Seit der Bekanntschaft mit Münzer vergab er sich sein früheres, allzu flüchtiges Denken an Geschichte. Und er ließ diesen Münzer das sein, was er in der Geschichte Deutschlands wahrhaftig war, - dachte, deutete, träumte ihn nicht um, sondern versetzte sich in dessen Lage als religiöser Mensch und politisch sowie militärisch Handelnder zur Zeit Martin Luthers und des deutschen Bauerkriegs.
Dieser Münzer war der wichtigste Führer der Aufständischen, die im deutschen Bauernkrieg die Adelsherrschaft abzuschütteln trachteten. Für den Adel war Münzer ein führender Terrorist, der mit allen Mitteln zu verfolgen, zu ergreifen und gnadenlos zu bestrafen war. Der Prediger Münzer als ein Gebildeter unter den einfachen Bauern, die ja viel mehr als einen Aufstand, nämlich einen großen fürchterlichen Krieg gegen den Adel, die mächtigen Burgherren und Teile des Bürgertums führten, beeindruckte den auf dem Bett die Münzer-Biografie lesenden John sehr.
Am Menschen Münzer kritisierte er aber entschieden, dass er andere Menschen hasste - und diesen Hass zu einem wichtigen politischen und militärischen Handlungsmotiv werden ließ. Die historische Persönlichkeit Thomas Münzer hatte nicht nur eine bewegte Lebensgeschichte, sondern genauso eine Leidensgeschichte, die nachzufühlen des Lesers, also hier und heute Johns Ansinnen sein musste, wenn er Münzers Leben und Wirken begreifen wollte. Münzer durfte für John nicht nur heroisch sein, nein …! Vielmehr musste dieser Bauernführer und religiöse Konkurrent Martin Luthers ein historisches Vorbild sein. Das bedeutete viel mehr als jedes Siegen, Morden und alles andere: Vorbild sein müssen war am wichtigsten – nicht nur für John als den an der deutschen Geschichte interessierten Leser. Allerdings war Thomas Münzers historische Rolle (und damit seine Bedeutung in der deutschen Geschichte) schon zu seinen Lebzeiten umstritten, er war die Hassfigur schlechthin für den Adel, für alle seine politischen Feinde, die ihm auf dem Schlachtfeld unbedingt Niederlagen zufügen wollten – und mussten. Auch heute ist Münzer umstritten bei professionellen Historikern und Kennern der Historie Deutschlands, denn eine historische Persönlichkeit wie er bedarf der eingehenden wissenschaftlichen Analyse. Sicherlich war er ein Mensch, der sich ohne spezifisches Eigeninteresse und persönliches Vorteilsdenken für das Gute im Menschen und in der Gesellschaft engagierte und kämpfte, aber als Anhänger der Wiedertäufer-Bewegung zu den Schwärmern zu zählen war. Letzteres ist ebenfalls an ihm zu kritisieren.
Die Führer des deutschen Adels als politische und militärische Feinde Münzers und seines Bauernheeres dachten natürlich nicht an die Bekämpfung Münzers als Terroristen. Im Grunde sammelten sie sich immer wieder lediglich, um gegen die zu einem mehr oder weniger großen Heer gesammelten einfachen Bauern, die sich ihnen mit Macht und Entschlossenheit in den Weg stellten, zum Morden anzutreten.
John, der noch auf dem Bett lag und las, auf seine spezielle Art engagiert war (als ein Leser von geschichtlichen Stoffen), hielt sich im Vergleich zu Thomas Münzer, der vielleicht kein Held, kein Vorbild, jedoch zumindest einer war, den man getrost rühmen konnte, für völlig unwichtig! Münzer die rühmliche historische Rolle zuzugestehen, das war man ihm geradezu schuldig, dachte John. Er gähnte. Er blickte ins Licht der Nachttischlampe und drohte einzuschlafen.
