Vorne einsteigen

Kurzprosa zum Thema Unverständnis

von  NormanM.

Vorne einsteigen, hinten aussteigen.
Ab sofort gilt der kontrollierte Einstieg vorn. Die Vorteile für Sie:
- kein Gedrängel beim Einsteigen
- kein gegenseitiges Behindern beim Ein- und  Aussteigen
- durch den bereits vom Fahrer kontrollierten Einstieg hat unser Begleitpersonal noch mehr Zeit für Informationen und Ihre Fragen


Diesen Aushang las ich an der Bushaltestelle, an der ich nach meinem Einkauf auf den Bus wartete. Ob diese Vorteile wirklich so sehr ins Gewicht fallen, fragte ich mich. Schließlich müsste ich jetzt jedes Mal vor dem Einsteigen nach meiner Fahrkarte kramen. Sicherlich handelte es sich um eine Personalsparmaßnahme. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dann wirklich noch Kontrolleure eingesetzt werden, das wäre ja völlig sinnlos, wenn der Fahrer die Tickets schon kontrolliert. Dann könnten ja eigentlich auch die ohnehin überteuerten Fahrpreise gesenkt werden.

So eben traf der Bus ein. Da die Haltestelle sich mitten im Zentrum befand, warteten außer mir noch eine Menge anderer Fahrgäste. Tatsächlich stellte sich niemand den aussteigenden Fahrgästen in den Weg, als der Bus gehalten hatte. Alle Fahrgäste konnten völlig bequem aussteigen. Allerdings konnten sich die vielen Einsteigenden, nachdem alle ausgestiegen waren, nun nicht wie früher auf die drei Eingänge, die dieser Bus hatte, verteilen, sondern mussten alle vorn einsteigen. Es bildete sich eine Riesenschlange. Es ging nur mäßig voran. Normalerweise wären inzwischen alle eingestiegen, aber diesmal war noch nicht einmal die Hälfte eingestiegen.

Endlich, ich konnte einsteigen. Allerdings war dies alles andere als einfach. Ich hatte fünf Einkaufstüten bei mir, für die ich kaum Platz in den Händen hatte und jetzt konnte ich auch noch meine Fahrkarte vorzeigen. Während ich die Hand hochhielt, damit der Herr am Steuer auch alles genau sehen konnte, fielen mir zwei Tüten aus der Hand. Und natürlich fiel auch aus den Tüten Ware heraus. Fluchend bückte ich mich, was in dem Gedrängel gar nicht so einfach war und hinter mir regten sich die Leute auf, weil es gerade nicht weiter ging.
„Ein supertolles System“, sagte ich laut. „Das sind ja wirklich tolle Vorteile hier.“
Am liebsten wäre ich ausgerastet. Fluchend ging ich weiter, wobei ich, so voll wie es war, mit meinen Tüten jeden streifte, worüber sich auch alle aufregten, wobei es nicht meine Schuld war. Normalerweise wäre es besser, dort stehen zu bleiben, wo ich war, aber hinter mir drängten ja auch alle, dass man doch bitte durchgehen solle, damit alle einsteigen konnten.

