Lila - Die Rettung

Roman zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

Tibao lag lange Zeit wach und dachte an den Rest der Gruppe, der gerade für Sua weiter südlich nach den anderen Steinen suchte. Für einen kurzen Moment überlegte Tibao sogar, den Wagen zurückzulassen, um zu Pferde eine schnellere Heimreise antreten zu können. Aber selbst wenn sie das Gewicht des Geldes außer Acht ließen, würde sich Ferron kaum von seiner Schmiede trennen.
Mit einem Seufzer drehte er sich auf die andere Seite, als er ein vertrautes Geräusch vernahm. In dem lichten Unterholz hatte sich der Hund etwas lautloser bewegen können als die Nacht davor, aber das lautlose Hecheln beherrschte er immer noch nicht. Mit einem Lächeln kroch Tibao aus seinem Fell und kletterte vorsichtig aus dem Wagen. Wenige Meter entfernt stand einer der beiden Hunde - unmöglich zu sagen, welcher - die Harlan begleitet hatten, und beäugte den Waldmensch. Ferron schlief wenige Schritt entfernt weiter.
Plötzlich drehte sich der Hund um, machte einige Schritte vom Lager weg, blieb dann stehen und drehte sich zu Tibao um. Winselte leise und tänzelte unruhig hin und her.
Tibao überlegte nicht lange. Er zog sich Schuhe an und warf sich seinen Umhang über, um der Aufforderung des Hundes nachzukommen.
Durch den dunklen Wald folgte er dem großen Hund, der sich zügig bewegte, aber immer wieder kurz stehen blieb. Wie um sicherzugehen, dass Tibao ihm folgte.
Nach ein paar Minuten erreichten sie ein Gebiet, wo der Boden dicht mit kleinen Beerensträuchern bedeckt war, die aber längst schon keine Früchte mehr trugen. Zwischen den Büschen lag, mit dem Gesicht auf dem Boden, Harlan.
Tibao verfluchte sich, dass er Ferron nicht geweckt und mitgenommen hatte. Er selbst würde niemals in der Lage sein, den großen Waldläufer zu tragen. Harlan sah nicht so aus, als ob er bald in der Lage wäre, aus eigener Kraft zu laufen.
Sein zerrissenes Hemd zeigte tiefe Wunden in seinem Rücken, wie von einer Peitsche oder einem dünnen Stock. Sein linker Arm stand in einem schiefen Winkel vom Körper ab, während seine Füße nackt und durch dornige Sträucher zerkratzt und blutig waren.
Tibao zögerte einen Moment und drehte sich dann um. Hastig und so schnell es die Dunkelheit zuließ, lief er den Weg zum Lager zurück.
Der Hund schien ihm für einen Augenblick nachsetzen zu wollen. Stattdessen knurrte er kurz und ließ sich neben seinem Herrn nieder.
Tibao musste Ferron nicht aufwecken - seine übereilte Ankunft ließ den Tua aus dem Schlaf fahren. Der Waldmensch erklärte ihm kurz, was passiert war, und Augenblicke später folgte ihm Ferron durch den regennassen Wald.
Kurz darauf erreichten sie den immer noch reglos daliegenden Waldläufer und seinen Hund. Erneut grollte der Hund kurz, als Ferron Harlan hochhob und wie ein schlafendes Kind vor sich hertrug, beruhigte sich dann aber und trottete neben dem blonden Mann her.