"Aber ich bin jedenfalls John!" sprach John mit einiger Gelassenheit und kratzte sich am Hinterkopf. Die Hautärztin hatte vor Tagen Pilzbefall auf seiner Kopfhaut diagnostiziert - er wollte das Alleinsein im Hotelzimmer dazu nutzen, um ausgiebig über Münzer zu lesen, aber auch um über sein eigenes kleines Leben nachzudenken. Das hielt er für dringend erforderlich, womit er sicher nicht falsch lag.
John war gerade mühsam vom Bett aufgestanden. Das Münzer-Buch hatte er auf den Nachttisch gelegt - über ihm die fleckige Zimmerdecke, die er anstarrte und am liebsten mit Macht herunter geholt hätte, vor ihm das Waschbecken. Aus dem Wasserhahn tropfte braunes Wasser. Und John stellte mürrisch fest, dass er hier wohl in einer Absteige gelandet war. Dann ging er in die Küchennische, wo er nicht etwa köcheln wollte, wollte vielmehr gedanklich gegen die ihn durchdringenden Grausamkeiten, die ihn peinigten, angehen.
Wahnwitzige blutende Bilder erschienen nämlich seit Wochen immer wieder in seiner Vorstellung. Er musste sie endlich mal bekämpfen! Hier, heute? Jetzt? War das der richtige Zeitpunkt? ---
Dieser Thomas Münzer, den er als gescheiterter Historiker der Geschichte Deutschlands immer noch durchaus verehrte, erschien ihm nun in ganzer Gestalt als der kommende Befreier aller Menschen auf Erden. (!!!) Es war erstaunlich. Mehr als das: Es war unfassbar! Münzer als eine Geistgestalt! Diese Geistgestalt fesselte John auf der Stelle, er erbebte. Und dann starrte John auf den Wasserhahn, aus welchem Blut statt Wasser tropfte.
„Das glaube ich ja nicht!“ stieß John aus. Diese Geistgestalt verschwand jedoch, als sich John wieder nach ihr umdrehte, so schnell wie sie gekommen war. John hatte nicht das Wort an sie richten können. Er blieb vor dem Waschbecken stehen …
Zweifellos war Thomas Münzer einer der ersten bedeutenden Männer, die sich für die geschundene Kreatur, damals den einfachen Bauern, tapfer schlugen. Schließlich für die Führung eines Bauernheeres auf dem Schlachtfeld mit dem Leben bezahlte: Thomas Münzer wurde hingerichtet: um ihn hatte sich der Kreis der Todfeinde gebildet, er wurde vor ihren Augen geköpft. Das sah jetzt auch John! Das sah er genau! Es dauerte ein paar Minuten, dann war diese ungeheuerliche Erinnerung vorüber.
Aus dem Waschbecken, vor dem John stand, floss nunmehr in Strömen das Blut des Gerühmten und Bedauerten, wie John zu sehen und zu fühlen meinte. Mit seinen Händen rührte er in dem Blut, das sich im Waschbecken sammelte. Er wischte mit blutverschmierten Händen durch sein Gesicht. - Die deutsche Geschichte war John, der sie aus Büchern kannte, keine fragenreiche, durcheinander gezerrte, vielleicht verwegen nachgestaltete, vielleicht hübsch ausgestaltete Küche der Erinnerungen, die zu bestimmten Zwecken genutzt werden konnte.
2.
Für John war die deutsche Geschichte vor allem eine in ihrem Schrecken begreifbare Sammlung der kleinen Gequälten-Schicksale, also der individuellen Schicksale von kleinen, vermeintlich unwichtigen Menschen ihrer Zeit, die trotz der erlittenen Qualen ihre Lebensgeschichte über die Jahrhunderte retten konnten - dank all der Unterstützer unter den Historikern und auch dank der anderen, von denen sie geschätzt wurden. Es befanden sich natürlich auch besonders fähige Individualisten unter ihnen, diesen kleinen … Menschen. Sie hatten eventuell Erfolg.
