Crash-Test-Dummy

Roman zum Thema Hilfe/ Hilflosigkeit

von  Mutter

Es ist kurz vor Fünf und wir sind zurück im Container. Jasmin hat mir einen Plastikbecher mit Murats lauwarmem Maschinenkaffee gebracht, über den ich noch brüte. Mir überlege, ob ich das Koffein so dringend brauche, dass ich mir das widerliche Zeug reinzwinge, oder ob ich warte, bis ich mir zu Hause einen ordentlichen Latte Macchiato mache.
Cemal steckt den Kopf in den Aufenthaltsraum. „Murat will dich sehen!“
Ich zeige stumm auf meine Brust, er nickt. Verschwindet wieder. Ich werfe einen verwunderten Blick auf Enzo und Achmed, zucke mit den Schultern. Wenigstens wird mir die Entscheidung mit dem Gesöff abgenommen, denke ich und stelle den Becher auf den wackeligen Tisch im Aufenthaltsraum.
Murat sitzt zur Abwechslung mal nicht hinter seinem Rechner – er lehnt an seinem Schreibtisch, den Hintern an der Kante. Neben ihm steht ein hochgewachsener Kerl mit einem weichen Haarkranz um die Glatze im Anzug.
„Luca, das ist Kommissar Wehmeier. Das ist Luca Barbato.“
Ich runzel die Stirn, sehe Murat verständnislos an, während ich dem Kerl wortlos meine Hand hinstrecke. Als mein Boss nicht reagiert, nur weiter düster dreinschaut, sehe ich den Kommissar an.
„Hauptkommissar Harald Wehmeier vom Landeskriminalamt“, stellt er sich vor. „Wollen Sie sich vielleicht setzen?“
Ich schüttel den Kopf, mein Körper verspannt sich. „Um was geht’s?“, will ich wissen, sehe wieder Murat an. Irgendwas mit der Firma, schießt es mir durch den Kopf. Vielleicht hat Murat Illegale beschäftigt. Hat Enzo eine Arbeitserlaubnis? Braucht der überhaupt noch eine? Ich raffe überhaupt nicht, was vor sich geht, passiert alles viel zu schnell.
„Herr Barbato, Sie wohnen zusammen mit Frau Luisa Kahrmann?“
Zack – es ist, als würde jemand mit einem Ruck an einem unsichtbaren Halsband ziehen, das mir die Kehle zuschnürt. Luisa. LKALuisaLKAwaswollendiewasistlos schießt es mir durch den Kopf. Sagen kann ich nichts. Bringe nur ein gekrächztes „Was?“ raus.
„Es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir Frau Kahrmann heute Nachmittag tot in Ihrer gemeinsamen Wohnung aufgefunden haben.“
„Was?“ Diesmal klingt es noch schriller.
„Ihre Nachbarin hat sie gefunden. Frau Karzer. Die Tür stand offen und sie hat sofort die Polizei informiert.“
Was? Die alte Karzer? Namen und Gesichter vermischen sich in mir drin.
„Sie ist ermordet worden. Der Todeszeitpunkt liegt vermutliche so gegen zehn Uhr. Genaueres wissen wir erst später.“
Als ich den Bullen weiter nur fassungslos ansehe, als hätte man mir gerade eins mit dem Bolzenschussgerät voll vor die Stirn verpasst, wirft Murat ein: „Aber du hast ein Alibi. Warst ja die ganze Zeit bei den Sprayertagen.“
Wie knirschend drehe ich meinen Kopf zu ihm rüber, sehe ihn ohne einen Funken kognitiven Verstehens an. „Was?“
Wehmeier winkt unwirsch ab, ist verärgert über Murats Einwand. „Selbstverständlich sind Sie kein Tatverdächtiger. Und ich verstehe, dass Sie unter Schock stehen. Zu den Vorgängen können wir Sie jederzeit später vernehmen. Hören Sie, was ich sage?“
Ich nicke. Er fährt fort: „Wir können Ihnen psychologische Betreuung anbieten. In solchen Fällen …“ Den Rest höre ich nicht mehr. Das Rauschen in meinen Ohren ist zu laut. Noch während er spricht, habe ich mich abgewendet, gehe langsam auf die Tür zu. Nur nach und nach sickert Verständnis in mich ein, aber ein Umstand scheint unumwunden bereits in mir angekommen zu sein: Luisa ist tot!
Sonst wäre ich nicht so betäubt, würde nicht gerade wie ein Insekt bei plötzlichen Minusgraden zur Erde taumeln. Riens ne va plus, würde Dirty sagen. Alles stellt seine Funktion ein – Verstand, Herz Seele. Fühle mich wie eingefroren.
Ich sehe sie, wie sie gestern Abend mit uns am Tisch gesessen hat. Sehe sie lachen. Kann ihre Haare in meinem Gesicht fühlen, die mich kitzeln.
Stelle fest, dass es Tränen sind, die über mein Gesicht laufen. Ich drehe mich wieder zu den beiden um, hebe die Hände. Als würde ich um Antworten betteln. Erklärungen, die es nicht gibt. Niemals geben wird. Lasse sie fallen, als würde ich die Kontrolle über meinen Körper verlieren. Meine Sicht verschwimmt.
Ich bemerke, dass ich den Kopf schüttel. Erst ganz leicht, als nicht passiert, immer doller. Mir wird schwindelig.
Mir ist, als würden meine Tränen mir vom Kopf wegfliegen, so schnell bewege ich mich. Nein! Nicht Luisa. Meine Luisa. Ich sehe den schmutzigen Boden vor mir, finde mich auf Knien wieder. Irgendwas zerreißt mir die Brust, will aus mir raus.
Es ist ein Schrei – aber der kommt nicht. Bleibt in mir stecken, reißt einfach immer weiter, an Herz, Brust, an meiner Seele. Und dieser Schmerz, der sich so anfühlt, als könne man ihn nur für Bruchteile von Sekunden ertragen – der geht nicht mehr wieder weg. Nistet sich ein.
Ich fühle Hände auf meiner Schulter. Will sie abwehren, aber ich bin zu schwach.
Meine Luisa.

