Étrangère

Roman zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

„Was hat ihm sein Vater angetan?“, frage ich endlich. Es scheint, als sei diese widerliche Familiengeschichte ein Teil des Rätsels, das wir zusammen setzen müssen. „Fang mit den Ecken an!“, hatte mein Vater immer gesagt, wenn ich mir als Kind ein Puzzle genommen hatte und nicht weiterwusste. Ich habe immer die mit viel zu vielen Teilen puzzeln wollen – und meistens nach der Hälfte aufgegeben. Vermutlich habe ich nicht mal einen Bruchteil aller Puzzles, die ich als Kind angefangen habe, beendet – diese Arbeit mussten meistens meine Eltern für mich machen.
Madame Fournier sammelt sich einen Augenblick, sieht ein weiteres Mal aus dem Fenster. Als könnte sie Lucien dort draußen irgendwo sehen.
„Er war ein harter Mann. Zwanzig Jahre bei der Fremdenlegion – La Legion Étrangère. In Luciens jungen Jahren war er oft große Teile des Jahres nicht da. Im Ausland, oder in Kasernen in Frankreich. Aber in den kurzen Momenten, die er bei seiner Familie blieb, machte er ihnen das Leben zur Hölle.“
„Inwiefern?“
„Der Mann war ein Schläger und Sadist. Geschlagen hat er vor allem Sandrine, Luciens Mutter – meine Nichte. Den Jungen nicht – den hat er auf andere Weise gequält. Hat in ihm immer seinen kleinen Engel gesehen, und ihn nach seinem eigenen Bild formen wollen.“
„Hat Lucien sich gewehrt?“
Die alte Dame zuckt mit den Schultern, setzt sich anders hin. „Er hat es versucht. Wenn Francois zu Hause war, ist er oft geflohen. Zu mir oder auf die Straße. Aber er hat immer ein schlechtes Gewissen gehabt – weil er seine Mutter im Stich lässt. Manchmal hat Francois sie gegen ihren Willen genommen – vor den Augen des Jungen.“ Sie schüttelt den Kopf, als kann sie es immer noch nicht fassen. Ihr Blick ist irgendwo auf den Boden, zwischen meine Füße gerichtet. Mit müder Stimme erzählt sie weiter. „Ich weiß nicht, warum sie bei ihm geblieben ist. Er wollte sie brechen, sie unterwerfen. Aber dafür war sie zu stark. Zu stolz.“
Sie sieht mich an. In ihren alten Augen schimmern Tränen. „Dabei hat sie ihm nie etwas getan. Sie hat ihn nicht geliebt – aber alles für die Familie getan. Sie wollte Lucien eine gute Mutter sein.“
„Wann ist sie gestorben? Und wie?“
„Er hat sie geschwängert. Oft. Sie hatte sicher ein halbes Dutzend Fehlgeburten über die Jahre. Wir haben immer vermutet, dass sie nachgeholfen hat – sie wollte ihm nicht noch ein weiteres Kind ausliefern. Irgendwann ist ihr ein Kind geblieben, und sie hat die Schwangerschaft tatsächlich unbeschadet überstanden. Aber die Geburt des Kindes, ein kleiner Bruder für Lucien, hat sie umgebracht. Das Kind ist ebenfalls gestorben.“
„Das heißt, Lucien war mit seinem Vater alleine?“
Sie nickt, nimmt noch einen Schluck von dem längst erkalteten Tee. „Jedenfalls theoretisch. Der Junge ist nach dem Tod von Sandrine kaum noch zu Hause gewesen. Hat sich versteckt – überall dort, wo ihn der Vater nicht finden konnte. Zu mir ist er kaum noch gekommen. Meistens ist Francois hier als erstes aufgetaucht. Hat herumgeschrien und alle auf der Etage aufgeschreckt. Er war ein gefährlicher Mann.“ Sie sieht uns beide nacheinander eindringlich an, als müsse sie uns diesen Umstand unbedingt einschärfen.
Ich hole Luft, habe Angst, die nächste Frage zu stellen. „Glauben Sie, dass sein Vater Lucien missbraucht hat?“
Entgegen meiner Erwartung antwortet sie nicht sofort. Ich hatte mit einem rigorosen Kopfschütteln, der absoluten Verneinung gerechnet. Endlich sagt sie: „Ich glaube es nicht. Nicht, weil ich ihm eine solche Untat nicht zutrauen würde. Sie müssen mir glauben – er war ein furchtbarer Mensch. Ein Monster, wie ich noch nie eins gesehen habe.“ Es schien sie unwillkürlich zu schütteln. „Aber er hat Lucien anders gebraucht. Aus ihm eine Engelsgestalt gemacht. Vielleicht war sein Sohn wirklich das Einzige, was diesen Menschen aus dem Strudel seiner eigenen Hölle herausgehalten hat. Ich glaube, er konnte sich nicht leisten, ihn zu beschmutzen. Verstehen Sie, was ich sagen will?“
Ich nicke langsam. Versuche alles zu verdauen, was sie uns erzählt. Es fällt mir schwer.
Sie zuckt mit den Achseln. „Sicher sein kann ich mir natürlich nicht. Aber Lucien hat mir, so viel ich weiß, immer alles erzählt, was in dieser Familie vor sich ging. Ich hatte jahrelang Schlafstörungen. Habe sie manchmal noch. Ich schätze, er hätte sich mi anvertraut, wenn so etwas vorgefallen wäre.“
„Wie alt war Lucien, als seine Mutter starb?“
Madame Fournier braucht einen Moment, um nachzudenken. „Dreizehn oder vierzehn. Ich bin nicht ganz sicher. Mit fünfzehn ist er verschwunden.“ Ihre Stimme wird zum Ende hin leiser, als sei sie sich nicht sicher. Ich korrigiere sie nicht – laut Broussard war Tiger sechszehn, als er nach Deutschland gegangen ist.