Aber der überwiegende Teil der einfachen, armen Menschen, die unter der Herrschaft der höchsten Gesellschaftsklasse litten, war nur dazu fähig, sich selbst zu erhalten. Dieses Leben/Überleben war allerdings in jenen Zeiten durchaus viel.
Die historische Gestalt, um die es hier geht, nämlich Thomas Münzer, erstand aus der untersten Gesellschaftsklasse - als junger Mensch war er recht gebildet, konnte schreiben, lesen, Geschichte und ihre Prozesse verstehen (zudem Mädchen schwängern und mit hochfliegenden Plänen, die sehr individuell waren, schwanger gehen). So entwickelte er sich zu einer Persönlichkeit von Rang.
Von den Erfolgreichen waren manche dazu fähig, mit einiger Fortune, vor allem mit wirtschaftlicher oder/und sozialer Macht Bedeutsames zu vollbringen. Sie waren Menschen, die einen wesentlichen gestalterischen Einfluss auf ihre eigene Lebensführung besaßen. Sie waren eben Menschen, die nicht nur arbeiteten, um leben und überleben zu können. Und denen es eventuell sogar oblag, viele andere Menschen positiv oder negativ zu beeinflussen. Als gewachsene Persönlichkeiten, die im Laufe ihres Lebens eine nunmehr gesicherte und ausbaufähige Machtstellung hatten, hielten sie alles, was sie besaßen und taten, für legitim.
Das gefährdete Menschen, die gegen die unterdrückerische Herrschaft von Adel und Bürgertum aufstanden: insbesondere die Bauern. Die Erfolgreichen (die sozialen Aufsteiger) standen schließlich vorwiegend an der Seite des Adels als der höchsten Klasse und an der Seite der Geschlechter der Patrizier als den Angehörigen der Geldelite. Reichtum, Macht und sozialer Status prägten die soziale Wahrnehmung der Menschen, die zum Adel (jedenfalls zu dem hohen Adel) und zur Geldelite gehörten.
Die Zugehörigkeit zur höchsten Klasse der Gesellschaft war ihnen allen mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit – ganz besonders aber für den hohen Adel! Jegliches Zweifeln an, jegliches Grübeln über die Klassenzugehörigkeit wäre den weitaus meisten dieser Menschen absurd erschienen.
Terrorismus von Seiten der Bauern-Aufständischen?
Was als Terrorismus zu bezeichnen ist, war zu Thomas Münzers Lebzeiten und innerhalb seines Einflussbereichs, so darf man heute annehmen, zunehmend von denen verursacht oder mit verursacht, die im Bauernkrieg gegen die Bauern vorgingen, weil sie ihre Feinde, eben diese Bauern, nicht einzudämmen oder gar zu vernichten wussten. Sie terrorisierten die Bauern und die anderen kleinen Leute, forderten von ihnen ganz selbstverständlich Unterwerfung. Ausbeutung war an der Tagesordnung. Sie empörten sich allerdings, wenn sie bekämpft wurden, ja selber terrorisiert wurden. Jeglicher Terror ist – es muss gesagt werden – ein übles Spinnrad der Geschichte, welches von negativen individuellen Bestrebungen auf Grund von materiellen, politischen und religiösen Neigungen und Interessen in Gang gehalten wird.
3.
John lag jetzt auf seinem Bett im Hotel und sinnierte. So manchen Geschichtskurs hatte er in seinem Schulleben, aber auch später, verpasst. Er hätte jede Möglichkeit, irgendwo teilzunehmen, wahrnehmen sollen, dachte er nun verärgert und wälzte sich mit seinem Buch auf dem Bett zur Seite. Immer noch war es das Buch zu Thomas Münzer, was er las. Auf einmal platzte Johns Freundin Gabriele ins Hotelzimmer, sie wollte beschlafen werden. Und forderte ihn dazu lautstark auf, indem sie ihn anbrüllte, ihm das Buch aus den Händen riss. Jedoch blieb er liegen, missbilligend starrte er Gabriele an, die im Gesicht errötete.
