Kassandra
Epos zum Thema Untergang
von LotharAtzert
Kassandra
Kassandra, Tochter des Priamos und der Hekabe, hatte unter den Heroen kein leichtes Leben und keinen angenehmen Tod – eine Schlauheit, der sie einmal unbedacht nachgab, bestimmte vom einen auf den anderen Tag ihr Schicksal. Und zwar dergestalt, daß sie, als Apollon der Jungfrau nachstellte, um sich mit ihr zu vergnügen, diesem als Gegenleistung für das Entjungfern die Gabe der Weissagung abnötigte.
Eng ist der Durchgang des Pfades zwischen Tauschen und Täuschen. Beide empfanden wohl wenig Vergnügliches dabei, denn sie bereuten das Geschäft noch während des Beischlafs und der Gott spuckte ihr vorsorglich in den Mund, wie es heißt, wodurch an den Voraussagungen kein Mensch zukünftig Interesse würde zeigen können und all ihre Warnungen, wie dringend sie auch sein mochten, in den Wind schlüge. (Daher vielleicht die Redewendung: „Spuck’s aus, was du auf dem Herzen hast.“) Was in der Folge sich für Kassandra als fatal erwies, aber immerhin die Ordnung des Himmels rettete. So sah sie den Untergang Trojas plötzlich an den auftretenden Zeichen, die das Verdrängte immer hinterläßt, voraus und rief, um die für keinen faßbare Katastrophe abzuwenden, dazu auf, den später alles auslösenden Bruder Paris vor seiner Tat zu töten, was nicht geschah. (auch das muß sie in ihrer Seelenqual voraus gesehen haben) Dieser sprach dann in dem legendären Wettbewerb den Preis für die Schönste – den goldenen Apfel der Göttin Zwietracht, die sich damit für eine Nichteinladung zur Hochzeit eines Menschen mit der Wassergöttin Thetis rächte – der Aphrodite zu. Die Schönste – darunter war wohl nicht irgendeine äußere, rasch verblühende Schönheit unserer Tage zu verstehen, sondern das aus Wahrheit kommende Gute, das Anmutigste, Liebreizendste und in jeder Hinsicht Ausgewogenste, daran nichts fehlte und auch nichts zuviel war, wie es in einer einzigen Gestalt jener Zeit zusammenkommen konnte. Und die Wahl fiel wenig überraschend auf die Göttin der Liebe. Die versprach ihm als Dank Helena, (Liebe sieht nie voraus, es fehlt ihr an Kalkül, sie lebt ganz in ihrer Seligkeit des Allseits-Umarmenden) ihr menschliches Ebenbild - welches aber schon mit dem Griechen Menelaos verheiratet war, worauf Paris jene entführte, was später die Zerstörung Trojas zur Folge hatte.
Und, wenn man so will, das Ende des charakter- oder gestaltbildenden mythischen Zeitalters, welches das heldische genannt wird. Held kommt von Halt geben, Haltung, Charakter, Standhaftigkeit etc., also die großzügige Haltung von Hingabe und Tapferkeit – der Intellekt war nur für Kassandra zugänglich, weil vorausschauend sichtbar. Das Großzügige, Freie, maßvoll Gerechte – glasklar sieht sie mit ihrer eingehandelten Gabe den Untergang jener Weltordnung, ja aller Weltordnungen, bis in unsere gottlose Bürgerlichkeit, wo jeder von sich selbst „überzeugt“ ist. Auch starb Paris sowieso durch Mörderhand (das spricht zugunsten Kassandras, so möchte man annehmen) – aber natürlich erst, als es zu spät für die Rettung Trojas war.
So leicht, so schnell kann eine Gabe zum Fluch, zum schlimmsten Alptraum werden, wenn ihr Erwerb nicht aus der klaren Quelle der Erfahrung und dem Erleiden des Schicksalhaften fließt, respektive durch Nötigung, Schlauheit, ja Betrug in Besitz gebracht wird. Für Kassandra war fortan nichts je wieder, wie zuvor. Sie sah jetzt mittelst der transparententmachenden Gottesgabe durch ihren Fehler die Fehler aller in allen Vorgängen und Rückläufen, wie verursachtes Unheil als Bedingung einer Zukunft sich zusammen braute (sie sah uns Heutige!) und ihre warnenden Worte fanden kein Gehör, bei nichts und niemandem, weder bei Freund, noch bei Feind.
