Manuskripte im Büro

Erzählung zum Thema Arbeit und Beruf

von  KayGanahl

A.

Die Zeiten verlangten nach praktischen und preiswerten Lösungen, auch in betriebswirtschaftlicher Hinsicht. Für Herzerich lief es zuletzt weder optimal noch suboptimal, wohl eher ein bisschen unberechenbar schwankend. Immerhin: seiner Fabrik ging es noch um einiges besser als vielen Konkurrenten in der Branche.
Zum Frohlocken sah Herzerich allerdings keinen Grund.

Falls irgendjemand Herzerichs schriftstellerischen Manuskripte stahl, so musste es spezielle Gründe dafür geben, die seiner Ansicht nach im Absurden zu suchen waren. Vielleicht wollte sogar irgendjemand den Erpresser spielen. Oder, dies war auch möglich, irgendein geistig Fehlgeleiteter dachte an die theoretischen Möglichkeiten des Literaten als eines erfolgreichen Freiberuflers und hatte die ökonomische Verwertung gerade dieser paar Manuskripte im Auge? Bemerkenswert weltfremd wäre dies gedacht.
Der Bonbonfabrikant und Schriftsteller Herzerich, 35 Jahre alt und von bestem Aussehen, körperlich und geistig belastungsfähig, schlug mit seinen Beinen aus, als er nachmittags gegen 17 Uhr an seinem von Geschäftsunterlagen überhäuften Büroschreibtisch saß.

Er gab für sein Leben gern den Schriftsteller; die Manuskripte, die er jetzt als entwendet oder verloren betrachtete, hatte er im vergangenen Jahr binnen ein paar Monaten während einer Phase beruflicher Minimal-Auslastung mit wahrer Leidenschaft verfasst. Sie waren ihm lieb und teuer. Hier saß er einfach und grübelte über sein aktuelles Literatenschicksal nach. War dies ein Verlust, den er hinnehmen musste, … verschmerzen konnte? Und den andrängenden, nahezu depressiven Gedanken und Gefühlen musste er jetzt bewusst entgegenwirken, so gut es ihm möglich war. Noch war er psychisch stabil genug, dachte ganz praktisch über den Verbleib seiner Manuskripte und alle Möglichkeiten, die mit ihm im Zusammenhang standen, nach. „So leicht bin ich nicht unterzukriegen,“ meinte er, von sich selbst überzeugt. Er hatte sich ja sowieso schon sein Leben lang zusammenreißen müssen, um bei fremden Menschen nicht den Eindruck von Unterlegenheit zu erwecken. Das war ihm meist schwer gefallen.

Er stand auf. Blickte sich in seinem Büro um. Seine Sekretärin Lotze – eine 1,70 Meter große Brünette in Sandalen - hatte, was sonst, keine Ahnung, wo die Manuskripte sein konnten.
Alsbald den Manuskripte-Dieb, wenn sie denn gestohlen worden waren, persönlich aufzuspüren und diesen der Rechtsprechung des Staates zu unterwerfen war nach all dem Grübeln am Schreibtisch von jetzt an seine feste Absicht.
„Ich muss handeln!“ entfuhr es ihm denn auch.
Er gierte sogleich danach, vor wilder Entschlossenheit aus seinem Büro zu rennen, steckte jedoch in seiner Absicht fest. Erst zündete er sich noch eine Zigarette an. Als er kurz darauf aus dem Bürofester blickte, da sah er nur den Autoverkehr. Die ganze Dramatik seines Literatenschicksals spielte sich in seinem Kopf ab. Die Polizei hatte er übrigens nicht benachrichtigt.
Keine Frage, Unternehmer Herzerich war einiger Phantasie mächtig, so dass er diverse praktische Privatmaßnahmen entwarf … Sekretärin Lotze lärmte während der Durchführung von Denkoperationen zu seinem Leidwesen weiter wie üblich, dann wurde es ihm wirklich zu bunt, so dass er die Bürotür aufwarf und zur Bürotür heraus rannte, während er sich hektisch umblickte und nach allen möglichen Verantwortlichkeiten für den Lärm Ausschau hielt. Dieses Verhalten zeichnete ihn aus: absolut alles mit größtem Engagement! Stets gab er alles (oder versuchte dies zumindest!).
Nun stand er erst einmal mitten im Vorzimmer seines Büros mit offenem Mund, schwerem Atem, seinen angelegten Lauschern und auch geweiteten Pupillen. Sekretärin Lotze, welcher sich kein Wort entrang, starrte ihn erstaunt an.