„Ich habe jetzt Appetit, kapiert!“ brüllte sie hemmungslos. John schüttelte seinen Kopf und nahm wieder, ziemlich ruhig übrigens, sein Buch zur Hand. Dann legte er sich auf seinen Bauch, - hinter ihm zeterte Gabriele. Sie, eine recht ansehnliche Person von 25 Jahren, schlug ihm dann mit ihren Fäusten auf den Rücken, zerrte anschließend an seinem rot-schwarz gemusterten Oberhemd, woraufhin er sich mit einigen wütenden Schmährufen gegen sie zur Wehr setzte. Das schreckte Gabriele aber nicht ab.
„Wenn du nicht sofort kommst!“ drohte sie ihm dann, „dann verrate ich dich an Müller-Mecker!“
„Ach ja!“ reagierte John, und er drehte sich kurz nach Gabriele um. Was meinte sie bloß damit? Wer war Müller-Mecker? Der Hochschullehrer? John hatte sich bis jetzt seiner Leidenschaft für die Geschichte und diesen Thomas Münzer hingegeben: Jetzt musste sie, Gabriele, erotisches Interesse und Leidenschaft von ihm erwarten.
„Du Geschichtsnarr!“ warf sie ihm entgegen. Er hing aber wieder über dem Buch und lächelte vor sich hin. Die Freundin ließ sich das nicht bieten, das Lächeln hatte sie gesehen, und so schwang sie eines der Lineale aus Alu, die auf dem Boden des Hotelzimmers lagen, gegen John, der überrascht vom Bett auffuhr.
„Was soll denn das??“ fragte er mit Entsetzen in seinen Augen. Dann versuchte er gleich wieder in sein Buch zu steigen, was misslang. Gabriele schrie empört auf, warf sich mit dem Lineal schlagend auf ihren Freund. Solche Attacken auf seine Studierruhe gewöhnt, wich er ihren Schlägen gekonnt aus. John wälzte sich nunmehr an die mit Brettern verschlagene Wand des Hotelzimmers, wo ein Hirschgeweih hing, dem er, trotz der Attacke Gabrieles vertieft denkend, auch jetzt gerne mal einen schüchternen Seitenblick widmete. Er musste studieren!
Gabriele streifte mit einem Schlag das Geweih, wonach sie in die Laken des Bettes fiel. John wälzte sich weit von ihr weg, das Buch nicht aus der Hand legend. Seine Anwandlungen in Bezug auf Gewalt wusste er im Gegensatz zu Gabriele bestens zu kontrollieren, auch jetzt blieb er ziemlich gelassen. Sofort konzentrierte er sich wieder auf die Münzer-Biografie.
Geschichte war für Gabriele eben eine uninteressante Sache! Ohne sie konnte sie prima leben, mit ihrem Freund wollte sie aber doch leben.
Sie meinte, sich für alle kommenden Tage und Nächte etwas ausdenken zu müssen, damit er nicht so lange lesen würde, wenn sie ihn nötig hatte. Wie man weiß, sind die Stunden vor dem Einschlafen am späteren Abend ganz wichtig. Aber möglicherweise unkundig in solchen Angelegenheiten, zog John seine eigenen sexuellen Begierden derzeit nicht einmal in Erwägung. Mit Siebzehn war er ein Historiker! In diesem Alter?
Kay Ganahl
Copyright by Kay Ganahl 2010.
All rights reserved.