Sie war es auch, die vor dem hölzernen Pferd warnte, das der listige Odysseus, der sich mit seinen grausamen Mitstreiter darin verbarg, als scheinbare Opfergabe vor der Stadtmauer stehend zurückließ. Doch umsonst auch diese Warnung, man zog das Pferd unter irrigen Vorstellungen, sein Erscheinen betreffend in die Stadt, Troja wurde nieder gemetzelt, Helena zurück entführt und Kassandra, die das Gesehene nicht ertragen konnte und nach Buße um Erlösung vom Sehen der Folgen schrie, das ja dauerndes Sehenmüssen oder Nichtmehrverdrängenkönnen war, gelangte folgerichtig zur ent-sprechenden Erlösung, das heißt in die Sklaverei, um dort von einer durch nicht mindere Verzweiflung rasend gewordenen Mutter ermordet zu werden.
Dabei ist es leicht, Wahres zu sehen, ohne sich zu verkaufen: Man braucht nur zu schauen, nur diese eine Ehrlichkeit. Es gibt ja keine zweite. Was besagt, daß wir nur bereit sein müssen, alles so anzunehmen, wie es gegenwärtig erscheint: körperlich, mit inneren Bildern und im Geist aufleuchtend. Und wir tun nichts dazu und entfernen nichts, wehren dem „Gegen-Wärtigen nicht – wir gewähren dem Wahren, zu sein, wie es ist – und erfahren so eine Reinigung des Unwahren. Was man dann sieht, ist ein Universum. Uni bedeutet nicht bloß die numerische Eins und Verse, die erzählen, was man sieht, dichten die Dichter, nicht die Wissenschaftler.
Die Wahrheit, die niemand hören will, ist immer schmerzhaft und scharf, wie ein Schwert. So kommt zum Dichter und Seher als drittes der Krieger, der Held als Schützer des Guten. Und weil nach dem Ende der Antike niemand mehr das Schmerzhafte als Heilung anzunehmen bereit war, nur deshalb konnten Scharlatane, die dem Materialismus ein Mutterleib sind und der Erde ein Greuel, hoch kommen und die rettenden Dichter, Wahr-Seher/Sager und Helden verdrängen, indem sie die Erscheinung der Dinge im Raum beweisen. Jetzt haben wir eine „objektive“ Welt, statt einer wahren Welt… - nunja, genauso könnte man auf Granit beißen und anschließend Beißspuren auf dem Stein suchen, würde man behaupten, daß Objektivität subjektiv, also vergänglich sei.
Kassandra erschien als Mensch. Heute ist sie ein Archetyp für all jene, die sich selbst ein vergangenes Eintauschen von Macht gegen Unschuld nicht verzeihen mögen – mit jener Macht des Voraussehens ausgestattet erschaut man die eigene Versklavung durch erwirkte Ursachen. Sie ist eine „Gestalt all derer, auf denen der Schatten eines mit keinem anderen verwechselbaren Schicksals ruht“ – wie Karl Kerenyi es nennt. „Wenn man sie kennenlernen will, muß man auf jenes Schicksal vorausblicken.“ Und das Schicksal der Kassandra, wie jedes zu weit Vorausschauenden, ist immer diese selbe Tragödie des in seiner Zeit Nichtwahrgenommenwerdens und Zuschauenmüssens, wie Freund und Feind im Kampf gegeneinander gemeinsam die Welt zerstören. Im anderen Fall bliebe sie ungeschehen und das wäre sozusagen die Versteinerung.
