Score

Roman zum Thema Verlassenheit

von  Mutter

Ich werfe einen Blick auf den Blonden, der mich weiterhin beobachtet. Ohne auf ihn zu reagieren, stecke ich die Flagge in meine Tasche. Den Rucksack lasse ich da – stehe auf und gehe aus dem Container, ohne zurückzusehen. Soll er denken, was er will.
Unten auf dem Vorplatz stehen inzwischen zwei schwarze Limousinen. Es wimmelt von Zollfahndern. In der Nähe der Rezeption stehen acht Vietnamesen, die Hände auf den Rücken gebunden. Frank und Matze halten sich abseits, bei ihnen steht Clemens.
Als ich auf sie zugehe, fällt mir an der Tür zur Rezeption ein bleicher junger Mann auf. Neben ihm steht ein Typ, auf dessen Windjacke ebenfalls „ZOLL“ geschrieben steht, ein Notizblock in der Hand. Der Fahnder nickt, klappt den Block und wendet sich ab. Kurzentschlossen ändere ich die Richtung und gehe über den knirschenden Kies rüber zur Rezeption. Nicke dem Mann vom Zoll kurz zu, als er mir entgegenkommt, als besäße ich jede Berechtigung, Zeugen zu befragen.
„Morgen“, grüße ich den Rezeptionisten. Er nickt unsicher zurück. „Ich nehme an, Sie haben nicht besonders viele Franzosen hier, oder?“  Überrascht sieht er mich an, schüttelt dann den Kopf. „Nichts sehr viele, nein.“
„Was ist mit Container 31? Gab’s da einen?“
Er schürzt missbilligend die Lippen. „Bungalow. Wir nennen das Bungalows“, korrigiert er mich.
„Aber es sind doch Container, oder?“
„Schon, ja.“
„Einen Franzosen? In Bett zehn?“ Ich habe keine große Hoffnung, dass er sich sogar an die Bettenbelegung merken kann, aber der Container würde mir schon reichen. Er nickt. „Ja, an den kann ich mich erinnern. Großer Kerl. Sprach aber fließend deutsch.“
„Was heißt großer Kerl?“
Er überlegt kurz. „Breite Schultern, muskulös. Ein hartes Gesicht, mit einer riesigen Narbe zum Hals runter. Sieht aus, als hätte ihm jemand mal den Hals aufgeschlitzt. Oder als sei er ziemlich fies verbrannt worden.“
„Was hat er hier gemacht? Wissen Sie das?“
„Nein, keine Ahnung. Das Bett ist im Voraus gebucht worden, er ist hier angekommen, hat für zwei Wochen im Voraus bezahlt und ich habe keine weiteren Fragen gestellt. Vor ein paar Tagen hat er das Geld für weitere zwei Wochen dagelassen. Das ist alles, was ich weiß.“
„Okay, danke.“ Ich drehe mich weg und gehe auf die Gruppe um Frank zu. Er und Matze beobachten mich wachsam. Als ich fast bei ihnen bin, kommt mir Frank entgegen. „Hast du was gefunden?“
Ich nicke, lege den Kopf schief. „Wie man’s nimmt. Schon, ja. Wir wissen jetzt, dass er Franzose ist, und ich bin mir ziemlich sicher, dass es sich ebenfalls um einen Ex-Legionär handelt. Einen alten Kampfkollegen von Schellstädter.“
„Aber eine weitere Spur hast du nicht gefunden?“
„Nein. Und ich fürchte, das hier haben wir verbrannt, oder?“ Ich lasse den Blick über die Szenerie schweifen. Die Fahnder haben angefangen, die Vietnamesen in die verschiedenen Autos zu verfrachten und die beschlagnahmten Zigaretten einzuladen.
Frank verzieht das Gesicht. „Vermutlich schon. Kann mir kaum vorstellen, dass unser Mann noch mal hier auftaucht, nachdem was abgegangen ist. Aber Clemens schuldet uns was – er lässt auf jeden Fall jemanden hier. Das heißt, sollte der Franzmann noch mal hier aufschlagen, haben wir ihn auf jeden Fall.“
Mit einem leisen Seufzer drehe ich mich zur Seite. „Das haben wir heute Morgen auch gedacht.“
Er legt mir den Arm um die Schulter. „Es tut mir leid.“
„Nicht deine Schuld. Macht es noch Sinn, dass ich bleibe?“
„Glaube nicht. Matze und ich machen auch gleich die Biege. Reite ruhig vom Hof.“
Wir verabschieden uns mit einer Umarmung und im Weggehen hebe ich die Hand, um Matze zu grüßen. Er erwidert die Geste kühl.
Draußen auf der Straße gehe ich zurück zu meiner Maschine. Bevor ich den Helm aufsetze, checke ich das Handy. Manu hat sich nicht gemeldet – erleichtert sehe ich kurz hoch. Ich hatte schon befürchtet, sie ruft an oder schreibt eine SMS, weil sie sich darüber aufregt, dass ich weg bin. Wieder einen Alleingang gestartet habe.
Ich will das Telefon gerade wieder wegpacken, als es vibriert. Mit einem erschreckten Zucken starre ich auf das Display – aber es ist nicht Manu, sondern Wehmeier. Ich gehe ran.
„Herr Monteleone? Guten Morgen, Wehmeier hier.“
„Morgen.“ Mehr sage ich nicht – warte ab. Ich nehme an, es geht um Horst Mann Wedel. Und ich weiß nicht, ob es hören will. Weil ich keine Ahnung habe, wie der Kerl in das Bild, das in den letzten Stunden entstanden ist, passt.
