Ein Stadtmärchen

Skizze zum Thema Märchen

von  blauefrau

Mein Vater hatte seine leere Branntweinflasche zerschlagen und sich mit einer größeren Scherbe in Stellung gebracht. Er suchte jemanden zum Verprügeln. Ich flüchtete mich daher auf den Jahrmarkt  und landete bei Clea, die wenig Kundschaft hatte und Zeit fand, mir einen Kakao mit Rum zu kochen und ein paar Worte rüber zu werfen. Sie gab mir Geld, zwei Euro, wie schon oft, und ich schlenderte zu dem Stand mit den Märchendiedieweltnochnichtgesehen hat. Kein Kind weit und breit. Ich warf die Münze in den Geldschlitz und drückte mein rechtes Auge auf das Guckloch.

Als erstes sah ich seine blauweißen Flanken schimmern. Mein versteinertes Gesicht hellte sich auf, doch das Einhorn entzog sich mir je näher ich kam, und sein letzter flehender Blick lenkte meine Augen auf einen weiten Teppich aus Wurzeln und Tannennadeln und Ameisen und Borkenkäfern. Ich schaute hinüber zu dem Stapel mit den Holzstücken, der an einen hohen Baum gelehnt war. Hier sah ich es verschwinden, und ich hörte noch ein Wispern, erkannte aber den Plan des Einhorns nicht. Ich blickte hoch und erkannte ein schwarzes Flügelkleid, an dem sich ein kleines Gesicht befand und das in einem dunklen Loch in einem der Kästen am Baum verschwand.

Ich trat tiefer in den Wald. Von den Elfen war nichts zu erwarten. Sie waren zu sehr in ihr Gespräch vertieft und blickten nicht einmal auf, als ich vorüberging. An meiner Hand fühlte ich plötzlich etwas Klebriges, das sich als ein zerrissener Spinnweben entpuppte. Die Sonne zitterte ihr Licht durch dies Gewebe. Zarte Schatten bildeten sich auf meiner Hand und umschlossen sie bald wie ein Handschuh aus grauer Spitze. Durstig wie ich war, lief ich an den Schattenrand und griff in der Hocke nach kleinen roten Walderdbeeren. Ihren köstlichen Geschmack verbreiteten sie schnell in meinem Mund. Angrenzendes Moos zwang mich es zu berühren. Das weiche dunkelgrüne Kissen stellte meine weiße Hand wie ein Kunstwerk aus. Käfer, die dort krabbelten, leuchteten Edelsteinen gleich aus dem Moos. Winzige Holzstücke, von ihnen zusammengetragen, bildeten ein filigranes Gerüst, das wie ein Mikadowurf abstürzte, als ein Laubfrosch es streifte. Ich richtete mich an einem Farn auf, aus dem endloses Grün zu strömen schien. Mit einem Fuß geriet ich dabei in einen Blätterhaufen. Mein Scharren legte einen Vogelleichnam frei, in dessen schwarzgrün - glänzenden Leib Würmer Tunnel gegraben hatten. Ein Requiem aus Vogelgezwitscher begleitete mich zu einem morschen Baumstumpf. Gelb, feucht und zerfallen bot er Schwammpilzen und grünen Baumsprösslingen noch Nahrung für ihr junges Leben.

Ein irres Spiel aus Licht und Schatten löste plötzlich ein derartiges Flirren aus, dass meine Augen versagten. Blind stolperte ich weiter, bis ich an einer Lichtung meine Augen öffnete. Grauer Beton fräste sich durch grelles Sonnenlicht in meine Augen. Ich nahm einen Stift aus meiner Tasche und markierte die Mauer. Es war klar, dass diese Mauer fallen musste, und um meinem weiteren Anspruch zu genügen, ließ ich durch monotones Pfeifen den Waldteppich soweit vorschnellen, bis er ein erstes  Haus hinter der Mauer erreichte, über dessen Vorderwand bis zum ersten Fenster hochkroch und das Fenster aus dem Rahmen sprengte.

Ich hörte Stimmen schreien, und ich lockerte die Wurzeln etwas, so dass ein paar Kinder entkommen konnten. Ein Mann erschien am Fenster, von Wurzeln, Gras und Blättern umwunden. Seine Bewegungen waren verzerrt und verlangsamt, und nach wenigen Minuten stand er still wie ein Baum.

Alles stockte, und ich sah, dass die 2 Euro abgelaufen waren. Noch mehr würde ich nicht bekommen, denn da war Clea eisern. "Höchstens einmal am Tag gebe ich Dir Geld!", und daran hielt sie fest. Ich stromerte über den Markt und hielt mich ein paar Stunden an den Autoscootern auf. Schließlich machte ich mich an  Paules Stand bemerkbar und ließ mir eine kleine Tüte mit gebrannten Mandeln schenken, bevor ich mich nach Hause trollte.


Anmerkung von blauefrau:

Überarbeitet.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (11.03.13)
Diese Erzählung hat keine zu Ende geführte Handlung, wie es bei den traditionellen Märchen der Fall ist. Aber darum geht es hier auch gar nicht. Durch jeden neuen Blick durch das Guckloch wird eine unendliche Welt der Fantasie freigesetzt, die unerschöpflich ist.
LG
Ekki
ues (34)
(12.03.13)
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 blauefrau meinte dazu am 12.03.13:
Ich hoffe für ihn. Der Vater könnte schlafen.

... und wenn er nicht erschlagen wurde...

Merci für die Auseinandersetzung und viele Grüße blauefrau

 princess (12.03.13)
Der Blick durch das Guckloch hat es in sich. Er lässt Durcheinander erkennen. Und das ordnende Potenzial des hier wahrnehmenden LyrI. Vielleicht ist
ein Stadtmärchen
auch etwas statt eines Märchens.

 blauefrau antwortete darauf am 17.03.13:
Anstattmärchen oder Stattmärchen - ein postmodernes Märchen.

Dein Buchstabentausch - sehr anregend. Beste Grüße blauefrau
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