Als des grausamen Agamemnons Kriegsbeute wurde sie verschleppt, ausgerechnet zum Liebhaber seines Weibes Klytämnestra gebracht, welche in ihrem Zorn erst die Seherin umbringt und dann den Gatten zuhause mit einem Beil beim Baden erschlägt.
Erfährt der empfindsame Leser die Geschichte der Klytämnestra, so kommt er nicht umhin, der „zweitgefährlichsten Frau des Altertums“ – die andere ist Helena – ebenfalls mindestens Mitgefühl entgegen zu bringen oder, wie man früher gesagt hätte, um ihre Seele zu weinen. Ihr Haß auf den Gatten speist sich aus dessen Tat, die gemeinsame Tochter Iphigenie an Artemis, die Jagdgöttin geopfert zu haben, als Sühne für einstige Verfehlung: er prahlte bei der Jagd, daß nicht einmal sie ihn am Erlegen eines jungen Tieres hindern könne, nachdem sein Pfeil schon auf der Sehne lag und ins Ziel zeigte. Bei soviel emotionaler Verrohung kann man schon das Entsetzen einer Mutter verstehen… (die dann ihrerseits von den eigenen Stiefkindern Orestes und Elektra umgebracht wird, ist auch wieder, man möchte fast sagen, in Ermangelung des Intellekts „folgerichtig.“ Das zum Modell Gewordene wird bis heute, wie eine allmählich ausklingende Welle durch Zeit und Raum immer wieder nachgelebt, kleiner werdend allmählich, kraftloser, weil von der Quelle sich entfernend, als Stoff in Hollywood in zehntausend Variationen und oskarverdächtigem Lügenpathos heruntergedreht, dabei Kontur und Name bis zur Unkenntlichkeit verstümmelnd… und durch Fernsehanstalten in die Verdrängungszentralen ursprungsloser Wohnzimmer gebracht)
Warum, könnte man fragen, stirbt Kassandra durch die Hand einer ihr unbekannten Kindsrächerin, was ist der kausale Zusammenhang oder gibt es ihn nicht? Ist es Zufall?
Sowohl Agamemnon, als auch die unglückliche Seherin haben gegen das höchste Gebot der Hybris verstoßen: beide tauschten ihre von Göttern gespendete Unschuld durch einen vermeintlichen Gegenwert, der ihnen Macht und Ansehen über ihre Zeit verleihen sollte, was ihnen als Mensch nicht zustand und stellten sich über das, was das Schicksal für jeden aufgrund vorangehender Taten oder Unterlassungen, vorsah, so daß beide, siegreicher Heros und bezwungene Heroin, würdelos wie Schlachtvieh von derselben Hand sterben mußten. Die Hand derjenigen, der man diese göttliche Unschuld entriß, um sie gewinnbringend zu verschachern. So war, zumindest in diesem Fall, die Harmonie wieder hergestellt.
Kassandras Schicksal macht auch heute noch (die Wenigen, die das Vorausschauen als Ahnung in sich tragen) betroffen. Vielmehr, als das Schicksal Agamemnons. Auch wenn die Heutigen nichts mehr von den Göttern wissen wollen – man mag sie „Archetypen“ „Quanten“ oder sonstwie benennen – so ist doch der Hang zum Titanischen, als dem der selbstsüchtigen Gegenspieler der großen Ordnung im Streben nach Beherrschung der Naturkräfte immer noch bestimmend. Und zwar bestimmend im Sinne des Untergehenmüssens alles dessen, was den Himmel verleugnet: je höher man aufsteigt, umso leichter und tiefer kommt man zu Fall. Nur, um wieder aufzusteigen und wieder zu fallen. Wieder und wieder…..
Titanisch ist immer ein Verdrängen der Abhängigkeit von anderem. Der Mensch Kassandra sah und der Archetyp Kassandra sieht das Wechselhafte, wie alles zeitliche Steigen und Fallen, voraus. Und der Betrachter des Urbilds nimmt daran teil durch Anteilnahme am Geschehen.