„Wir haben Wedel heute Morgen entlassen.“ Ich nicke dazu nur. So etwas hatte ich mir schon fest gedacht. Als ich nichts weiter dazu sage, fährt er fort: „Er hat die Frauen nur fotografiert. Ansonsten stimmten keine der Spuren mit den Tatorten überein. Wedel war weder da noch hatte er irgendwas mit den Toden zu tun.“
„Aber er hat die Frauen dazu gebracht, Bilder von sich machen zu lassen. Nackt, oder zumindest halbnackt.“ Selbst in meinen eigenen Ohren klinge ich tendenziell schmollend.
„Nach dem momentanen Stand der Ermittlungen war er nicht mehr als ein kleiner Perverser, der seinen eigenen kleinen Fetisch befriedigt hat. Durchaus eine Sache für den Staatsanwalt. Aber nicht für die Mordkommission, und leider schon gar nicht für die SoKo Stern.“
Ich atme laut aus. Wehmeier redet weiter: „Und er wird übrigens keine Anzeige erstatten.“
Der Laut, den ich von mir gebe, könnte eine Mischung aus „Ah ja?“ und „Hah?“ sein.
„Er behauptet, die Treppe heruntergefallen zu sein. Was wir glauben, was ich weiß, spielt dann keine Rolle. Ich dachte nur, das würde Sie vielleicht interessieren.“
„Danke.“
„Nicht dafür – wenn es nach mir ginge, würden wir Sie für gefährliche Körperverletzung drankriegen. Diese Art von Selbstjustiz habe ich noch nie tolerieren können – nicht mal in Filmen mit Charles Bronson. Machen Sie so etwas noch einmal, Monteleone, und ich sorge dafür, dass Sie eine Anzeige kassieren. Ich wünsche Ihnen einen schönen Tag.“
Ich mache mir nicht die Mühe, mich zu verabschieden – dafür legt er zu schnell auf. Als ich mir den Helm aufsetze, um loszufahren, erhalte ich den nächsten Anruf. Dieselbe Beklemmung wie vorhin ergreift mich, aber wieder ist es nicht Manu.
„Hey Mann“, begrüße ich Dirty. „Du bist früh auf. Wie ist gestern Abend gelaufen?“
„Alles super. Training war Spitze und der Promoter war begeistert. Sieht wirklich gut aus – wie war’s bei euch?“
Ich überlege kurz, ob ich mir die Mühe machen soll, ihm wirklich alles zu umreißen, was seit gestern passiert ist. Verwerfe den Gedanken wieder – stattdessen lade ich ihn zum Frühstück ein. Wenn ich Glück habe, ist Manu noch im Bett. Wir könnten Dirty dann zusammen erzählen, was gelaufen ist.
„Ich besorg uns frische Croissants – was meinst du?“
„Klingt gut. Ich denke, ich bin so in einer halben Stunde bei euch.“ Im Hintergrund höre ich eine Stimme etwas fragen. Dirty sagt, halb vom Handy abgewandt: „Nein, es ist Luca. Ich muss gleich los.“
„Wer ist bei dir?“, will ich wissen. Die Stimme klang bekannt. Dirty antwortet nicht sofort. Aber offenbar toleriert die Frau an seinem Ende des Gespräches sein Zögern nicht, ich höre wieder ihre Stimme. „Wer ist es, Dirty? Jemand, den ich kenne?“, frage ich mit einem Grinsen.
„Es ist Jasmin“, gibt er auf.
„Ach du Scheiße!“
Er wiederholt meine Worte mit einem Lachen für sie. Dann heult er auf – ich kann mir bildlich vorstellen, wie er einen Faustschlag auf den Oberarm für sein süffisantes Grinsen einsteckt. „Wie gesagt, gestern war ein guter Abend“, sagt er dann. „In vielerlei Hinsicht. Der englische Titel wäre wohl: The Score!“ Er jault erneut empört auf, verteidigt sich gegen Jasmin.
„Hey, Dirty!“, rufe ich, um ihn wieder ranzubekommen.
Wir beenden das Gespräch und diesmal schaffe ich es, das Handy wegzustecken und loszufahren, ohne dass ein weiterer Anruf eingeht.
Auf dem Weg nach Kreuzberg halte ich kurz bei einer Bäckerei in der Nähe am Platz der Luftbrücke.  Luisa hatte damals immer behauptet, dort gäbe es die besten Croissants aus ganz Berlin. Wenig später fahre ich die Spree entlang, nach Kreuzberg hinein. Die Luft schmeckt kühl und klar, die Straßen sind noch fast leer.
Mit dieser Hochstimmung im Bauch und der großen Tüte duftenden Backwerks in der Hand komme ich bei Manu in die Wohnung. Ich gehe durch das Wohnzimmer, um sie zu wecken, aber das Bett ist leer. Der Rest der Wohnung auch.
Nur auf dem Wohnzimmertisch finde ich einen kleinen karierten Zettel, auf dem in ihrer Handschrift geschrieben steht: Bin los zur Wagenburg „Strebergarten“ – nach Spuren von Matti Kincaid  suchen. M.
Mein Magen zieht sich zusammen und ich habe Probleme, zu schlucken. Mit faserigen Bewegungen hole ich das Handy raus, rufe sie an. Sie ist nicht erreichbar, es meldet sich nur die Mailbox.

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