John lag auf dem Bett und las in seinem Buch. Das braune Oberbett hatte er zur Seite geschoben. Im Licht einer antik anmutenden Nachttischlampe konnte er gut lesen. Er war zwar schon müde, wollte aber zunächst einmal möglichst diszipliniert weiterlesen, weil der Lesestoff ungeheuer interessant war, - er konnte von ihm nicht lassen. Geschichte fesselte ihn neuerdings sehr. Die Lampe leuchtete John den Weg durch einen Abschnitt der deutschen Geschichte, der bei den Leuten, die ihn meistens umgaben, nicht sehr bekannt war. Um so interessanter fand John ihn: keine Frage, dieser Führer war kein Führer, den man verachten musste. Längst hatte John aus einem der Bücher, die er über ihn las, ein großes Bild heraus gerissen und zu Hause an die Wand gepinnt. Jawohl, dieser Thomas Münzer lag ihm wirklich …, er war für ihn eine historische Gestalt, die er bewunderte. Immer wenn er in seiner Biografie las, wie auch jetzt, so fühlte John die ganze Geschichte der Menschheit in sich aufbrüllen, Geschichte in ihrer ganzen Bedeutung für die Welt. Seit der Bekanntschaft mit Münzer vergab er sich sein früheres, allzu flüchtiges Denken an Geschichte. Und er ließ diesen Münzer das sein, was er in der Geschichte Deutschlands wahrhaftig war, - dachte, deutete, träumte ihn nicht um, sondern versetzte sich in dessen Lage als religiöser Mensch und politisch sowie militärisch Handelnder zur Zeit Martin Luthers und des deutschen Bauerkriegs.
Dieser Münzer war der wichtigste Führer der Aufständischen, die im deutschen Bauernkrieg die Adelsherrschaft abzuschütteln trachteten. Für den Adel war Münzer ein führender Terrorist, der mit allen Mitteln zu verfolgen, zu ergreifen und gnadenlos zu bestrafen war. Der Prediger Münzer als ein Gebildeter unter den einfachen Bauern, die ja viel mehr als einen Aufstand, nämlich einen großen fürchterlichen Krieg gegen den Adel, die mächtigen Burgherren und Teile des Bürgertums führten, beeindruckte den auf dem Bett die Münzer-Biografie lesenden John sehr.
Am Menschen Münzer kritisierte er aber entschieden, dass er andere Menschen hasste - und diesen Hass zu einem wichtigen politischen und militärischen Handlungsmotiv werden ließ. Die historische Persönlichkeit Thomas Münzer hatte nicht nur eine bewegte Lebensgeschichte, sondern genauso eine Leidensgeschichte, die nachzufühlen des Lesers, also hier und heute Johns Ansinnen sein musste, wenn er Münzers Leben und Wirken begreifen wollte. Münzer durfte für John nicht nur heroisch sein, nein …! Vielmehr musste dieser Bauernführer und religiöse Konkurrent Martin Luthers ein historisches Vorbild sein. Das bedeutete viel mehr als jedes Siegen, Morden und alles andere: Vorbild sein müssen war am wichtigsten – nicht nur für John als den an der deutschen Geschichte interessierten Leser. Allerdings war Thomas Münzers historische Rolle (und damit seine Bedeutung in der deutschen Geschichte) schon zu seinen Lebzeiten umstritten, er war die Hassfigur schlechthin für den Adel, für alle seine politischen Feinde, die ihm auf dem Schlachtfeld unbedingt Niederlagen zufügen wollten – und mussten. Auch heute ist Münzer umstritten bei professionellen Historikern und Kennern der Historie Deutschlands, denn eine historische Persönlichkeit wie er bedarf der eingehenden wissenschaftlichen Analyse. Sicherlich war er ein Mensch, der sich ohne spezifisches Eigeninteresse und persönliches Vorteilsdenken für das Gute im Menschen und in der Gesellschaft engagierte und kämpfte, aber als Anhänger der Wiedertäufer-Bewegung zu den Schwärmern zu zählen war. Letzteres ist ebenfalls an ihm zu kritisieren.
Die Führer des deutschen Adels als politische und militärische Feinde Münzers und seines Bauernheeres dachten natürlich nicht an die Bekämpfung Münzers als Terroristen. Im Grunde sammelten sie sich immer wieder lediglich, um gegen die zu einem mehr oder weniger großen Heer gesammelten einfachen Bauern, die sich ihnen mit Macht und Entschlossenheit in den Weg stellten, zum Morden anzutreten.