Wir Neuzeitlichen messen an den Erscheinungen, forschen, diskutieren und beweisen, wie gebildete Leute – man merke auf das „wie“ - als hätten wir eine Wahl - und ziehen dann den unheilschwangeren Gaul mit Hurra, als Siegeszeichen wie Verblödete in die Stadt und fühlen uns erhaben. Doch es wird nichts ändern: Macht durch Hybris ist ohne Dauer, außer in endlosen Wiederholungen durch Geschlechterfolgen…und alle wiederholte Warnung verhallt, bloß wegen der verführerischen Flüssigkeiten, dem Verlangen und den goldenen Pokalen der Zwietracht, der Mutter des Intellekts…
Die Bildung des eigenen Charakters verleiht der Blick auf den Mythos. Nicht bloß Jesus Christus ist für uns am Kreuz gestorben – das wird den fundamentalen Christen wenig gefallen – sondern all die großen Gestalten von unverwechselbarem Schicksal, sie leben und sterben in uns, gleichsam stellvertretend, wieder und wieder – wo wir sie noch wahrnehmen. Durch jenes unverwechselbar Schicksal der Seherin fällt der Blick auf das wundersame Wesen von natürlicher Schönheit und Anmut im Geist (Helena), sowie deren Folgen, nämlich Begierde, Gewalt, Rechthaberei und dadurch Krieg bis zur totalen Vernichtung fast aller Beteiligten – nicht nur in der griechischen, sondern in jeder denkbaren Welt, sei sie im Abstieg, sei sie noch ungeboren. Und der Leser und Deuter der Zeichen der Zeit, je mehr er in der Deutung das innere Licht eines Apollon erschaut… bleibt ungehört vom Kollektiv, belächelt oder bemitleidet - wegen der naiv-rettenden Absicht, der grundehrlichen und zugleich schicksalhaft vergeblichen….
Die Klarheit des Erschauens ist einer freieren Geisteshaltung vorbehalten. Für Kassandra wurde es zur schlimmsten, aller Strafen. Sie wurde dadurch, nach Schillers Worten „freudlos in der Freude Fülle, ungesellig und allein.“ Es ist die Frage, ob es nicht das Schicksal eines jeden „Sehens“ spiegeln muß, solange noch eine irdische Bindung besteht. Aber wer von uns Vergänglichen soll das Wahrnehmen des ewigen Fließens ertragen?
Was hält diese Geschichte in sich bereit für den, der ihr nachhört, nachsieht, nachfährt? Im geringsten Fall, daß wir unser Wollen, unsere Absicht bezüglich der Folgen neu überdenken. Im günstigeren, daß wir voller Dankbarkeit den Inhalt des Lebens der Gestalt erfahren, als Nachfahren ihr Gastfreundschaft und Entfaltung im eigenen Geiste gewähren, dh. ihren Schmerz mit ihr teilen, wodurch Kassandra nicht nur für uns zur Erlöserin wird, sondern auch sie endlich nach so vielen Jahrhunderten aus der Einsamkeit und Bitternis bloßen Wiederholens Befreiung erlangt. Wir Alleinseiende wissen, daß es so ist!
Troja mußte untergehen, damit eine andere Spezies entstehen konnte, ausgestattet mit einer vollkommen neuen und weitreichenderen Möglichkeit des Verdrängens und Regelns von Gefüge in Dualismen, Intellekt und Psyche, unter der Regentschaft der Göttin Zwietracht. Die Pest, der dreißigjährige Krieg, Waterloo, Auschwitz, Hiroshima, Aids, Genmanipulation und Klone sollten bald folgen – um nur einige der Eiterherde menschlichen Größenwahns zu nennen. Und jedesmal heißt es danach „nie wieder!“ Und jedesmal kommt’s noch schlimmer. Nur die Götter kümmert’s nicht mehr…
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Kassandra, Tochter des Priamos und der Hekabe, hatte unter den Heroen kein leichtes Leben und keinen angenehmen Tod – eine Schlauheit, der sie einmal unbedacht nachgab, bestimmte vom einen auf den anderen Tag ihr Schicksal. Und zwar dergestalt, daß sie, als Apollon der Jungfrau nachstellte, um sich mit ihr zu vergnügen, diesem als Gegenleistung für das Entjungfern die Gabe der Weissagung abnötigte.
