Gabber

Roman zum Thema Erschöpfung/ Müdigkeit

von  Mutter

Ein paar Minuten später ist Wehmeier auf dem Weg in die Wohnung hoch. Er hat die Imbissfrau bezahlt – meinen halbgetrunkenen Kaffee und das unberührte Brötchen inklusive. Mich hat er auf der Straße zurückgelassen. Allerdings nicht ohne Ermahnung: „Ich hoffe, das wird bei Ihnen nicht zur Gewohnheit. Dass ich Sie an Tatorten und bei Zeugen antreffe. Überlassen Sie die Ermittlungsarbeit uns.“ Mit einem schiefen Lächeln hatte er hinzugefügt: „Vielleicht liefern wir diese Resultate nicht immer so schnell, wie es die Betroffenen gerne hätten, aber Polizeiarbeit braucht Zeit. Wir sind die Guten!“ Mit diesen Worten hatte er mich noch einmal eindringlich angesehen, geschaut, ob ich die Warnung verstanden hatte. Erst nachdem ich genickt hatte, hatte er sich verabschiedet. Für einen kurzen Augenblick hatte ich darüber nachgedacht, ob ich ihm sagen sollte, dass Tiger seit zwei Wochen nicht mehr hier gewohnt hatte. Mich dann entschieden, dass er es früh genug von Manne erfährt. Hab ihn gehen lassen. Stattdessen ziehe ich das Buch aus der Tasche, blättere darin herum. Es ist ein Schachbuch mit einem orangenen Läufer vorne drauf. Die Figur wird von schwarzen Tigerstreifen geschmückt und das Buch ist komplett in Englisch. Nach ein paar frustlosen Minuten, in denen ich keinerlei Hinweise darin entdecke, stecke ich es weg.
Ich besteige das Motorrad und setze den Helm auf - erwecke den Motor mit einem Kick zum Leben und fahre kurz darauf Richtung Kreuzberg zurück.
Halte an der Skalitzer, um das Handy rauszuholen. Während ich den Motor kille, suche ich Dirty aus dem Speicher raus. Aber bevor ich wählen kann, vibriert das Handy: Unbekannte Nummer.
„Luca hier.“
„Hey Luca, ich bin’s – Lollo!“
Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Der Penner hat mir gerade noch gefehlt. „Was willst du?“
„Petja hat mir erzählt, dass Ducky dir Stress macht. Mann, das tut mir leid. Ich wollte dich in die ganze Sache nicht mit reinziehen.“
„Schon gut. Der Sack ist schwer von Begriff, scheint’s.“
Seine Entschuldigung scheint aber nicht alles gewesen zu sein. Er schiebt nach: „Sei vorsichtig, ja?“
„Wovon redest du?“
Er antwortet nicht sofort, überlegt. Ich höre ihn am anderen Ende atmen. „Ducky ist nicht einfach nur ein Großmaul.“
„Was soll das heißen?“ Lollos kryptische Art geht mir auf die Eier. „Red‘ nicht um den heißen Brei rum.“
„Der ist mehrfach vorbestraft - Körperverletzung und Nötigung. Und er hat meiner Mitbewohnerin das Gesicht zerschnitten.“
„Mach kein Scheiß!“ Ich komme mir vor wie im falschen Film.
„Ich hab‘ zu viele Leute da mit reingezogen, die da definitiv nicht hingehören. Der ist bei uns aufgekreuzt, ich war nicht da. Tina hat ihn reingelassen, weil er gesagt hat, er ist ein Kumpel von mir. Irgendwann ist er dann ätzend geworden – hat rumgebrüllt, Zeug zerkloppt und sie erst geschlagen und dann mit dem Messer verletzt. Der hat so’n Ding mit Frauen am Laufen …“
„Fuck!“
„Es tut mir echt leid, dass du immer noch bei ihm auf dem Radar zumhängst. Ich klär das, und dann bist du das raus, in Ordnung? Mach dir keinen Kopp …“
Ohne eine Antwort beende ich das Gespräch. Bin wie benommen.

