Nachkriegskindheit

Erzählung zum Thema Heimat

von  Sanchina

Ein kleines Kind irrt heimwärts durch ein akkurates Planquadrat, in dem jeder Stein da ist, wo er hin gehört. Dem Kind ist speiübel vor Angst, weil dieses Planquadrat jetzt sein Zuhause ist, nicht länger das Märchenland seiner bisherigen Kindheit.

In einer mittelalterlichen Stadt zu leben ist für ein Kind, als wandelte es täglich durch ein aufgeschlagenes Märchenbuch. Die Türme einer mittelalterlichen Burg stehen für den Mensch, das Menschenwerk und für die Ewigkeit. Diese Symbolik versteht auch ein Kind, das noch nicht schreiben kann. Die früheren Bewohner der mittelalterlichen Stadt konnten ja auch nicht schreiben.


Die wieder aufgebaute Stadt umgab das Kind mit buntem Glanz, mit Weisheit aus uralter Zeit, mit bezaubernden Legenden und dunklen, bemoosten Gemäuern, die von all dem erzählten.

Die Mutter bewegte sich auf das Kind zu, packte es, riss seine zarten Wurzeln aus, um es zu verpflanzen.  Dabei zersplitterte die Märchenwelt in Tausende von Trümmern. Die vom Krieg zerstörte Stadt war wieder spürbar.

Das Kind schrie auf. Es spreizte seine Finger, als könnte es mit jedem ein Teilchen seiner kleinen Welt festhalten. Doch die Märchenwelt zerbarst in dem Moment, als das Kind aus ihr gerissen wurde.

Das Planquadrat erweist sich als übermächtige Wirklichkeit, die jegliche Erinnerung zerstört. Die Märchenwelt erhält sich nur in einer Sehnsucht, die wortlos, aber schmerzhaft ist, bebildert nur durch die vom Krieg zerstörte Stadt.

Im Planquadrat ist Platz für Kinder ausdrücklich vorgesehen: in den Reihenhäuschen gibt es Kinderzimmer, kaum größer als Schuhschachteln; doch immerhin sind es eigene Zimmer für die Kinder. Und am Rand der Siedlung gibt es eine neue Schule.

Im Planquadrat riecht es nach Kalk und Farbe. Die Mauern sind grell weiß und unbelebt, moos- und geschichtslos. Die Neubauten haben noch gar nichts zu erzählen. Und auch das Land murmelt nur mit tiefer, trauriger Stimme vor sich hin. Die Botschaft ist vollkommen unverständlich. Dieses Land  ist ein Lager gewesen. Das Leid artikuliert sich noch nicht.

Das Planquadrat ist für das Kind bedrohlich. Das Elternhaus ist sehr bedrohlich, weil darin eine Mutter haust, die ihre Kinder nichts weiter als das Fürchten lehrt, denn schon morgen könnte wieder Krieg sein. Die Schule ist ebenso bedrohlich, weil darin lieblose Lehrer wüten. Zwischen Elternhaus und Schule wird dem Kind stets schlecht vor Angst, egal, in welche Richtung es geht. Es wünscht sich einen alles zerstörenden Luftangriff auf das Planquadrat, dessen Symbol das Dreieck ist. Es steht für den Tod.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (05.06.11)
Dieser Text hat mich sehr berührt, Barbara. Du hast ihn einfühlsam und sehr sorgfältig komponiert.
Liebe Grüße
Ekki

 AZU20 meinte dazu am 06.06.11:
Da schließe ich mich gerne an. LG

 franky (27.12.13)
Hallo liebe Barbara,

„Im Planquadrat ist Platz für Kinder ausdrücklich vorgesehen: in den Reihenhäuschen gibt es Kinderzimmer, kaum größer als Schuhschachteln; „Das hat sich bis heute nicht geändert.“
„Es wünscht sich einen alles zerstörenden Luftangriff auf das Planquadrat,
Die Schule ist ebenso bedrohlich, weil darin lieblose Lehrer wüten.“

Alles Gedanken die ich gut nachvollziehen kann.

Herzliche Grüße

Von Franky
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