John, der noch auf dem Bett lag und las, auf seine spezielle Art engagiert war (als ein Leser von geschichtlichen Stoffen), hielt sich im Vergleich zu Thomas Münzer, der vielleicht kein Held, kein Vorbild, jedoch zumindest einer war, den man getrost rühmen konnte, für völlig unwichtig! Münzer die rühmliche historische Rolle zuzugestehen, das war man ihm geradezu schuldig, dachte John. Er gähnte. Er blickte ins Licht der Nachttischlampe und drohte einzuschlafen.
"Aber ich bin jedenfalls John!" sprach John mit einiger Gelassenheit und kratzte sich am Hinterkopf. Die Hautärztin hatte vor Tagen Pilzbefall auf seiner Kopfhaut diagnostiziert - er wollte das Alleinsein im Hotelzimmer dazu nutzen, um ausgiebig über Münzer zu lesen, aber auch um über sein eigenes kleines Leben nachzudenken. Das hielt er für dringend erforderlich, womit er sicher nicht falsch lag.
John war gerade mühsam vom Bett aufgestanden. Das Münzer-Buch hatte er auf den Nachttisch gelegt - über ihm die fleckige Zimmerdecke, die er anstarrte und am liebsten mit Macht herunter geholt hätte, vor ihm das Waschbecken. Aus dem Wasserhahn tropfte braunes Wasser. Und John stellte mürrisch fest, dass er hier wohl in einer Absteige gelandet war. Dann ging er in die Küchennische, wo er nicht etwa köcheln wollte, wollte vielmehr gedanklich gegen die ihn durchdringenden Grausamkeiten, die ihn peinigten, angehen.
Wahnwitzige blutende Bilder erschienen nämlich seit Wochen immer wieder in seiner Vorstellung. Er musste sie endlich mal bekämpfen! Hier, heute? Jetzt? War das der richtige Zeitpunkt? ---
Dieser Thomas Münzer, den er als gescheiterter Historiker der Geschichte Deutschlands immer noch durchaus verehrte, erschien ihm nun in ganzer Gestalt als der kommende Befreier aller Menschen auf Erden. (!!!) Es war erstaunlich. Mehr als das: Es war unfassbar! Münzer als eine Geistgestalt! Diese Geistgestalt fesselte John auf der Stelle, er erbebte. Und dann starrte John auf den Wasserhahn, aus welchem Blut statt Wasser tropfte.
„Das glaube ich ja nicht!“ stieß John aus. Diese Geistgestalt verschwand jedoch, als sich John wieder nach ihr umdrehte, so schnell wie sie gekommen war. John hatte nicht das Wort an sie richten können. Er blieb vor dem Waschbecken stehen …
Zweifellos war Thomas Münzer einer der ersten bedeutenden Männer, die sich für die geschundene Kreatur, damals den einfachen Bauern, tapfer schlugen. Schließlich für die Führung eines Bauernheeres auf dem Schlachtfeld mit dem Leben bezahlte: Thomas Münzer wurde hingerichtet: um ihn hatte sich der Kreis der Todfeinde gebildet, er wurde vor ihren Augen geköpft. Das sah jetzt auch John! Das sah er genau! Es dauerte ein paar Minuten, dann war diese ungeheuerliche Erinnerung vorüber.
Aus dem Waschbecken, vor dem John stand, floss nunmehr in Strömen das Blut des Gerühmten und Bedauerten, wie John zu sehen und zu fühlen meinte. Mit seinen Händen rührte er in dem Blut, das sich im Waschbecken sammelte. Er wischte mit blutverschmierten Händen durch sein Gesicht. - Die deutsche Geschichte war John, der sie aus Büchern kannte, keine fragenreiche, durcheinander gezerrte, vielleicht verwegen nachgestaltete, vielleicht hübsch ausgestaltete Küche der Erinnerungen, die zu bestimmten Zwecken genutzt werden konnte.
2.