Immer noch in Trance ziehe ich mich im Bunker um. Streife die Klamotten, die Dirty mir mitgebracht hat, über. Höre gar nicht, was er und Mustafa mir erzählen – es ist, als hätte jemand bei mir das Volume runtergedreht.
Dirty haut mir auf die Schulter. Wahrscheinlich, um mir zu sagen, dass er vorgeht. Hatte mich übers Telefon gezwungen, mit ihm trainieren zu gehen: „Dann kommst du auf andere Gedanken. Kannst die ganze Scheiße in Energie und Muskelkater umsetzen. Ich bring dir Zeug mit.“
Die Idee, meinen emotionalen Schmerz wenigstens teilweise in physischen zu verwandeln, hatte mir gefallen. Ich beuge mich vor, schnüre mir meine Straßen-Sneakers zu. Dirtys Schuhe passen mir nicht, aber Tomte ist es völlig egal, mit was für Schuhe wir hier drinnen rumlaufen.
Ich gehe in den Trainingsraum. Dirty steht im Freihantelbereich, quatscht mit einem schlaksigen Blonden, den ich nicht kenne. Als er mich aus der Umkleide rauskommen sieht, winkt er mir zu, kommt rüber. Ich verziehe das Gesicht, setze mich aber in Bewegung. Es war eine beschissene Idee, hierher zu kommen. Als ich an Tomtes Schreibtisch vorbeigehe, schaut der hinter seiner Zeitung vor. Steht auf, raschelt, knistert. Setzt an, um was zu sagen, aber Dirty springt an den Tisch und hämmert ihm die flache Hand auf die Platte. Tomte erschreckt sich nicht weniger als ich – Dirty droht ihm mit dem Zeigefinger. Ich verstehe nur Bahnhof. Tomte auch, aber er hält die Klappe.
„Was wird das?“, will ich wissen. Dirty antwortet nicht. Dreht mich stattdessen an der Schulter Richtung Freihantelbereich, schiebt mich an. Wirft dem kleinen Türken über die Schulter noch einen weiteren bösen Blick zu.
„Habt ihr alle eine Macke?“ Aber eigentlich interessiert mich nicht, was die Kasper da für eine Show abziehen. Eigentlich will ich nur meine Ruhe. Hätte Dirty sagen sollen, dass er mir einen Mp3-Player mitbringt. Sein hartes holländisches Gabber wäre jetzt genau das Richtige, um die Welt zum Verstummen zu bringen. Bis zu 190 beats per minute würden vermutlich ausreichen, um mir das Hirn rauszuschrauben.
„Pecs?“, will Dirty wissen. Ich nicke – mir egal, mit was wir anfangen. Er deutet stumm auf die Hantelbank, bedeutet mir, mich hinzulegen.
Normalerweise würde er aufs Warmmachen bestehen, aber heute will er mich nur möglichst schnell fertig machen. Mich KO kriegen, damit ich aufhöre zu denken.
Er wuchtet die fetten Scheiben aus Gusseisen auf die Stahlstange, die in ihrem Bett über mir ruht. „Bereit?“, will er wissen. Ich nicke.
Sehe aus dem Augenwinkel, wie sich die Adern an seinem Hals zeigen, als er das Gewicht anhebt und langsam auf meine ausgestreckten Arme runterlässt. Ich quittiere den Empfang mit einem Grunzen.
Noch funktionieren meine Ellenbogen wie eingerastete Gelenke – erst wenn ich die Arme beuge, bekomme ich die volle Ladung zu spüren.
Also los.
„Eins!“, ruft Dirty. Ich quetsche nur gequält Luft raus, als ich die Stange nach oben wuchte.
„Zwei!“ Meine Arme tun mir jetzt schon weh. Will nicht mal daran denken, wie viele Kilo Dirty da raufgeknallt hat.
„Drei!“ Seine Hände sind immer direkt an der Stange, wandern mit. Hoch und runter. Wenn bei mir die Lichter ausgehe, es dunkel vor den Augen schimmert und ich ums Verrecken die Arme nicht mehr gerade kriege – dann kommt er und hilft mir aus der Patsche.
Aber nicht ganz. Hebt nur gerade so viel mit, dass ich die Stange mit zitternden Armen hochbekomme. Und wieder runter.
Irgendwann beschließt er: Rien ne vas plus!
Packt die Stange und wuchtet sie zurück in die Halterungen. Ich liege einfach nur da und bin mit Atmen, Zittern und Atmen beschäftigt. Habe den Überblick verloren, weiß nicht, wie viele Reps, wie viele Wiederholungen ich geschafft habe.
Ich höre ein metallisches Schleifen. Er nimmt Scheiben runter. Und ahne, dass er gleich wiederkommt, will, dass ich weitermache. Mit weniger Gewicht, aber mehr Reps. Pyramidentraining – er reduziert solange das Gewicht, zwingt mich weiterzumachen, bis ich nicht mal mehr die offenen Hände über den Kopf heben kann.
Ich habe mich getäuscht – ich brauche kein Gabber, um mir die Seele leer zu machen. Gusseiserne Gewichte, an denen der Metallic-Lack überall abplatzt, tun es genauso.
Mit einem kleinen Lächeln sehe ich, wie Dirty über mir auftaucht und die Hände auf die Stange legt.
„Bereit?“
Ich nicke und beiße die Zähne zusammen.

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Kommentare zu diesem Text


 Melodia (23.04.10)
pyramidentraining.... ne da brauchste wirklich nichts anderes mehr um dein hirn zu verballern.. und den rest des körpers^^
die geschichte wird immer besser... freu mich schon auf den ganzen rest..

lg

 Mutter meinte dazu am 23.04.10:
Hey, danke ... :)
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