Noch ein letzter Blick in den Spiegel. Jedes Haar saß an seinem Platz, die Rasur war perfekt, jedes einzelne Barthaar war radikal abgemäht. Die rot-weiße Krawatte passte ausgezeichnet zu dem dunkelblauen Jackett und dem schlichten weißen Hemd.
Ich zog meinen schwarzen Mantel über und verließ das Hotel, um mich auf den Weg zu meinem Vorstellungsgespräch zu machen.
Ich spürte, wie ich schwitzte, obwohl draußen minus 10 Grad herrschten und alle anderen froren. Ich zündete mir eine Zigarette an, meine neunte an diesem Morgen und das auf nüchternen Magen. Ich hatte Probleme, die Zigarette anzuzünden, da meine Hände zu sehr zitterten. Essen konnte ich nichts, obwohl ich schon seit dem Vortag nüchtern war. Ich hatte zwar versucht, ein Brötchen zu essen, aber mein Mund fühlte sich zu trocken an, genauso wie das Brötchen. Es war unmöglich, etwas hinunter zu bekommen.
Meine Umgebung nahm ich nicht mehr wahr, zu sehr war ich mit meinen Gedanken beschäftigt. Den schönen Anblick von München konnte ich diesmal gar nicht genießen, obwohl ich bei meinen anderen Besuchen immer wieder aufs Neue begeistert war von dieser schönen Stadt.
Hier und da strömte der Duft nach frischen Brötchen aus einer Bäckerei, ich konnte den Geruch nach Essen jedoch nicht ertragen, nicht jetzt.
Ich fuhr mit der U-Bahn zu der Firma, wo ich mich vorstellen sollte. Während ich dort saß, dachte ich nach. Gleich war die Stunde der Wahrheit. Ich wollte den Job bekommen. Das wäre endlich die Gelegenheit, in München, meiner Traumstadt leben zu können. Bis hierhin war ich schon gekommen, jetzt musste ich nur noch den letzten Schritt machen und diesen Herrn Beyer davon überzeugen, dass ich der Richtige für den Job war.
"Du wirst es schaffen", hatten alle meine Freunde gesagt. Alle glaubten an mich und machten mir immer Mut.
Ich war am Ziel, von der U-Bahnstation waren es nur noch etwa 20 Meter bis zu der Firma. Ein Riesengelände war das, etwa so groß wie vier Fußballstadien. Das Personalbüro befand sich gleich im ersten Gebäude.
Ich hatte noch etwas Zeit für eine letzte Zigarette, danach ging ich hinein. Nun war es Zeit für Show-Time.
"Guten Morgen", sprach ich zu der Empfangsdame. "Mein Name ist Wegener, ich habe einen Vorstellungstermin." Die Frau rief das Personalbüro an, um mich anzukündigen.
"Einen Moment, der Personalchef wird Sie gleich abholen", sagte sie dann. Ich dankte.
Einen kurzen Moment später hörte ich auch schon Schritte und darauf erschien ein mittelgroßer grauhaariger Mann von etwa 50 Jahren.
"Guten Tag, mein Name ist Beyer, und ich bin Bayer", stellte er sich vor und reichte mir die Hand, während er über seinen Witz lachte. Vermutlich ein Witz, um das Eis zu brechen. Ich gab ihm ebenfalls die Hand. "Wegener", stellte ich mich vor. Er führte mich in sein Büro.
„Möchten Sie etwas trinken?“, bot er mir an. Ich lehnte ab, mit meinen zitternden Händen hätte ich möglicherweise etwas verschüttet und mich so verraten.
„Nun Herr Wegener, was hat Sie dazu geführt, sich in unserem Unternehmen zu bewerben, zumal Sie aus NRW kommen? Die meisten verlassen ja ungern ihre Heimat.“ Ich fand solche Fragen absolut überflüssig. In der heutigen Zeit suchte man sich keine Firma aus, sondern bewarb sich dort, wo Stellen angeboten werden. Ich hatte mich natürlich auch bei anderen Firmen beworben, auch bei welchen aus meiner Heimat.