Für John war die deutsche Geschichte vor allem eine in ihrem Schrecken begreifbare Sammlung der kleinen Gequälten-Schicksale, also der individuellen Schicksale von kleinen, vermeintlich unwichtigen Menschen ihrer Zeit, die trotz der erlittenen Qualen ihre Lebensgeschichte über die Jahrhunderte retten konnten - dank all der Unterstützer unter den Historikern und auch dank der anderen, von denen sie geschätzt wurden. Es befanden sich natürlich auch besonders fähige Individualisten unter ihnen, diesen kleinen … Menschen. Sie hatten eventuell Erfolg.
Aber der überwiegende Teil der einfachen, armen Menschen, die unter der Herrschaft der höchsten Gesellschaftsklasse litten, war nur dazu fähig, sich selbst zu erhalten. Dieses Leben/Überleben war allerdings in jenen Zeiten durchaus viel.
Die historische Gestalt, um die es hier geht, nämlich Thomas Münzer, erstand aus der untersten Gesellschaftsklasse - als junger Mensch war er recht gebildet, konnte schreiben, lesen, Geschichte und ihre Prozesse verstehen (zudem Mädchen schwängern und mit hochfliegenden Plänen, die sehr individuell waren, schwanger gehen). So entwickelte er sich zu einer Persönlichkeit von Rang.
Von den Erfolgreichen waren manche dazu fähig, mit einiger Fortune, vor allem mit wirtschaftlicher oder/und sozialer Macht Bedeutsames zu vollbringen. Sie waren Menschen, die einen wesentlichen gestalterischen Einfluss auf ihre eigene Lebensführung besaßen. Sie waren eben Menschen, die nicht nur arbeiteten, um leben und überleben zu können. Und denen es eventuell sogar oblag, viele andere Menschen positiv oder negativ zu beeinflussen. Als gewachsene Persönlichkeiten, die im Laufe ihres Lebens eine nunmehr gesicherte und ausbaufähige Machtstellung hatten, hielten sie alles, was sie besaßen und taten, für legitim.
Das gefährdete Menschen, die gegen die unterdrückerische Herrschaft von Adel und Bürgertum aufstanden: insbesondere die Bauern. Die Erfolgreichen (die sozialen Aufsteiger) standen schließlich vorwiegend an der Seite des Adels als der höchsten Klasse und an der Seite der Geschlechter der Patrizier als den Angehörigen der Geldelite. Reichtum, Macht und sozialer Status prägten die soziale Wahrnehmung der Menschen, die zum Adel (jedenfalls zu dem hohen Adel) und zur Geldelite gehörten.
Die Zugehörigkeit zur höchsten Klasse der Gesellschaft war ihnen allen mehr oder weniger eine Selbstverständlichkeit – ganz besonders aber für den hohen Adel! Jegliches Zweifeln an, jegliches Grübeln über die Klassenzugehörigkeit wäre den weitaus meisten dieser Menschen absurd erschienen.
Terrorismus von Seiten der Bauern-Aufständischen?
Was als Terrorismus zu bezeichnen ist, war zu Thomas Münzers Lebzeiten und innerhalb seines Einflussbereichs, so darf man heute annehmen, zunehmend von denen verursacht oder mit verursacht, die im Bauernkrieg gegen die Bauern vorgingen, weil sie ihre Feinde, eben diese Bauern, nicht einzudämmen oder gar zu vernichten wussten. Sie terrorisierten die Bauern und die anderen kleinen Leute, forderten von ihnen ganz selbstverständlich Unterwerfung. Ausbeutung war an der Tagesordnung. Sie empörten sich allerdings, wenn sie bekämpft wurden, ja selber terrorisiert wurden. Jeglicher Terror ist – es muss gesagt werden – ein übles Spinnrad der Geschichte, welches von negativen individuellen Bestrebungen auf Grund von materiellen, politischen und religiösen Neigungen und Interessen in Gang gehalten wird.
3.