Eng ist der Durchgang des Pfades zwischen Tauschen und Täuschen. Beide empfanden wohl wenig Vergnügliches dabei, denn sie bereuten das Geschäft noch während des Beischlafs und der Gott spuckte ihr vorsorglich in den Mund, wie es heißt, wodurch an den Voraussagungen kein Mensch zukünftig Interesse würde zeigen können und all ihre Warnungen, wie dringend sie auch sein mochten, in den Wind schlüge. (Daher vielleicht die Redewendung: „Spuck’s aus, was du auf dem Herzen hast.“) Was in der Folge sich für Kassandra als fatal erwies, aber immerhin die Ordnung des Himmels rettete. So sah sie den Untergang Trojas plötzlich an den auftretenden Zeichen, die das Verdrängte immer hinterläßt, voraus und rief, um die für keinen faßbare Katastrophe abzuwenden, dazu auf, den später alles auslösenden Bruder Paris vor seiner Tat zu töten, was nicht geschah. (auch das muß sie in ihrer Seelenqual voraus gesehen haben) Dieser sprach dann in dem legendären Wettbewerb den Preis für die Schönste – den goldenen Apfel der Göttin Zwietracht, die sich damit für eine Nichteinladung zur Hochzeit eines Menschen mit der Wassergöttin Thetis rächte – der Aphrodite zu. Die Schönste – darunter war wohl nicht irgendeine äußere, rasch verblühende Schönheit unserer Tage zu verstehen, sondern das aus Wahrheit kommende Gute, das Anmutigste, Liebreizendste und in jeder Hinsicht Ausgewogenste, daran nichts fehlte und auch nichts zuviel war, wie es in einer einzigen Gestalt jener Zeit zusammenkommen konnte. Und die Wahl fiel wenig überraschend auf die Göttin der Liebe. Die versprach ihm als Dank Helena, (Liebe sieht nie voraus, es fehlt ihr an Kalkül, sie lebt ganz in ihrer Seligkeit des Allseits-Umarmenden) ihr menschliches Ebenbild - welches aber schon mit dem Griechen Menelaos verheiratet war, worauf Paris jene entführte, was später die Zerstörung Trojas zur Folge hatte.
Und, wenn man so will, das Ende des charakter- oder gestaltbildenden mythischen Zeitalters, welches das heldische genannt wird. Held kommt von Halt geben, Haltung, Charakter, Standhaftigkeit etc., also die großzügige Haltung von Hingabe und Tapferkeit – der Intellekt war nur für Kassandra zugänglich, weil vorausschauend sichtbar. Das Großzügige, Freie, maßvoll Gerechte – glasklar sieht sie mit ihrer eingehandelten Gabe den Untergang jener Weltordnung, ja aller Weltordnungen, bis in unsere gottlose Bürgerlichkeit, wo jeder von sich selbst „überzeugt“ ist. Auch starb Paris sowieso durch Mörderhand (das spricht zugunsten Kassandras, so möchte man annehmen) – aber natürlich erst, als es zu spät für die Rettung Trojas war.
So leicht, so schnell kann eine Gabe zum Fluch, zum schlimmsten Alptraum werden, wenn ihr Erwerb nicht aus der klaren Quelle der Erfahrung und dem Erleiden des Schicksalhaften fließt, respektive durch Nötigung, Schlauheit, ja Betrug in Besitz gebracht wird. Für Kassandra war fortan nichts je wieder, wie zuvor. Sie sah jetzt mittelst der transparententmachenden Gottesgabe durch ihren Fehler die Fehler aller in allen Vorgängen und Rückläufen, wie verursachtes Unheil als Bedingung einer Zukunft sich zusammen braute (sie sah uns Heutige!) und ihre warnenden Worte fanden kein Gehör, bei nichts und niemandem, weder bei Freund, noch bei Feind.
