Modern

Kurzprosa zum Thema Abgrenzung

von  Didi.Costaire

Dieser Text gehört zum Projekt    Stilübungen nach Raymond Queneau
Vorwort

Zum besseren Verständnis empfiehlt es sich, zuerst die kurze Einleitung zu oben genanntem Projekt zu lesen.
Der Text wurde in neunundneunzig völlig unterschiedlichen Varianten als Buch veröffentlicht. Da dieses bereits im Jahre 1947 geschah, tragen meine Alternativversuche den Titel


Modern (Variante 1)

Also, mir ist vorhin was Abgefahrenes passiert. Ich sitz so im Bus und dann kommt da so ne olle Type rein. Voll behindert sah der aus. Der hatte total den langen Hals, ey. Und dann noch so nen seltsamen Schlapphut auf.
Der stand da voll blöd rum. Irgendjemand wollte dann an ihm vorbei, aussteigen oder so. Da hat der Typ vielleicht nen Aufstand gemacht. Ich wusste echt nicht, ob der gleich heult oder drauf losprügelt.
Und dann hat er sich auch noch neben mich gepflanzt. Ich dachte nur: Hallo?
Na ja, ich schnell raus aus dem Bus. Aber dann, gerade eben: Ich komm vom Bahnhof und geh zu McDonalds, mich mit Kevin treffen. Da steht so’n anderer komischer Typ in der Gegend rum. Ich hör so, wie der sagt: „Alter Freund und Kupferstecker, mich düngt, du hasst nicht mehr alle Knöpfe an der Leiste“, oder irgendwie so was ähnliches.
Ich denk so: Hallo? Was redet der denn für nen Scheiß? Ich guck so, mit wem er spricht, und dann seh ich schon wieder diesen Penner mit dem Giraffenhals. Das ist doch voll unnormal, ey!


Modern (Variante 2)

Er fiel mir schon auf, als er an der Busstation stand. Dort waren zwar sehr viele Menschen – schließlich war Rushhour - aber dieser schätzungsweise dreißigjährige, spindeldürre und pekige Heini mit dem verfilzten Hut stand weit abseits.
Ich hoffte schon zu der Zeit, dass er nicht in meinen Bus einsteigen würde. Doch er tat es gnadenlos und ich sah sogleich andere Fahrgäste, die sich die Nase rümpften, bevor er sich mir näherte und die ganze Luft in meiner Umgebung verpestete. Ich konnte ihn nicht riechen und kam doch nicht umhin, es zu tun. Da fragte ich mich, wie ein einzelner Mensch fähig war, so zu modern. Ob es wohl an seinem langen Hals lag, in dem sich vielleicht besonders viele Bakterien bildeten?
Ich nutzte jedenfalls die erste Gelegenheit, aus seinem Dunstkreis zu verduften. Dann stellte sich heraus, dass der anrüchige Kerl nicht nur ein Stinktier, sondern auch ein Stinker war. Als ich mich von meinem Platz erhob, drängelte er mich gleich weg, um sich selbst draufzusetzen. Dabei pöbelte er mich sogar an.
Zwei Stunden später habe ich ihn noch einmal aus halbwegs sicherer Entfernung an der Cour de Rome vorm Bahnhof Saint-Lazare gesehen, zusammen mit einem ebenso beleibten wie verruchten Zeitgenossen.  Möglicherweise hat der ihm gesagt, dass aus allen Knopflöchern Verwesungsgeruch käme. Er hat zumindest mit spitzem Finger auf seine Brust gedeutet. Mich würde nicht wundern, wenn dem Dicken daraufhin die ganze Hand abgefault wäre.