John lag jetzt auf seinem Bett im Hotel und sinnierte. So manchen Geschichtskurs hatte er in seinem Schulleben, aber auch später, verpasst. Er hätte jede Möglichkeit, irgendwo teilzunehmen, wahrnehmen sollen, dachte er nun verärgert und wälzte sich mit seinem Buch auf dem Bett zur Seite. Immer noch war es das Buch zu Thomas Münzer, was er las. Auf einmal platzte Johns Freundin Gabriele ins Hotelzimmer, sie wollte beschlafen werden. Und forderte ihn dazu lautstark auf, indem sie ihn anbrüllte, ihm das Buch aus den Händen riss. Jedoch blieb er liegen, missbilligend starrte er Gabriele an, die im Gesicht errötete.
„Ich habe jetzt Appetit, kapiert!“ brüllte sie hemmungslos. John schüttelte seinen Kopf und nahm wieder, ziemlich ruhig übrigens, sein Buch zur Hand. Dann legte er sich auf seinen Bauch, - hinter ihm zeterte Gabriele. Sie, eine recht ansehnliche Person von 25 Jahren, schlug ihm dann mit ihren Fäusten auf den Rücken, zerrte anschließend an seinem rot-schwarz gemusterten Oberhemd, woraufhin er sich mit einigen wütenden Schmährufen gegen sie zur Wehr setzte. Das schreckte Gabriele aber nicht ab.
„Wenn du nicht sofort kommst!“ drohte sie ihm dann, „dann verrate ich dich an Müller-Mecker!“
„Ach ja!“ reagierte John, und er drehte sich kurz nach Gabriele um. Was meinte sie bloß damit? Wer war Müller-Mecker? Der Hochschullehrer? John hatte sich bis jetzt seiner Leidenschaft für die Geschichte und diesen Thomas Münzer hingegeben: Jetzt musste sie, Gabriele, erotisches Interesse und Leidenschaft von ihm erwarten.
„Du Geschichtsnarr!“ warf sie ihm entgegen. Er hing aber wieder über dem Buch und lächelte vor sich hin. Die Freundin ließ sich das nicht bieten, das Lächeln hatte sie gesehen, und so schwang sie eines der Lineale aus Alu, die auf dem Boden des Hotelzimmers lagen, gegen John, der überrascht vom Bett auffuhr.
„Was soll denn das??“ fragte er mit Entsetzen in seinen Augen. Dann versuchte er gleich wieder in sein Buch zu steigen, was misslang. Gabriele schrie empört auf, warf sich mit dem Lineal schlagend auf ihren Freund. Solche Attacken auf seine Studierruhe gewöhnt, wich er ihren Schlägen gekonnt aus. John wälzte sich nunmehr an die mit Brettern verschlagene Wand des Hotelzimmers, wo ein Hirschgeweih hing, dem er, trotz der Attacke Gabrieles vertieft denkend, auch jetzt gerne mal einen schüchternen Seitenblick widmete. Er musste studieren!
Gabriele streifte mit einem Schlag das Geweih, wonach sie in die Laken des Bettes fiel. John wälzte sich weit von ihr weg, das Buch nicht aus der Hand legend. Seine Anwandlungen in Bezug auf Gewalt wusste er im Gegensatz zu Gabriele bestens zu kontrollieren, auch jetzt blieb er ziemlich gelassen. Sofort konzentrierte er sich wieder auf die Münzer-Biografie.
Geschichte war für Gabriele eben eine uninteressante Sache! Ohne sie konnte sie prima leben, mit ihrem Freund wollte sie aber doch leben.
Sie meinte, sich für alle kommenden Tage und Nächte etwas ausdenken zu müssen, damit er nicht so lange lesen würde, wenn sie ihn nötig hatte. Wie man weiß, sind die Stunden vor dem Einschlafen am späteren Abend ganz wichtig. Aber möglicherweise unkundig in solchen Angelegenheiten, zog John seine eigenen sexuellen Begierden derzeit nicht einmal in Erwägung. Mit Siebzehn war er ein Historiker! In diesem Alter?
Kay Ganahl
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