Wehmeier steht bereits in der Tür, während er klopft. „Störe ich?“
Ich schüttle den Kopf, werfe aber der Schwester, die gerade mein Bett feststeckt, einen Blick zu. Sie scheint ebenfalls keine Einwände zu haben.
„Wie geht’s Ihnen?“
Mein erster Impuls ist es, mit den Schultern zu zucken. So lala. Rechtzeitig erinnere ich mich, dass mein Körper solch eine Geste immer noch jedes Mal mit zornigem Schmerz quittiert. „Geht so. Bis auf die Schulter merke ich kaum noch was.“
„Was ist mit den Rippen? Gebrochen?“
„Nur eine. Zwei weitere sind angeknackst. Nichts, was nicht wieder ordentlich zusammenwächst, sagt der Doc.“
„Und die Schulter?“
„Ruhiggestellt. Hier werde ich wohl noch ein paar Tage bleiben müssen. Die wollen sichergehen, dass sich keine Infektion bildet. Ansonsten muss ich die Schulter so lange schonen, bis es nicht mehr weh tut. Zwei Wochen, nach Aussage des Arztes. Dann ziehen sie die Fäden.“
„Wie viele Stiche?“, fragt er und grinst dabei breit. Das erinnert mich an meine Schulzeit, als man Abschürfungen, Wunde und Schmisse miteinander verglichen hat. Ich muss ebenfalls lächeln. „Weiß ich nicht genau. Sie haben’s mir gesagt, aber da war ich noch etwas zugedröhnt. Aber die Hälfte hätte wohl auch gereicht, wenn ich nicht mit dem Messer drin rumgepuhlt hätte, haben sie gesagt.“
Er zieht sich einen Sessel heran und setzt sich. „Naja, Sie konnten ja nicht wissen, dass Frau Karmann auch genauso gut ohne Ihre Hilfe klarkommt.“
„Ja.“ Meine Stimme klingt lahm. „Wie geht es ihr?“
„Gut – soweit ich weiß. Sie hatte kein Problem damit, ihre Aussage gleich zu Protokoll zu geben. Ein wenig überspannt, wegen des Adrenalins, aber ansonsten war sie in guter Verfassung.“
Ich nicke – ganz langsam und vorsichtig. Bei der Bewegung kann ich die Nähte spannen fühlen. „Was ist mit Lefevre?“
„Erstaunlicherweise hat er überlebt. Alle vier Stockwerke. Naja, sagen wir fünf. Ich nehme an, jeder Knochen in seinem Körper ist gebrochen – er liegt immer noch im Koma. Ich verstehe nur nicht, wie er überhaupt bis aufs Dach gekommen ist. Sie haben ordentlich zugestochen. Und da er die Wunde nur notdürftig versorgt hat, hat er ziemlich viel Blut verloren. Es ist ein absolutes Wunder, dass er sich noch auf den Beinen halten konnte.“ Und mich dabei noch fertigmachen, ergänze ich gedanklich.
„Das ist jetzt allerdings das kleinste seiner Probleme.“
„Aber er kommt durch?“
„Das kann momentan noch niemand sagen.“ Wehmeier seufzt. „ Wird wohl noch eine Weile dauern, bis er sich in einer Verfassung befindet, in der wir ihn vernehmen können.“
Ich lehne den Kopf zurück in das gestärkte Kissen, atme tief durch. Es kommt mir so unwirklich vor, dass sie ihn endlich haben. Aufmerksam betrachte ich Wehmeier. „Aber er hat Luisa umgebracht? Und die anderen Frauen?“
Der Kommissar nickt langsam. „Nach allem, was wir wissen, ja. Völlig abschließend ist das noch nicht geklärt, aber ich glaube, ich kann, ohne mich zu weit aus dem Fenster lehne, dass dem so ist.“
„Was passiert mit Tiger?“
Wehmeier macht ein schiefes Gesicht, als würde ihm der Gedanke Schmerzen bereiten. „Im Moment gehen wir davon aus, dass Tiger tatsächlich keine Mitschuld an den Taten seines Vaters trägt. Es bleibt aber noch zu klären, inwieweit er sich den Vorwurf gefallen lassen muss, eine Aufklärung durch sein Schweigen und seine Flucht verhindert zu haben. Den einzigen echten Strafbestand, den wir im nach momentanen Kenntnisstand vorwerfen können, ist der Angriff auf seinen Vater.“ Er zuckt mit den Schultern und schlägt die ausgestreckten Beine übereinander. „Aber selbst da ist vermutlich von einem Teil Notwehr auszugehen. Zusätzlich war er minderjährig, die Tat ist längst verjährt und ohnehin gehe ich nicht davon aus, dass sein Vater Anzeige erstatten wird.“
Ich betrachte ihn aufmerksam. Ahne, dass er noch nicht alles gesagt hat.