Sie war es auch, die vor dem hölzernen Pferd warnte, das der listige Odysseus, der sich mit seinen grausamen Mitstreiter darin verbarg, als scheinbare Opfergabe vor der Stadtmauer stehend zurückließ. Doch umsonst auch diese Warnung, man zog das Pferd unter irrigen Vorstellungen, sein Erscheinen betreffend in die Stadt, Troja wurde nieder gemetzelt, Helena zurück entführt und Kassandra, die das Gesehene nicht ertragen konnte und nach Buße um Erlösung vom Sehen der Folgen schrie, das ja dauerndes Sehenmüssen oder Nichtmehrverdrängenkönnen war, gelangte folgerichtig zur ent-sprechenden Erlösung, das heißt in die Sklaverei, um dort von einer durch nicht mindere Verzweiflung rasend gewordenen Mutter ermordet zu werden.
Dabei ist es leicht, Wahres zu sehen, ohne sich zu verkaufen: Man braucht nur zu schauen, nur diese eine Ehrlichkeit. Es gibt ja keine zweite. Was besagt, daß wir nur bereit sein müssen, alles so anzunehmen, wie es gegenwärtig erscheint: körperlich, mit inneren Bildern und im Geist aufleuchtend. Und wir tun nichts dazu und entfernen nichts, wehren dem „Gegen-Wärtigen nicht – wir gewähren dem Wahren, zu sein, wie es ist – und erfahren so eine Reinigung des Unwahren. Was man dann sieht, ist ein Universum. Uni bedeutet nicht bloß die numerische Eins und Verse, die erzählen, was man sieht, dichten die Dichter, nicht die Wissenschaftler.
Die Wahrheit, die niemand hören will, ist immer schmerzhaft und scharf, wie ein Schwert. So kommt zum Dichter und Seher als drittes der Krieger, der Held als Schützer des Guten. Und weil nach dem Ende der Antike niemand mehr das Schmerzhafte als Heilung anzunehmen bereit war, nur deshalb konnten Scharlatane, die dem Materialismus ein Mutterleib sind und der Erde ein Greuel, hoch kommen und die rettenden Dichter, Wahr-Seher/Sager und Helden verdrängen, indem sie die Erscheinung der Dinge im Raum beweisen. Jetzt haben wir eine „objektive“ Welt, statt einer wahren Welt… - nunja, genauso könnte man auf Granit beißen und anschließend Beißspuren auf dem Stein suchen, würde man behaupten, daß Objektivität subjektiv, also vergänglich sei.
Kassandra erschien als Mensch. Heute ist sie ein Archetyp für all jene, die sich selbst ein vergangenes Eintauschen von Macht gegen Unschuld nicht verzeihen mögen – mit jener Macht des Voraussehens ausgestattet erschaut man die eigene Versklavung durch erwirkte Ursachen. Sie ist eine „Gestalt all derer, auf denen der Schatten eines mit keinem anderen verwechselbaren Schicksals ruht“ – wie Karl Kerenyi es nennt. „Wenn man sie kennenlernen will, muß man auf jenes Schicksal vorausblicken.“ Und das Schicksal der Kassandra, wie jedes zu weit Vorausschauenden, ist immer diese selbe Tragödie des in seiner Zeit Nichtwahrgenommenwerdens und Zuschauenmüssens, wie Freund und Feind im Kampf gegeneinander gemeinsam die Welt zerstören. Im anderen Fall bliebe sie ungeschehen und das wäre sozusagen die Versteinerung.
Als des grausamen Agamemnons Kriegsbeute wurde sie verschleppt, ausgerechnet zum Liebhaber seines Weibes Klytämnestra gebracht, welche in ihrem Zorn erst die Seherin umbringt und dann den Gatten zuhause mit einem Beil beim Baden erschlägt.
