Der Sandmann

Kurzgeschichte

von  Judas

Als ich Nate an diesem Abend traf, wirkte er nervös. Unstet, übermüdet und gehetzt. Er war wie einer dieser Paranoiden, die sich stets nach unsichtbaren Verfolgern umsahen. Ich bestellte ihm ein Bier und hoffte, ihm damit etwas Ruhe verschaffen zu können.
Nate war ein sehr kreativer Mensch. Ich würde nicht soweit gehen und sagen, er war Künstler. Aber er hatte eine rege, lebendige Vorstellungskraft. Sein Interesse galt vor allem der Technik – aber nicht Computer oder Autos waren es, die ihn faszinierten, sondern mechanische Kunst: komplizierte Uhrwerke, Roboter und fantastische Unikate aus Metall und Zahnrädern. Wie ich erfahren sollte, beschäftigte ihn in dieser Nacht nichts davon.

„Nate! Du siehst gestresst aus, nimm dir ein Bier. Wie war dein Tag?“, begrüßte ich ihn.
„Ich habe ihn gesehen.“, entgegnete er nur leise und schaute sich verstohlen um.
„Ihn? Wen?“ - „Den Sandmann.“ - „Ja, der kommt immer um dieser Uhrzeit im Fernsehen, an dem ist doch nichts-“ - „Du verstehst nicht. Ich rede nicht von der animierten Puppe, die sie in der Kindersendung zeigen. Ich rede von dem Sandmann, verdammt. Als ich ihn das letzte mal sah, war ich noch ein kleiner Junge. Aber heute... vorhin... ich sah ihn am Straßenrand, er verkaufte Brillen. Sonnenbrillen... pah... 'sköne oke', hat er  gerufen, oke – ja – Augen! Glaubte er etwa, ich wüsste nicht, was er wirklich meint...“ -
„Nate... hey... Hey! Nathanael! Wer ist der Sandmann?“ -

„... ein Dämon aus der alten Welt. Ein Relikt aus den Zeiten, in denen die Menschen die Kreaturen der Alpträume noch nicht vergessen oder verharmlost haben.
Als ich ein Junge war, traf mein Vater sich zu gewissen Zeiten mitten in der Nacht mit einem Mann. Mutter schickte uns Kinder immer ins Bett und ließ uns schwören, still zu sein. In diesen Nächten blieb sie bei uns im Zimmer. Mein Vater, du kennst ihn, er ist normalerweise immer gut drauf und sich für keinen Kalauer zu schade, er war in so einer Nacht immer so ernst... und müde. Ich konnte da nie schlafen. Ich weiß nicht, wie meine Geschwister es geschafft hatten, einzuschlafen, aber ich konnte es nicht. Ich erinnere mich noch ganz genau an diese Schritte... schwere, langsame Schritte. Es klang auf der Holztreppe als würde der Gast meines Vaters Stahlkappenschuhe tragen. Oder auf Klauen statt Füßen laufen. Es war jedenfalls unmöglich, bei diesem Geräusch Schlaf zu finden. Auch wenn meine Mutter 'Der Mond ist aufgegangen' mit warmer Stimme sang, diese Schritte, sie waren zu laut. Allgegenwärtig. Sie... hallten in meinem Kopf wieder.

In jeder Nacht, in welcher dieser Mann, dieses Ding zu uns kam, kamen mir groteske Bilder seines Aussehens in den Kopf. Diese Gestalten verfolgten mich seid jeher in meinen Träumen. Ich sah die Bilder so klar und deutlich vor meinem inneren Auge, dass es sich unmöglich um bloße, kindliche Fantasie handeln konnte... eine große, humanoide Gestalt mit breiten Schultern und einem kurzen Hals, auf welchem ein fetter Kopf saß. Die Augen waren rund und saßen tief in ihren Höhlen, stierten aber ohne je zu blinzeln tief in meine Seele. Die Nase sah aus wie der gebogene Schnabel eines Raubvogels und der Mund war eine breite, lippenlose Fratze, gespickt mit dünnen, krummen, bleichen Zähnen. Die Hände wurden von krummen, klauengleichen Fingern mit langen, schwarzen Nägeln geprägt... und ich schreckte jedes Mal schweißgebadet aus diesem Alptraum auf, wenn es diese widerlichen Krallen, die an seinen langen Armen hingen, nach meinem Gesicht ausstreckte.