„Direkt nach dem Tod seines Vaters.“
„Direkt nach ihn Lucien ihn umgebracht hat, ja!“ Sie funkelt mich an, besteht auf die Tatsache. Ich nehme an, für sie ist der Vatermord so etwas wie die einzig mögliche Befreiung des Kindes. Und frage mich, ob ich nur deswegen nicht daran glaube, dass der junge Tiger seinen Vater getötet hat, weil er damit auch zum potentiellen Mörder von Luisa wird. Einer Tatsache, der ich weiterhin nicht ins Gesicht sehen will. Kann.
Ich lenke mit einem Nicken ein. Es hat keinen Sinn, sie gegen uns aufzubringen.
„Woher konnte Lucien so gut Deutsch? Und Englisch?“, schiebe ich nach einem Moment hinterher.
„Francois hatte eine Begabung für Sprachen. Die hat er an seinen Sohn weitergegeben. Ihm war wichtig, dass der Junge sich in der Welt bewegen kann.“ Sie zuckt mit den Schultern. „Wahrscheinlich hat er gehofft, dass Lucien in seine Fußstapfen tritt. Ebenfalls in aller Herren Länder Menschen für Geld umbringt.“ Ich erwidere nichts.
„Was wirft man ihm vor?“, will sie mit leiser Stimme wissen. Jetzt ist sie es, die sich vor der Antwort fürchtet.
Dirty wirft mir einen schnellen Blick zu. Will wissen, ob ich das packe. Ich nicke - mir selbst zu ebenso wie um ihm zu zeigen, dass alles in Ordnung ist. Ich stehe das durch.
Kurz umreiße ich, wie ich ihn mit zu mir nach Hause genommen habe - meine Stimme stockt bei der Schilderung nur kurz. Mit weißen Fingern klammert sich meine Seele fest, als eine Welle aus Verzweiflung, Schuld und Trauer sie wegzuspülen droht. Ich atme durch, halte mich aufrecht.
„Am nächsten Tag hat man die Leiche meiner Freundin gefunden. Von Lucien fehlt seitdem jede Spur.“ Mein Blick ist fest an ihren geheftet, als könnte ich mich auf diese Weise stützen. Wieder erwarte ich eine Verneinung, ein Kopfschütteln, das nicht kommt. Stattdessen zieht sie behutsam ihre Hand unter meiner hervor, die immer noch auf dem Tisch liegt. Streicht mir über die Wange, hält mich. Ihre Handfläche liegt auf, der Daumen wandert sanft auf und ab. Verschmiert meine Tränen, die mir unablässig das Gesicht benetzen und meine Sicht trüben.
„Wen auch immer für deinen unsäglichen Schmerz, deinen Verlust verantwortlich ist – es ist nicht mein Lucien. Niemals.“ Und endlich bewegt sie sanft den Kopf hin und her, verneint. Aber ohne Kraft – als bräuchte sie die nicht. Als gäbe es keinen Zweifel daran, dass ihr Großneffe unschuldig ist. Ich würde ihr so gerne glauben. Langsam zieht sie ihre Hand zurück. Lässt mich die Wärme auf meiner Wange vermissen.
Mit einem Scharren meines Stuhles schiebe ich mich aus dem Spalt am Tisch, stehe auf. Dirty zögert einen Augenblick, tut es mir dann gleich.
„Vielen Dank, Madame Fournier, dass Sie mit uns geredet haben“, sage ich ihr in meinem holprigen Französisch. Sie lächelt, nickt. Weiß die Geste zu schätzen. Sie erhebt sich ebenfalls.
Als ich ihr die Hand reichen will, ignoriert sie sie und tritt an mich heran. Umarmt mich. Etwas hilflos stehe ich da und lasse es geschehen. Weiß nicht genau, wie ich reagieren soll und habe Angst, mich einzulassen. Wieder auseinander zu brechen. Bevor das passieren kann, lässt sie mich los. Dreht sich zu Dirty um, dem sie die Hand anbietet.
Mit einer Geste lenkt sie uns in den schmalen Flur, ich gehe voraus. Schiebe mich durch den Türspalt, warte draußen auf Dirty und die Madame, die im Rahmen stehen bleibt.
Mit leiser Stimme sagt sie: „Viel Glück! Und richten Sie Lucien einen lieben Gruß von mir aus, wenn Sie ihn sehen. Er hat für immer einen Platz in meinem Herzen – egal, was geschieht.“
Ich  nicke, verspreche es ihr. Plötzlich fällt mir noch etwas ein. „Hat Lucien Schach gespielt?“ Sie lächelt milde. „Nicht mit mir. Ich wüsste nichts davon. Nein.“
Einen Augenblick später gehen wir auf die Außentreppe zu, die uns nach unten bringt. Weiter auf der Suche nach Tiger sind wir nicht, und in mir vermengen sich unterschiedliche Gefühle. Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Weiß immer noch nicht, wer Tiger wirklich ist. Lucien ‚Le Tigre‘ Lefevre.

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Kommentare zu diesem Text


 Isaban (02.06.10)
Geschickt gemacht. Hier wird Lucien, ohne dass er selbst zu Wort kommen müsste, nur durch Andeutungen sehr viel Tiefe verliehen, es wird eine tragische Gestalt gebastelt, die neugierig macht auf den Tiger, auf den Mann, der aus dem unglücklichen Kind geworden ist.

Liebe Grüße,

Sabine

 Mutter meinte dazu am 02.06.10:
Danke sehr - das ist ein schöner Kommentar, der mich sehr zufrieden macht.

M.
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