Erfährt der empfindsame Leser die Geschichte der Klytämnestra, so kommt er nicht umhin, der „zweitgefährlichsten Frau des Altertums“ – die andere ist Helena – ebenfalls mindestens Mitgefühl entgegen zu bringen oder, wie man früher gesagt hätte, um ihre Seele zu weinen. Ihr Haß auf den Gatten speist sich aus dessen Tat, die gemeinsame Tochter Iphigenie an Artemis, die Jagdgöttin geopfert zu haben, als Sühne für einstige Verfehlung: er prahlte bei der Jagd, daß nicht einmal sie ihn am Erlegen eines jungen Tieres hindern könne, nachdem sein Pfeil schon auf der Sehne lag und ins Ziel zeigte. Bei soviel emotionaler Verrohung kann man schon das Entsetzen einer Mutter verstehen… (die dann ihrerseits von den eigenen Stiefkindern Orestes und Elektra umgebracht wird, ist auch wieder, man möchte fast sagen, in Ermangelung des Intellekts „folgerichtig.“ Das zum Modell Gewordene wird bis heute, wie eine allmählich ausklingende Welle durch Zeit und Raum immer wieder nachgelebt, kleiner werdend allmählich, kraftloser, weil von der Quelle sich entfernend, als Stoff in Hollywood in zehntausend Variationen und oskarverdächtigem Lügenpathos heruntergedreht, dabei Kontur und Name bis zur Unkenntlichkeit verstümmelnd… und durch Fernsehanstalten in die Verdrängungszentralen ursprungsloser Wohnzimmer gebracht)
Warum, könnte man fragen, stirbt Kassandra durch die Hand einer ihr unbekannten Kindsrächerin, was ist der kausale Zusammenhang oder gibt es ihn nicht? Ist es Zufall?
Sowohl Agamemnon, als auch die unglückliche Seherin haben gegen das höchste Gebot der Hybris verstoßen: beide tauschten ihre von Göttern gespendete Unschuld durch einen vermeintlichen Gegenwert, der ihnen Macht und Ansehen über ihre Zeit verleihen sollte, was ihnen als Mensch nicht zustand und stellten sich über das, was das Schicksal für jeden aufgrund vorangehender Taten oder Unterlassungen, vorsah, so daß beide, siegreicher Heros und bezwungene Heroin, würdelos wie Schlachtvieh von derselben Hand sterben mußten. Die Hand derjenigen, der man diese göttliche Unschuld entriß, um sie gewinnbringend zu verschachern. So war, zumindest in diesem Fall, die Harmonie wieder hergestellt.
Kassandras Schicksal macht auch heute noch (die Wenigen, die das Vorausschauen als Ahnung in sich tragen) betroffen. Vielmehr, als das Schicksal Agamemnons. Auch wenn die Heutigen nichts mehr von den Göttern wissen wollen – man mag sie „Archetypen“ „Quanten“ oder sonstwie benennen – so ist doch der Hang zum Titanischen, als dem der selbstsüchtigen Gegenspieler der großen Ordnung im Streben nach Beherrschung der Naturkräfte immer noch bestimmend. Und zwar bestimmend im Sinne des Untergehenmüssens alles dessen, was den Himmel verleugnet: je höher man aufsteigt, umso leichter und tiefer kommt man zu Fall. Nur, um wieder aufzusteigen und wieder zu fallen. Wieder und wieder…..
Titanisch ist immer ein Verdrängen der Abhängigkeit von anderem. Der Mensch Kassandra sah und der Archetyp Kassandra sieht das Wechselhafte, wie alles zeitliche Steigen und Fallen, voraus. Und der Betrachter des Urbilds nimmt daran teil durch Anteilnahme am Geschehen.