Irgendwann aber, in einer dieser Nächte da... schlich ich mich heraus. Heute weiß ich, das war der schlimmste Fehler meines Lebens. Ich vergewisserte mich, dass meine Schwestern schliefen. Ich wartete, bis meine Mutter an meinem Bett eingenickt war.

Leise schlich ich aus dem Zimmer über die Dunkelheit des Flures, so leise, dass ich nur das Rauschen des Blutes in meinen Ohren hörte und meinen eigenen, gehetzten Herzschlag. Ich sah, wie die Tür zum Arbeitszimmer meines Vaters einen winzigen Spalt weit offen stand, so dass ein schmaler Hauch gedämpften Lichtes auf den Boden fiel. Ich hörte Stimmen. Die eine war die meines Vaters – doch sie klang erschöpft. Die zweite aber war die Stimme dieses grässlichen Mannes, der meine Familie regelmäßig heimsuchte. Eine tiefe Stimme, der jedoch ein eigentümliches Summen und Krächzen innewohnte, kaum wahrnehmbar und doch schmerzte es meine Ohren. Jedes Wort von ihm wurde von diesem Ton begleitet, nicht menschlich aber auch nicht der Laut eines Tieres, ein urtümliches Kratzen, ich kann es nicht näher beschreiben... aber ich höre es noch immer, verstehst du?
Ich schlich also zur Tür und spähte mit einem Auge durch den offenen Spalt. Ich konnte anfangs nicht viel sehen... meinen Vater, der im Raum auf und ab ging und der Schatten einer großen, massigen Gestalt. Dieser Schatten war zu dunkel. Als würde die Finsternis selbst ihn werfen.

Die Neugier in mir war größer als meine Angst und so schob ich vorsichtig und sehr, sehr langsam die Tür ein winziges Stück weiter auf. Ich brauchte Minuten dafür – kein Geräusch, keine Bewegung sollte mich verraten. Und dann... dann... ich- ich sah ihn. Im Profil. Ein großer, massiger Mann in schwarzem, gebügelten Nadelstreifenanzug. Seine Haare waren ebenso dunkel wie seine Kleidung und schulterlang. Sie waren seltsam strähnig, verfilzt, sie erinnerten mich eher an die Federn eines kranken Rabenvogels als an Haare.

Ich beobachte den Mann und meinen Vater lange. Wie lange, das weiß ich nicht, aber es kam mir vor wie Stunden. Ich weiß nicht, worüber sie sprachen, denn ihr Gemurmel war gedämpft. Und so sehr ich mich auch fürchtete, irgendeine höhere Macht zwang mich, wie gelähmt am Türspalt zu verharren und diesen Mann anzustarren.

Bis...

Bis er seinen Kopf zur Tür drehte. Und sein Blick direkt meinen traf. Und ich schwöre dir, Lothar, es waren die Augen der Kreatur aus meinen Alpträumen. Sie waren ihnen nicht ähnlich oder glichen ihnen, sie waren identisch. Es waren diese grässlichen, schwarzen vollkommen runden Augen, die tief in den Höhlen des unförmigen, bleichen Gesichts des Mannes saßen. Die nie blinzelten. Die dünnen Lippen des massigen Kerls verzogen sich zu so etwas wie der Farce eines Grinsen, als er mich entdeckte und er streckte die Hand nach meinem Gesicht aus. „Schöne Augen!“, hörte ich ihn höhnisch rufen und ich schwöre, dass unmenschliche, unirdische Kratzen in seiner Stimme war nun viel lauter.

Als mein Vater merkte, was passiert war, fuhr er erschrocken herum und starrte ebenfalls zur Tür. Er war kreidebleich im Gesicht und rief mit einem Mal laut und bestimmt „Nein!“, während er im selben Moment den ausgestreckten Arm des Mannes herunterriss.

Danach verlor ich mein Bewusstsein. Nach dieser Nacht war ich lange krank und ich träumte von nun an jede Nacht von dieser schrecklichen Kreatur, welche nach meinen Augen gierte. Aus diesen Träumen wachte ich nicht auf, wenn das Wesen seine Hand nach meinem Gesicht ausstreckte – nein, stattdessen musste ich jedes Mal im Alptraum durchleben, wie er lachend meine Augen heraus riss. In schmerzender Blindheit gefangen war alles, was ich wahrnahm, das furchtbare, krächzende Lachen meines Peinigers.
Ich erholte mich nur langsam, aber das menschliche Gehirn ist zu Erstaunlichem fähig wenn es darum geht, zu vergessen.