„Es war ein Zufall“, fing ich an. „Als ich zuletzt hier in München war, habe ich in der U-Bahn mitbekommen, dass einige Leute positiv über Ihr Unternehmen gesprochen haben, was mich neugierig machte. Ich habe zu Hause im Internet recherchiert und war beeindruckt. Besonders das Unternehmensleitbild hat mir gefallen.“ Eine Lüge, ich hatte diese Antwort genau geplant. Ich wollte einfach nur einen Job haben und nach Möglichkeit in München.
Herr Beyer hatte aufmerksam mit einem Lächeln zugehört, welches sich, als ich den Satz beendet hatte, zu einem Strahlen umgewandelt hatte.
„So etwas gefällt mir“, antwortete er. „Ich mag Bewerber, die sich vorher mit unserem Unternehmen vertraut machen.“ Als wenn nicht jeder Bewerber eine ähnliche Antwort geben würde, dachte ich. Er fragte ja nicht einmal, was mir an dem Unternehmensleitbild gefiel.
„Ich habe bisher drei Angebote bekommen, aber mit Ihrer Firma kann ich mich am besten identifizieren“, fügte ich anschließend noch hinzu. Ich sprach wie jemand, der wirklich drei Angebote in der Tasche hatte, dabei hatte ich noch kein einziges erhalten, es standen gelegentlich noch zwei Bewerbungen aus.
„Ihr Zeugnis ist sehr gut“, meinte er beeindruckt, während er es betrachtete. „Selbstverständlich habe ich mir auch Ihren Lebenslauf genau angesehen. Dort ist mir aufgefallen, dass Sie viele verschiedene Nebentätigkeiten während Ihres Studiums durchgeführt haben, auch solche, die mit Ihrem eigentlichen Beruf gar nichts zu tun haben.“
Das war es dann wohl, dachte ich. Die meisten Kommilitonen von mir hatten schon Jobs in der richtigen Branche, wo sie nach dem Studium einsteigen konnten, während ich teilweise durch Knochenarbeit mein Studium finanzieren musste und kaum Erfahrungen hatte.
„Und genau das beeindruckt mich. Meine anderen Bewerber sind von ihren Eltern finanziert worden, aber was echte Arbeit ist, haben die gar nicht erfahren.“ Ich gab mir Mühe, nicht zu zeigen, dass ich überrascht von seiner Reaktion war. Noch nie hatte ich erlebt, dass jemand so dachte wie er.
„Könnten Sie sich vorstellen, mit uns zu arbeiten“, fragte er dann plötzlich. „Aber natürlich, ich würde mich freuen“, antwortete ich.
Ich konnte es gar nicht glauben, als ich hinterher das Gebäude verließ. So leicht hatte ich noch nie einen Job irgendwo bekommen. Entweder war dieser Herr Beyer sehr naiv, verrückt, oder er war einfach nur ein Mensch, der nicht diese dämlichen Prinzipien hatte, die andere Arbeitgeber alle hatten. Immerhin wusste ich, dass ich sehr wohl dazu in der Lage war, diesen Job zu machen.
Ich hatte es geschafft, endlich wurde mein Traum war, ich konnte nach München ziehen. Er wollte mir in den nächsten Tagen den Arbeitsvertrag zuschicken und im folgenden Monat durfte ich dort schon anfangen. Es war einfach zu schön, um wahr zu sein. Ich hatte einen Job und das in München. Das musste gefeiert werden, gleich Morgen, wenn ich nach Hause kam.
Ich machte einen kleinen Umtrunk für meine Freunde. Alle beglückwünschten mich.
„Wir haben es dir doch gesagt, dass du es schaffst“, sagte Christian.
„Ja, das habt ihr“, antwortete ich. „Ich danke euch allen, dass ihr so an mich geglaubt habt und mir immer Mut gemacht habt.“
„Du wirst uns echt fehlen, wenn du nicht mehr hier wohnst“, sagte Sonja.
„Ja, ihr mir auch“, erwiderte ich. Erst in diesem Moment wurde mir das bewusst, vorher hatte ich noch gar nicht darüber nachgedacht.
Ich hatte die ganze Nacht wachgelegen und nachgedacht. Am nächsten Morgen rief ich in meiner zukünftigen Firma an und verlangte Herrn Beyer. „Wegener, guten Morgen Herr Beyer“, sprach ich, als er sich meldete. „Ich habe gründlich nachgedacht und muss Ihnen leider mitteilen, dass ich Ihr Angebot doch nicht annehmen werde.“