Wir Neuzeitlichen messen an den Erscheinungen, forschen, diskutieren und beweisen, wie gebildete Leute – man merke auf das „wie“ - als hätten wir eine Wahl - und ziehen dann den unheilschwangeren Gaul mit Hurra, als Siegeszeichen wie Verblödete in die Stadt und fühlen uns erhaben. Doch es wird nichts ändern: Macht durch Hybris ist ohne Dauer, außer in endlosen Wiederholungen durch Geschlechterfolgen…und alle wiederholte Warnung verhallt, bloß wegen der verführerischen Flüssigkeiten, dem Verlangen und den goldenen Pokalen der Zwietracht, der Mutter des Intellekts…
Die Bildung des eigenen Charakters verleiht der Blick auf den Mythos. Nicht bloß Jesus Christus ist für uns am Kreuz gestorben – das wird den fundamentalen Christen wenig gefallen – sondern all die großen Gestalten von unverwechselbarem Schicksal, sie leben und sterben in uns, gleichsam stellvertretend, wieder und wieder – wo wir sie noch wahrnehmen. Durch jenes unverwechselbar Schicksal der Seherin fällt der Blick auf das wundersame Wesen von natürlicher Schönheit und Anmut im Geist (Helena), sowie deren Folgen, nämlich Begierde, Gewalt, Rechthaberei und dadurch Krieg bis zur totalen Vernichtung fast aller Beteiligten – nicht nur in der griechischen, sondern in jeder denkbaren Welt, sei sie im Abstieg, sei sie noch ungeboren. Und der Leser und Deuter der Zeichen der Zeit, je mehr er in der Deutung das innere Licht eines Apollon erschaut… bleibt ungehört vom Kollektiv, belächelt oder bemitleidet - wegen der naiv-rettenden Absicht, der grundehrlichen und zugleich schicksalhaft vergeblichen….
Die Klarheit des Erschauens ist einer freieren Geisteshaltung vorbehalten. Für Kassandra wurde es zur schlimmsten, aller Strafen. Sie wurde dadurch, nach Schillers Worten „freudlos in der Freude Fülle, ungesellig und allein.“ Es ist die Frage, ob es nicht das Schicksal eines jeden „Sehens“ spiegeln muß, solange noch eine irdische Bindung besteht. Aber wer von uns Vergänglichen soll das Wahrnehmen des ewigen Fließens ertragen?
Was hält diese Geschichte in sich bereit für den, der ihr nachhört, nachsieht, nachfährt? Im geringsten Fall, daß wir unser Wollen, unsere Absicht bezüglich der Folgen neu überdenken. Im günstigeren, daß wir voller Dankbarkeit den Inhalt des Lebens der Gestalt erfahren, als Nachfahren ihr Gastfreundschaft und Entfaltung im eigenen Geiste gewähren, dh. ihren Schmerz mit ihr teilen, wodurch Kassandra nicht nur für uns zur Erlöserin wird, sondern auch sie endlich nach so vielen Jahrhunderten aus der Einsamkeit und Bitternis bloßen Wiederholens Befreiung erlangt. Wir Alleinseiende wissen, daß es so ist!
Troja mußte untergehen, damit eine andere Spezies entstehen konnte, ausgestattet mit einer vollkommen neuen und weitreichenderen Möglichkeit des Verdrängens und Regelns von Gefüge in Dualismen, Intellekt und Psyche, unter der Regentschaft der Göttin Zwietracht. Die Pest, der dreißigjährige Krieg, Waterloo, Auschwitz, Hiroshima, Aids, Genmanipulation und Klone sollten bald folgen – um nur einige der Eiterherde menschlichen Größenwahns zu nennen. Und jedesmal heißt es danach „nie wieder!“ Und jedesmal kommt’s noch schlimmer. Nur die Götter kümmert’s nicht mehr…
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Kommentare zu diesem Text
Hallo Stefanie,
unbedingt! Aber für einige ist es immer zu verführerisch und so passiert es zyklisch immer wieder.
Jetzt hab ich also nach über vier Jahren doch noch einen Kommentar dafür bekommen, vielen Dank dafür - zumal dieses längere Werk nicht mein schlechteste war. Für die meisten sicher zu lang.
Liebe Grüße
Lothar
unbedingt! Aber für einige ist es immer zu verführerisch und so passiert es zyklisch immer wieder.
Jetzt hab ich also nach über vier Jahren doch noch einen Kommentar dafür bekommen, vielen Dank dafür - zumal dieses längere Werk nicht mein schlechteste war. Für die meisten sicher zu lang.
Liebe Grüße
Lothar