Bis heute, Lothar. Bis heute. Denn er ist zurück gekehrt, ich habe ihn gesehen, der Sandmann hat mich gefunden... und er wird seine Beute einfordern. Er wird mir das Augenlicht nehmen und mich als Krüppel mit blutigen Augenhöhlen zurück lassen; dazu verdammt, sein Gesicht auf ewig in mein Gedächtnis gebrannt zu haben und für immer sein schreckliches Lachen zu hören.“

Hier endete Nates Geschichte. Es ist nicht verwunderlich, dass sie mich halb ungläubig, halb mit Schrecken erfüllt zurück ließ. Dies war das letzte Mal, dass ich Nathanael gesehen habe... bis heute ist sein Verbleib ungeklärt. Die Polizei hat zwar weder eine Spur noch einen Leichnam gefunden, geht aber von dem Schlimmsten aus. Ich erzählte der Kripo von dem Brillenverkäufer, aber es ließ sich niemand in der ganzen Stadt finden, auf den diese Beschreibung gepasst hätte. Aufgrund der Ereignisse recherchierte ich selbst und fand schließlich folgende Zeilen in einem alten Buch, welches mit längst vergessenen Ammenmärchen und Schauergeschichten gefüllt war:


„Der Sandmann ist ein böser Mann, der kommt zu den Kindern, wenn sie nicht zu Bett gehen wollen und wirft ihnen Händevoll Sand in die Augen, daß sie blutig zum Kopf herausspringen, die wirft er dann in den Sack und trägt sie in den Halbmond zur Atzung für seine Kinderchen; die sitzen dort im Nest und haben krumme Schnäbel, wie die Eulen, damit picken sie der unartigen Menschenkindlein Augen auf.“


Anmerkung von Judas:

nach E.T.A. Hoffmann.

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Kommentare zu diesem Text

Zweifler (62)
(01.09.13)
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 Judas meinte dazu am 01.09.13:
Dankeschön :)
Geplant hab ich zumindest nicht, dass da noch mehr kommt.

 Dieter_Rotmund (02.09.13)
Hmm, ich weiss nicht, ob diese Dialogform unbedingt erste Wahl ist.... Irgendwie werde ich nicht warm damit. Grundsätzlich finde ich es jedoch gut, sich mal mit E.T.A. Hoffmann zu messen, auch wenn man dem Meister bei Weitem noch nicht das Wasser reichen kann, nicht wahr?

 Judas antwortete darauf am 02.09.13:
Ich gebe zu, die Dialogform entstand, weil ich zu viel Lovecraft z.Z. gelesen habe. Der bevorzugt das ja irgendwie, dass der Protagonist erzählt.
Das Wasser will ich Hoffmann nicht reichen können, auf keinen Fall! Geht auch gar nicht. Will mich nicht mit ihm messen, eher mit ihm beschäftigen. Dem Text liegt die Aufgabe zu Grunde, sich mit deutscher Literatur zu beschäftigen, indem man eine Geschichte auswählt und umschreibt bzw. sich mit ihr befasst, das Genre ändert, die Zeit, ja vielleicht sogar alles - aber der Grundton soll bleiben.
Das hier ist quasi meine "moderne" Auseinandersetzung mit Hoffmanns Sandmann. Eher eine Homage, quasi. Ich fand schon immer den horrorhaften Aspekt der Geschichte am spannesten, der Sandmann als Kreatur der Alpträume quasi, und haben deshalb darauf den Fokus gelegt.

Danke für deinen Kommentar!

 Janoschkus (29.09.13)
vorgelesen noch besser!

 Judas schrieb daraufhin am 29.09.13:
:]

 Georg Maria Wilke (11.08.14)
Eigentlich fehlt nur noch der Whiskey, dann wäre es perfekt.
Liebe Grüße von außerhalb, Georg

 Judas äußerte darauf am 11.08.14:
Jaja Whiskey ;)
Liebe Grüße zurück nach Außerhalb!
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