„Besser?“, dringt dumpf eine Stimme zu mir vor. Ich sitze in einem der unbequemen Bürostühle, im Aufenthaltsraum. Murat steht neben mir, hat sich besorgt zu mir vorgebeugt. Sonst ist niemand da.
„Der Kommissar wollte dich mitnehmen. Zu seiner Psychotante – der hat sich Sorgen gemacht. Habe ich gesagt: Kein Problem, wir kümmern uns. Hörst du, Luca? Wir sind für dich da.“ Ich nicke, damit er das Maul hält. Verstehe nicht, was er von mir will. Er macht weiter. „Ich habe den Kerl weggeschickt. Der wollte dir Fragen stellen. Sag ich: Fällt aus wegen iss nich. Du meldest dich bei ihm – deine Handynummer hat er.“ Er drückt mir eine Visitenkarte in die Hand. „Der wollte wissen, ob du ein Hotel brauchst. Mein ich, Quatsch, wir kümmern uns. Luca, du kannst bei mir wohnen. Oder Dirty. Jeder aus der Crew würde dich aufnehmen. Das weißt du, oder?“
Für den Bruchteil eines Augenblicks stelle ich mir vor, ich bin zusammengebrochen. In Murats Büro. Weil es mir körperlich nicht gut geht. Weil ich nicht fit bin. Und es gibt keinen Harald Wehmeier. Und dieser Schmerz, der in mir eingezogen ist, den bilde ich mir ein. Der geht wieder weg.
Aber ich blicke in Murats Gesicht, und ich weiß: Körperlich ist alles in Ordnung. Der Schmerz explodiert in mir drin, wächst rasend an und sofort füllen sich meine Augen erneut mit Tränen.
„Luisa“, wimmere ich heiser, hervorgewürgt zwischen Schluchzern, Tränen und Rotz. Murat sieht mich nur an.
Ich sehe mich selbst von außen, wie ich da zusammengekrümmt auf dem Stuhl sitze. Komme mir vor wie ein Crash-Test-Dummy, das von unzähligen Händen im Sitz angeschnallt wird, um für einen wichtigen Test voll vor die Wand gefahren zu werden. Immer und immer wieder - ein Crash-Test-Dummy auf Repeat.
Und ich weiß: Das wird nie wieder aufhören.
Keine Ahnung, wie lange ich dort sitze. Ich finde meinen Kopf zwischen Murats Händen wieder. Er hockt vor mir, sieht mir direkt ins Gesicht.
„Luca, mein Luca.“ Ich sehe Tränen in seinen Augen schimmern. Ich mache mich  los, lehne mich im Sitz zurück. Fahre mir mit den Händen durch die Haare, reibe mir das Gesicht.
Begegne Murats fragendem Blick. Antworte: „Ich muss gehen.“
Mit einem Kopfschütteln will er mich anfassen – ich schlage hart seine Hand weg. „Lass mich““
Er nickt, richtet sich mit knackenden Knien auf. „Jasmin soll dich fahren – mit meinem Wagen.“
Ich schüttel den Kopf. Will niemanden mehr sehen, kann keine fragenden Gesichter mehr ertragen. Muss alleine sein, so schnell wie möglich. „Ich komme klar“, stoße ich hervor, schiebe mich an ihm vorbei Richtung Ausgang.
„Auf keinen Fall nimmst du deinen Bock!“, ruft er mir hinterher. Ich halte kurz inne. Habe Helm und Jacke ohnehin drinnen gelassen. Will keinen Kampf mit Murat. Auch gut. Nehme ich die Bahn.
Ich stolpere aus dem Container ins Licht, schirme die Augen mit der Hand ab. Mein Kopf tut weh. Ich sehe einen Schatten auf mich zukommen, keine Ahnung, wer. Wehre ab, drehe den Kopf weg. Laufe davon.
Schnelle Schritte, leichtes Joggen, schließlich renne ich volle Pulle. Weiß nicht wie lange – bis ich würgend stehenbleiben muss, den Brechreiz niederkämpfe. Meine Beine schmerzen, aber das wirkt wie ein Ventil. Leitet Schmerzen aus Kopf, Brust und Magen ab, verhindert, dass ich daran krepiere.
Ich finde mich am Wasser wieder – bin aus dem Tiergarten bis an den Potsdamer Platz getorkelt. Immer einen Schritt vor den anderen, nehme ich an. Erinnern kann ich mich nicht. Suche mir eine Bushaltestelle, sehe auf den Fahrplan. Zwecklos – ich kann nicht erkennen, welche Linie es ist oder wo sie hinfährt. Kann mich nicht konzentrieren, alles verschwimmt immer vor mir. Völlig egal – jeder Bus, der hier am Wasser hält, fährt nach Kreuzberg, sage ich mir.
Überstehe die Minuten, bis sich der Doppelstockbus über die kleine Brücke zu meiner Linken schiebt, vor mir hält.
Schwankend steige ich vorne ein, gehe wortlos an dem Fahrer vorbei. Er fragt nicht nach einem Fahrschein. Als der Wagen ruckend anfährt, schleudert es mich wie eine Puppe in den Sitz. Überprüfen des Crash-Verhaltens.

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Kommentare zu diesem Text


 star (13.04.10)
*schnief*

 Mutter meinte dazu am 13.04.10:
:(

Ja.
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