„Was ist los, Chef?“ kam es dann doch noch. Herzerich bemerkte auf ihrem Antlitz eine Träne. Aber er war doch wohl derjenige, der getröstet werden musste. Nun denn: Unerklärliches, um nicht zu sagen Unheimliches, … die Untaten von Wahnsinnigen und Tolldreisten, auch den Kriminellen der geheimen Dienste feindlicher Mächte haben ihm thematisch schon immer zugesagt. Es galt ihm als Interessantes. Heute erfuhr er, was es hieß, Probleme von Belang zu haben. Interessante Probleme!
Seine an sich so zuverlässige Sekretärin hatte sich allenthalben, was er erinnern konnte, zuletzt etwas verdächtig verhalten. Das konnte er angesichts der Umstände nicht auf sich beruhen lassen. Er war ihr Chef; war außerdem damals auch ihr Einsteller gewesen. Den Gedanken, mit ihrer Einstellung einen Fehler gemacht zu haben, konnte er kaum ertragen. War sie eine Diebin? Vielleicht. Noch konnte er ihr und anderen nichts nachweisen. Aber auf jeden Fall würde er sie zur Verantwortung ziehen, sofern sie gestohlen (oder sich z. B. einen Scherz erlaubt) hatte.
Logisch war, dass er sie jetzt ganz besonders beobachten musste, um ihr etwas nachweisen zu können.


B.

Der Bonbonfabrikant Herzerich befand sich an dem gleichen regnerischen und windigen Freitag nach Verlassen seines Büros im Freien. Unmittelbar an der Straße, wo meistens starker Feierabendverkehr herrschte, hing er jetzt seinen Gedanken nach. Eigentlich hatte er genug nachgedacht.
Der Regenschirm wurde von ihm geöffnet. Viele Autos rasten an ihm vorüber, kein Mensch würdigte ihn eines Blickes.
Mit Mühe hielt er seinen Regenschirm dem ersten kräftigen Windstoß entgegen. Jetzt war ihm auch noch kalt. Es war höllisch hier -  das Rot der Ampeln wurde missachtet, Fußgänger mussten flüchten gehen. In seiner düsteren Stimmung nahm er das lediglich zur Kenntnis, mehr nicht.
Dann schob er von dort ruhig und gelassen ab. Bald erreichte er einen öffentlichen Platz, wo er sich auf eine einsame Bank setzte, die am Rande des Platzes stand. Ungeduldig saß er hier nahe einigen spielenden Grundschulkindern; Auge um Auge, Zahn um Zahn, Manu um Manu ... es war ihm peinlich, so denken, so vorgehen zu müssen. Wieder verfluchte er innerlich (wie schon die ganze Zeit auf dem Weg durch das Freie) den Tag, da er seine wertvollen Manuskripte in seinem Büro untergebracht hatte, weil er das für sicher hielt. Die verdächtige Sekretärin Lotze überschüttete er jetzt in ihrer Abwesenheit mit lauten Schmähungen. Ob das jemand hörte?

Er war aufgestanden und befand sich wieder am Straßenrand: ...  hatte gerade noch ausweichen können: ein lautes Reifenquietschen. Geschrei aus dem Auto heraus. Er guckte aber nur dem flüchtenden Auto hinterher - jetzt wusste er allerdings genau: aufpassen, mit gespannter Aufmerksamkeit geschickt allem ausweichen; stets mit großer Voraussicht erkennen, was wo wie gefährlich werden könnte. Autonummern aufschreiben! Es war ihm gleich, ob ein Kfz-Halter wirklich zur Rechenschaft gezogen werden konnte, denn es ging ihm um das Prinzip des besten Handelns.
Wen suchte er denn überhaupt, verdammt? Gute Frage. Und vor allem hier, an der Straße, wo es wild herging? Es war tatsächlich ein seltsames Verhalten, was er an den Tag legte, und er sprach sich selbst Mut zu. Eine metallene Flasche mit einem kuriosen Flaschenhals, voll mit einem köstlichen Getränk, das er an einem Kiosk gekauft hatte, führte er sich jetzt zu Gemüte.
Die wilden Autos da vorne fanden nur noch seine Empörung.