Anmerkung von Didi.Costaire:

[exturl=] Alle Stilübungen von Queneau
sind im Internet frei verfügbar und sehr zu empfehlen.
Liebe Judith, danke fürs Aufstöbern![/exturl]

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Kommentare zu diesem Text


 loslosch (17.10.10)
Wenn Du jetzt die Wortzahl in den Varianten angegeben hättest ... Naja, man sieht es so schon. Ich denke, gelesen ist die 2. Variante leichter, gesprochen wohl die 1. Variante. Das ist so, das war so und das bleibt so. Lothar

 Didi.Costaire meinte dazu am 17.10.10:
Lieber Lothar, Version eins hat laut Word-Zähler incl. Überschrift ohne Zusatz in Klammern 184 Worte, Version zwei 235 Worte. Der Ausgangstext besteht aus 112 Worten. Was sagt uns das nun?
Danke für deinen Kommentar und das grammatische Auge!
LG, Dirk

 loslosch antwortete darauf am 17.10.10:
25% mehr an Wörtern. Aber es ist ja inhaltlich nicht 1:1 berichtet. Ich denke an das berühmte Goethe-Zitat aus einem Brief an seine Schwester: Da ich keine Zeit habe, wird der Brief etwas länger. Auch das passt hier nicht. Sprachstil UND Objektiv des Fotografen sind verändert. Keine Ahnung. (- _ -) Lo

 Didi.Costaire schrieb daraufhin am 17.10.10:
Auch Queneau hatte wahrscheinlich wenig Zeit - jedenfalls sind die meisten seiner anderen Texte länger als das Ausgangsmaterial.
Drei sehr kurze Varianten sind auch dabei, zwei davon recht experimentell und abstrakt, dieser hier prägnant,
Tanka

Der Autobus kommt
ein Laffe mit Hut steigt ein
Ein Rempeln geschieht

Später vor Saint-Lazare
dreht es sich um einen Knopf
dafür aber nicht besonders spannend.
(Antwort korrigiert am 17.10.2010)

 Emotionsbündel (17.10.10)
Mein lieber Freund und Kupferstecher,

da hast du dich ja umgehend an die Arbeit gemacht

Gut gelungen, Schatzi.
Variante 1 ist mein Favorit.

Liebste Grüße,
Judith

 Didi.Costaire äußerte darauf am 17.10.10:
Ja, Liebste, ob als Kupferstecher oder doch lieber als Freund: Wenn mich die Begeisterung erst einmal packt...
Und dieses im Handy-Zeitalter so häufig zu hörende Ich-sag-so-Blabla wollte ich schon seit längerem mal verwursten - daher ist die erste Version auch mein Favorit.
Danke nochmals für die flotte Internet-Recherche, und ebenso für deinen Kommentar.
Allerliebste Grüße, Dirk

 Emotionsbündel ergänzte dazu am 18.10.10:
:-** bleib begeistert ...
und bitte schön, hat mich gefreut *
süßen Gruß :-***
steyk (57)
(17.10.10)
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Müller (45) meinte dazu am 17.10.10:
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steyk (57) meinte dazu am 17.10.10:
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 Didi.Costaire meinte dazu am 17.10.10:
Ja, lieber Stefan, es ist eine spannende Geschichte, und einige Ideen dazu habe ich zumindest. Schaun mer mal, was noch kommt.
Ob man zusammengesetzte Verben auch zusammen schreibt oder auseinander, ist mir selbst oft ein Rätsel, und so ganz astrein ist die deutsche Grammatik beim Weiterspinnen auch nicht. Jedenfalls sieht man bei diesem Verb im
 Imperativ,
dass nicht nur die Römer spinnen.
@ Müller: Auch dir vielen Dank fürs aufmerksame Lesen, Tom!
LG, Dirk
(Antwort korrigiert am 17.10.2010)

 Dieter_Rotmund meinte dazu am 18.10.10:
Ich finde Version 2 interessanter, da Didi hier offenbar "modern" mit olifaktorisch/bakteriell gleichsetzt, was ich so bis dato nicht gesehen habe...

 Didi.Costaire meinte dazu am 18.10.10:
@ Dieter: Diese fundamental andere Bedeutung des Wortes bot sich natürlich an. Gewisse inhaltliche Parallelen (wenngleich sich der Stil stark unterscheidet) gibt es zu Queneaus "Geruchlich".
LG, Dirk

 harzgebirgler (11.12.18)
wenn sich wer so übt im stil
ist das schon kein kinderspiel
und verrät viel sprachgefühl.

beste grüße
henning

 Didi.Costaire meinte dazu am 13.12.18:
Ich texte gerne stumpf mit Stil
und mache sonst auch ziemlich viel.
Ich bin ein Junge halt aus Kiel.

Danke dir und beste Grüße, Dirk
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