Im Lager angekommen, breitete Tibao alle Felle, die sie besaßen neben dem Wagen aus und bereitete so ein weiches Lager. Sobald der kleinere Mann, nickte, legte der Schmied seine Last behutsam darauf ab. Währenddessen war Tibao zur Feuerstelle gegangen und schlug dort mit Feuerstein und Stahl einen Funken. Er konzentrierte sich kurz, um den Funken magisch zu füttern - eine Flamme daraus zu machen, die sich sofort hungrig in ein klammen Birkenscheit fraß. Ein weiteres Mal nutzte er seine Magie und seine Macht über die Elemente und erwärmte Wasser in einem kleinen Krug, indem er ihn in die Nähe des Feuers brachte. Er konnte sich die Elemente nur zunutze machen - nicht sie erschaffen. Ferron hatte mehr als einmal Scherze darüber gemacht, dass er nur Feuer erzeugen konnte, wo bereits Feuer existierte.
Er reichte Ferron, der bereits begonnen hatte,  den Verletzten auszuziehen, das warme Wasser mit einem Lächeln.
Danach holte er sich das Birkenscheit und suchte im spärlichen Schein der Flamme nach großen Steinen. Er fand nur einen, den er sorgfältig von Moos und Dreck befreite und ebenfalls wie das Wasser zuvor erwärmte. Der Stein wurde zu dem völlig Unterkühlten zwischen die Felle geschoben.
‚Und?‘, fragte Tibao.
‚Schwer zu sagen. Er lag schon eine ganze Weile hier draußen im Wald. Irgendwer hat ihn übel zugerichtet.‘
‚Würde er durchkommen?‘
‚Ohne meine Hilfe?‘
Tibao nickte stumm.
‚Schwer zu sagen. Aber ich schätze, darauf kann ich es nicht ankommen lassen.‘ Mit einem Blick auf den großen Hund erläuterte er weiter: ‚Schon alleine deswegen nicht, weil wir dann dieses Viech hier durchfüttern müssten. Was meinst du, was der an Fleisch verdrückt.‘
Tibao lächelte und nahm Ferron sein Fell von den Schultern, nachdem dieser Harlan zurecht gerückt hatte.
‚Ich habe keine Ahnung, ob wir dich danach in den Wagen bekommen‘, zweifelte Tibao, aber Ferron antwortete nicht. Der Tua atmete tief und regelmäßig durch und schloss die Augen. Er hatte seine Hände auf den unteren, fast unverletzten Rücken des Waldläufers gelegt.
Tibao wusste, was jetzt kam - hatte es schon viele Male gesehen. Es waren seine eigenen Leute gewesen, die dem Tua seine Magie beigebracht hatten. Trotzdem konnte er sich eines Schauderns nicht erwehren. Es war ihm unheimlich. Seine eigene Magie kam ihm logisch, erklärbar vor. Das, was Ferron praktizierte, schien dagegen unwirklich. Angespannt beobachtete der Waldmensch seinen Freund.
Ferron atmete weiter ein und aus, als wolle er damit Kraft in sich einsaugen. Tibao beobachtete fasziniert, wie sich die Wunden auf Harlans Rücken langsam schlossen. Wie sein Arm und die Finger, die ebenfalls gebrochen waren, und die Tibao wieder in die richtige Position gebracht hatte, zuckten und die wächserne Bleiche verloren.
Nach wenigen Augenblicken begann Harlan zu stöhnen und stützte sich plötzlich auf, drehte sich um und fragte verwirrt: ‚Wo bin ich?‘
‚Wir haben dich bewusstlos im Wald gefunden. Eigentlich hat dein Hund uns gefunden und uns dann zu dir gebracht.‘
Harlan sah kurz auf seinen Hund, auf Tibao und schien sich zum ersten Mal seines Zustandes bewusst zu werden. Er hob seinen Arm, bewegte seine Finger und befühlte kurz darauf seinen Rücken.
‚Wie ist das passiert?‘ fragte er erstaunt, als er feststellte, dass er vollständig geheilt war.
Mit dem Kopf auf Ferron deutend, der bewusstlos neben dem Wagen zusammengesunken war, antwortete Tibao: ‚Das hast du ihm zu verdanken. Und jetzt hilf mir, ihn in die Decken zu wickeln. Aber sei vorsichtig mit seinem Arm und seinem Rücken.‘
Der Waldläufer runzelte die Stirn und schien nicht zu verstehen. Bis er die tiefen Wunden auf dem Rücken des Schmiedes sah.
‚Er trägt meine Wunden‘, stellte er fassungslos fest.
Tibao hatte Ferron unter Harlans Mithilfe vorsichtig auf ein Fell gelegt und versorgte dessen Wunden mit frischen Verbänden.
‚Er ist Emphat. Er hat seine Magie dazu benutzt, deine Wunden zu übernehmen. Sein Körper setzt sich jetzt damit auseinander - und ist dazu weit besser in der Lage als es dein Körper könnte. Morgen früh wird von den Wunden nicht mehr viel zu sehen sein, aber bis dahin wird er in einer Art Koma liegen.‘
Ferron stöhnte leise und atmete für eine Weile sehr schnell und flach, bis sich seine Atmung wieder beruhigte. Tibao warf ihm einen besorgten Blick zu und begann, ihre verbliebenen Decken über den bewusstlosen Tua aufzustapeln.
‚Es geht schneller, wenn er sehr warm liegt‘, erklärte er mit einem Blick auf Harlan.
Nachdem sie den großen Mann versorgt hatten, hockte sich Tibao an die Feuerstelle.

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