Nach einigen Haltestellen wurde es glücklicherweise leerer im Bus, zwar nicht so leer, dass ich mich hinsetzen konnte, aber wenigstens war ich nun nicht mehr zwischen Fahrgästen eingeklemmt.
„Guten Tag, die Fahrausweise bitte“, ertönte es plötzlich. Da hatte sich doch irgendjemand einen Scherz erlaubt, unsere Tickets wurden doch gerade kontrolliert. Nein, ganz und gar nicht, tatsächlich wanderten drei Männer durch den Bus mit ihren Geräten und kontrollierten. Der erste ganz vorn, der zweite ging in den hinteren Bereich des Busses, wo er mit der Kontrolle begann und der dritte kam direkt auf mich zu.
„Guten Tag, Ihren Fahrausweis.“
„Das ist doch wohl jetzt nicht Ihr Ernst“, gab ich zurück.
„Doch, wieso?“
„Ich habe doch gerade schon beim Einsteigen meine Fahrkarte vorgezeigt und hatte die Hände voller Tüten. Jetzt kann ich schon wieder kramen.“
„Ja und? Wurde die Fahrkarte denn kontrolliert?“
„Ja natürlich, der Fahrer hat sie doch gesehen.“
„Das heißt doch trotzdem nicht, dass er sie richtig kontrolliert hat.“
„Wieso muss ich sie denn dann vorzeigen, wenn sie eh nicht richtig kontrolliert wird? Damit sich draußen nur unnötige Warteschlangen bilden und sich alles noch weiter verzögert? Wo sind denn da die Vorteile für uns? Das ist doch alles totaler Quatsch.“
„Junger Mann, wir machen hier Service…“
Das nennen Sie Service“, fiel ich ihm ins Wort und konnte nur spöttisch darüber lachen. „Weil Sie jetzt mehr Zeit haben, um Auskünfte zu erteilen und unsere Fragen zu beantworten?“
„Ja, ganz genau.“
„Ich habe aber keine Frage. Ich weiß, wo dieser verdammte Bus hinfährt, ich weiß, wo ich aussteigen muss, ich weiß, wann er kommt. Und wie können Sie mehr Zeit haben als vorher, wenn der Fahrer doch nicht richtig kontrolliert? Oder kontrollieren Sie nur den Teil des Tickets, den der Fahrer nicht kontrolliert hat?“
Inzwischen hörten schon einige Fahrgäste aufmerksam zu. Da ich kein Aufsehen erregen wollte und meine Kritik sowieso auf null Verständnis stieß, holte ich schließlich mein Ticket hervor.

Ich beschloss, mir nun wieder ein Auto zu kaufen, einfach irgendeinen gebrauchten Kleinwagen. Eigentlich wollte ich etwas Gutes für die Umwelt tun und auf ein Auto verzichten, so lange es genug Busse und Bahnen gab. Schade, dass man durch solche Hindernisse seine guten Vorsätze bricht und doch wieder zum Auto fahren verleitet wird.

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Kommentare zu diesem Text

chichi† (80)
(24.10.12)
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 AZU20 meinte dazu am 24.10.12:
Dem kann man wirklich nur zustimmen. LG

 NormanM. antwortete darauf am 24.10.12:
Hallo zusammen,

das Traurige ist, dass, wenn man seine Meinung ausspricht, immer der Einzige ist, der sie ausspricht, obwohl genug andere eigentlich dieselbe Meinung vertreten.
Beispiel: Neulich rastete ein Mann übelst aus, als, nachdem der Zug über eine halbe Stunde Verspätung hatte und dann auch noch ohne das Abteil fuhr, in dem sich der von ihm reservierte Sitzplatz befunden hätte, direkt nach dem Einsteigen der Schaffner kam und die Fahrkarten kontrollierte. Alle machten sich nur über ihn lustig. Ich war der einzige, der sich auf seine Seite schlug und sagte, dass er doch Recht habe. Es kann eben nicht sein, dass für Verspätungen keine Entschädigungen angeboten werden, das Geld für einen vergeblich reservierten Sitzplatz nicht zurück erstattet wird, stattdessen vom Schaffner nur die Aussage kommt "Gucken Sie einfach mal, ob Sie sonst irgendwo noch einen Platz finden", aber vom Fahrgast erwartet wird, dass er alles richtig macht.
Es regen sich so viele Menschen über die Bahn auf, weil man sich nicht auf sie verlassen kann, aber in solchen Situationen sagt keiner etwas.

 EkkehartMittelberg (24.10.12)
Sehr anschaulich geschildert, Norman. Wer könnte deinen Ärger nicht nachvolloziehen?
LG
Ekki

 NormanM. schrieb daraufhin am 26.10.12:
Hallo Ekki, da gibt es einige, die den Ärger nicht nachvollziehen können. Auf einer anderen Schreiberplattform hat sich jemand ziemlich über diesen Text aufgeregt.

LG Norman

 EkkehartMittelberg äußerte darauf am 26.10.12:
Ich vermute, dass du auf Durchzug geschaltet hast, Norman.
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