Tatsächlich fährt er fort: „Tiger wird sich auf jeden Fall einer Therapie unterziehen müssen. Je nachdem, wie das psychologische Gutachten ausfällt, wird er sogar eingewiesen. Da ist über die Jahre ganz schön viel kaputtgegangen.“
„Und sein Vater?“
Wehmeier schnaubt. „Er wird ganz sicher eingewiesen. Und wenn es nach mir geht, kommt der auch nicht mehr raus. Der Kerl ist völlig durchgeknallt.“
Auf die nächste Frage muss ich mich vorbereiten. Vorher tief durchatmen. „Warum hat er sie umgebracht?“
Der Kommissar antwortet nicht sofort. Sieht erst auf einen Punkt irgendwo am Fenster, dann kurz auf mich. Streicht sich einen Fussel von der Jacke. Atmet tief ein und sagt endlich: „Ich weiß nicht, ob wir das jemals wirklich herausbekommen. So wie es aussieht, äußert sich seine Psychose in einem abgrundtiefen Hass auf Tigers verstorbene Mutter. Offenbar fühlt er sich gezwungen, sie immer wieder aufs Neue umzubringen – vermutlich kommt er nicht von ihr los, sagt die Psychologin.“
„Wofür hat er Tiger gebraucht?“
Er schnieft, reibt sich mit der Hand den Nasenrücken. Zuckt mit den Schultern. „In seiner Wahnvorstellung war Tiger sein Medium. Er hat die Frauen quasi ausgesucht, Lefevre zu ihnen geführt. Natürlich ohne eine eigene Beteiligung“, fügt Wehmeier schnell hinzu. Ich nicke müde. „Also im Grunde nicht mehr als ein Zufall.“ Aber entgegen der äußerlichen Ruhe, mit der ich die Worte ausspreche, zermahlen mich tief drinnen Mühlsteine – gnadenlose Monstren, die sagen: Es mag wie Zufall klingen – aber hättest du ihn nicht mit nach Hause genommen, wäre nichts passiert. Der Irre hätte Luisa nie gefunden. Du hast ihn genauso an die Hand genommen wie Tiger es tat. Mit einem Schlucken versuche ich den Kloß im Hals loszuwerden, bevor meine Sicht durch Tränen verschwimmt. Ich habe keine Lust, vor Wehmeier zu flennen. Das hebe ich mir für später auf.
„Im Grunde genommen ja. Lefevre hat sich nie weit von Tiger entfernt, war immer auf seiner Spur. Insofern ist nicht anzunehmen, das man irgendwas von dem, was passiert ist, wirklich hätte verhindern können.“
Ich nehme seinen Versuch, mir bei meiner Entlastung zu helfen, zur Kenntnis. Plötzlich habe ich keine Lust mehr, mich mit ihm zu unterhalten. Es klopft.
In der offenen Tür steht Manu, lächelt verlegen. „Kann ich reinkommen?“
Wehmeier steht auf, streicht sich die Jacke glatt. Er schüttelt ihr die Hand und sagt: „Ich muss ohnehin wieder los.“ Für einen Augenblick scheint er unschlüssig, ob er mir ebenfalls die Hand reichen soll, dann hebt er sie nur kurz ungelenk zu einem Gruß und geht.
Manu kommt vorsichtig zu mir ans Bett. Nimmt sich nach einem Augenblick des Zögerns den Stuhl, auf dem Wehmeier gesessen hat. „Wie geht es dir?“ Ihre Stimme klingt leise und zerbrechlich. Als würde sie sich nicht trauen, lauter oder fester zu sprechen. Vielleicht hat sie Angst, mir weiteren Schaden zuzufügen.
Ich schließe kurz die Augen. Bekämpfe den Schwindel. „Ich habe ihn zu ihr geführt.“ Lasse die Lider geschlossen, weil ich mich nicht traue, sie anzusehen. Sie antwortet nicht. Nimmt einfach nur meine Hand, legt sie in ihre. Ihre Haut fühlt sich kühl und glatt an.
Endlich traue ich mich, ihr in die Augen zu sehen. Ich sehe meinen Schmerz dort gespiegelt – nur die Schuld, davon finde ich keine Spur. Auch nicht von meiner. Sie hebt die Rechte, die ich nicht fest umklammere und streicht mir sanft über die Stirn. Damit reißt sie mit einer spinnwebfeinen Geste alle Dämme ein, die ich so panisch errichtet habe. Mir schießt das Wasser in die Augen und alles um mich herum verschwimmt.
Es kommt mir so vor, als würde ich stundenlang nicht mehr aufhören mit heulen. Immer wieder streichelt sie mich, hält meine Hand, meine Schulter, meinen Kopf. Verhindert, dass ich ins Bodenlose abstürze.
„Vielleicht können wir nachher zusammen runter zu Dirty gehen. Der liegt zwei Etagen tiefer. Dem geht’s ganz gut, und er hat schon nach dir gefragt.“
Mit einem Schniefen ziehe ich die Nase hoch. Nicke mit dem gebeugten Kopf, während sie mir den Nacken streichelt. Ich wusste nicht, dass sie mich auch ins Urban gebracht hatten – darüber hatte ich nicht nachgedacht.
Vorsichtig legt sie mir den Arm um die Schulter, steckt ihren Kopf dicht an meinen. Ihre Haare kitzeln mich an der Wange, ihre Stirn liegt an meiner Schläfe. Nach einem Moment schiebe ich ihr den linken Arm um die Taille, halte sie ebenfalls fest.
In dieser Haltung bleiben wir sitzen, bis die Schwester zurück ins Zimmer kommt.
LE FIN.