Handlungsmöglichkeiten, ganz praktische, gab es zuhauf. Sie mussten ergriffen werden, aber Bonbonfabrikant Herzerich war vermutlich zu wenig praktisch orientiert, auch zu wenig clever, um sofort Tatkraft zu zeigen.
Fehlte nur noch, dass er zu weinen anfing. Es pladderte aus dem herrisch-abstoßenden Blaudunkel eines heftig rebellierenden Himmels. Wütend starrte er in diesen Himmel. Er war, selbstkritisch betrachtet, nur so ein Boss. Die Literatur war irgendwie zu gut für ihn, ein Hort der Kreativität, für den er vielleicht nicht geeignet war.
Er war Eigentümer dieser Bonbonfabrik, daran war nicht zu rütteln. Wer hätte denn auch daran rütteln wollen? Allen ging es gut. Allen ging es gut, glaubte er! Wieso hätte irgendjemand ernsthaft seine literarischen Schöpfungen stehlen sollen? Wer sollte ihm ernsthaft schaden wollen? Er hielt sich für einen guten Menschen.
Seine Suche musste er bald wieder fortsetzen. 

Dann war er, am Abend, in einer Gasse der Innenstadt verschwunden. Es eilte. Er musste den Weg zu seinem Bett in der Villa finden, die er sein eigen nennen durfte, denn morgen war wieder ein Arbeitstag! Ja, es eilte jetzt sehr! Ein Fußgänger nahebei sah ihn voller Erstaunen an, könnte sein, dass dieser ihn für einen entsprungenen Häftling hielt, der ungeschickt vorging.
Herzerich fiel derzeit jedenfalls negativ auf; während seiner vielen Vorwärtsbewegungen in der Innenstadt kam er sich ein bisschen dumm vor, vielleicht würde es ihm sehr bald viel zu dumm vorkommen. Außerdem war er erschöpft. Das schnelle Gehen fiel ihm immer schwerer.
Je länger er zu Fuß weiterging, desto deutlicher sichtbar wurde das müde Grinsen, das sich in seinem Gesicht allmählich bildete, ein müdes Grinsen der Teilnahmslosigkeit an der ihn umgebenden Welt, diesen Menschen, die ihm wie Masken erschienen. Sie wollte er herunterreißen. Immerhin kam er vorwärts, wenn er auch kein konkretes Ziel hatte, außer zu Hause in sein warmes Bett zu fallen.
Endlich blieb Herzerich mitten in einer engen, stillen, dunklen Gasse stehen. Er senkte den Kopf, streichelte sein feuchtes Kinn, glitt kurzzeitig in Gedankenlosigkeit hinab. Der fremde Fußgänger, dem er vorhin aufgefallen war, fand sich überraschend an seiner Seite – er blickte Herzerich fragend an.
Der Regen hatte immer noch nicht aufgehört. Herzerich spannte dann seinen Schirm zum Schutz vor dem lästigen Nass gelassen auf, was den Fußgänger etwas irritierte; seine Augenlider zuckten.
Diese Gasse war besonders eng, war auch ausgesprochen lang und hoch - mit architektonisch hochwertigen Hauswänden; zudem versehen mit kleinen, künstlerisch verzierten Balkonen.

Dahinter zu kommen, warum er sich ausgerechnet hier aufhielt, galt ihm in diesem Augenblick als eine Herausforderung. Alles wird gut? Alles wird schlechter als es bislang ist? Er wagte sich diese beiden Fragen kaum zu stellen. Dachte aber, und er glaubte es ganz fest, dass das Gute im Menschen grundsätzlich in jedermann vorhanden ist.
Und er blickte sich um, sah den einen fremden Fußgänger nicht mehr. Es wurde ... sehr kompliziert mit ihm und seinem Vorhaben, eventuell doch noch seine Manuskripte zu finden, die auf unerfindliche Weise fortgekommen waren. -
Sekretärin Lotze begrüßte ihn fröhlich in seiner Haustür, als er seinen Irrweg beendet hatte. Sie hatte ja eine Vertrauensstellung, weshalb sie private Schlüssel ihres Chefs in Verwahrung hatte. Des überraschten Herzerich Lächeln war zunächst nur sehr bemüht, aber es öffnete sich zu einem Lächeln aufrichtigen Wohlgefühls, als ihm von ihr mitgeteilt wurde, dass sich die Manuskripte in dem Müllcontainer vor seiner Villa wiedergefunden hatten.


Ende

Kay Ganahl
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