Irgendwann kriegt jeder seine Chance

Kurzprosa zum Thema Ausweglosigkeit/ Dilemma

von  NormanM.

Unten stand die Menschenmasse, als er von oben zu ihr herabsah. Einige filmten, andere warteten nur und eine Dame feilschte mit einer anderen Dame, die einen kleinen Kaffeestand aufgebaut hatte, um den Preis für einen Becher Kaffee. Und ich ging zu ihm nach oben, nein ich rannte. Auf den Fahrstuhl wollte ich nicht warten, das dauerte viel zu lange. So entschied ich mich für die Treppe. Es musste anstrengend gewesen sein, die ganzen Stockwerke hochzurennen, aber nahm es nicht wahr. Ich rannte einfach nur. Dabei gingen mir viele Gedanken durch den Kopf.
Er hatte viel Pech im Leben gehabt. In der Schulzeit war er ständig von anderen Mitschülern fertig gemacht worden, oft war er an falsche Freunde geraten, die ihn letztendlich nur ausgenutzt hatten. Doch, was ihn am meisten belastete, war das ständige Scheitern im Berufsleben. Er fand einfach keinen richtigen Job trotz erfolgreicher Abschlüsse. Doch er wollte es nicht hinnehmen und kämpfte, obwohl er längst am Boden lag.
„Irgendwann kriegt jeder seine Chance“, sagte er immer.

Ich erreichte das Dach, erst jetzt spürte ich, dass ich völlig außer Atem war. Laut rang ich nach Luft, ich war sicher, dass er mich hörte, doch er drehte sich nicht um.
„Tu es nicht“, gelang es mir schließlich endlich zu rufen, während ich mich vorsichtig auf ihn zu bewegte. Er reagierte noch immer nicht.
„Es gibt doch immer eine Lösung“, sprach ich weiter. Nun stand ich fast neben ihm. Endlich drehte er sich zu mir um und zeigte ein Lächeln. Dieses Lächeln beruhigte mich. Er nickte.
„Irgendwann kriegt jeder seine Chance“, sagte er dann wieder.
„Ja, genau. Das hast du immer gesagt. Und die wirst du auch kriegen.“
„Ja“, nickte er noch immer. „Nur eben erst im nächsten Leben.“ Dann sprang er hinab in die Tiefe. Es passierte so schnell, dass ich nicht fähig war, auch nur ansatzweise zu reagieren. Vor Schreck fiel ich zurück. Das Aufprallen, das ich bis oben hörte, ließ mich zusammenzucken. Zitternd wagte ich nach einigen Sekunden einen Blick nach unten. Die laute Masse von Zuschauern hatte sich um seinen zerschmetterten Körper versammelt. Einige filmten noch immer mit ihren Handys.
Aus der Ferne ertönte die Sirene der Feuerwehr.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(05.05.13)
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 NormanM. meinte dazu am 05.05.13:
Ja, glücklicherweise ist es nur fiktiv.

 franky (05.05.13)
Hi NormanM,

Ausgezeichnet, spannend erzählt, echt gut.
War gerne bei dir zu Gast.

L-G Franky

 NormanM. antwortete darauf am 05.05.13:
Hallo Franky,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Ich freue mich, dass dir der Text gefällt.

LG Norman
Erdvater (61)
(05.05.13)
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 NormanM. schrieb daraufhin am 05.05.13:
Hallo, ja, das Ende ist absehbar.Parallel dazu ging es mir um das Verhalten der Leute: das Filmen dabei und das Feilschen um einen Becher Kaffee.

 Omnahmashivaya (05.05.13)
Ein sehr nachdenklicher und trauriger, aber auch realistischer Text. Es geht zum Einen um die Ausweglosigkeit und zum Anderen auch das Verhalten der Menschen. Das wird daraus deutlich. Es ist ja leider immer so, dass es schaulustige gibt, die dann den Rettern den Weg versperren, statt zu helfen und alles auch noch für facebook und youtube filmen müssen. Da ist es kein Wunder, dass bei solchen Mitmenschen, der Prot springt... Trauriger Text und gut, dass es fiktiv ist.

 NormanM. äußerte darauf am 06.05.13:
Vor allem, dass manche Leute da einen Kaffeestand aufbauen, um die Schaulustigen mit Getränken zu versorgen. Unglaublich.

 Omnahmashivaya ergänzte dazu am 20.09.13:
Kann mir vorstellen, dass es soetwas geben würde. Aber das war an der Geschichte leicht satirisch. Hatte den Text ja auch shcon mal gelesen und hatte noch in Erinnerung, dass der Prot Anlauf nimmt und springt, aber ich glaube das war die Szene aus einer Geschichte mit "Jens und dem Feuer"...

 Omnahmashivaya meinte dazu am 20.09.13:
Und es wird immer Menschen geben, die dann noch filmen etc. Ist wie beim Mobbing, wo immer noch einer zusieht oder mit draufhaut.
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