Der Buddha vom Bahnhofsviertel

Kurzgeschichte zum Thema Lebensbetrachtung

von  LotharAtzert

Der Lehrer, so sagen die Tibeter, ist kein gewöhnlicher Mensch. Er wird als Buddha angesehen und genießt entsprechende Verehrung.
Die ersten Reden von Lamas wurden vom Tibetischen in Englisch üersetzt und von dort nochmal ins Deutsche. Das war manchmal nervig. In Dänemark, wo dank Ole Nydahl und seiner inzwischen verstorbenen Frau Hannah das Dharma zuerst hinkam, sogar manchmal nur vom Tibetischen ins Englische. Da war bereits das Zuhören anstrengend für alle, die jener Sprache nicht so mächtig waren. Und wer sprach schon Tibetisch.
Heute, knapp fünfzig Jahre später, sprechen die jüngeren Lamas alle Englisch, einige  Deutsch und so nehmen die Übersetzungs-Hürden immer mehr ab.
     
Ab wann ist man Lehrer - wir hatten vor Jahrzehnten in Frankfurt mal das Glück, daß ein englischsprechender Rimpoche ("Kostbarer"), ein Geistlicher der Gelbmützen (Gelugpas, die Reformierten aus der Linie der Dalai Lamas) dort mit seiner deutschen Frau wohnte. Dem legten wir genau diese Frage vor und hofften insgeheim, daß er uns schnellstmöglich dahin befördere, das Rad der Lehre zu drehen, obwohl unsere eigentlichen Lehrer den nichtreformierten Rotmützen (Kagyudpas, Nyingmapas) angehörten. Es gab und gibt da nämlich eine Art Rivalität zwischen den einzelnen Schulen, die manche fördern, andere relativieren.
Dschampa K., so hieß der Lama, der den Titel eines Tulkus innehatte, einer bestätigten Reinkarnation. Er wohnte mitten im Frankfurter Bahnhofsviertel - links und rechts flankiert von Bordellen, Junkies und grellem Neonlicht. Da musste man durch, wenn man zu ihm wollte.
"Lehrer", sprach er ohne größeres Nachdenken, "ist der, den du dazu machst. Es ist völlig subjektiv. Dh. ob du ihn nur als einen guten Freund siehst, der dir ein paar Tipps gibt, oder den vollkommenen Buddha, hängt ausschließlich von dir und deiner Wahrnehmung ab. Und wenn dich jemand zum Lehrer nimmt, so gilt das natürlich genau so." - Das hat mir damals sehr gefallen, vor allem, weil ich diese Antwort irgendwie erwartet hatte. Er fuhr fort: "Sobald sich die Wahrnehmung verändert, verändert sich die Haltung zum Lehrer - das geht alles ganz zwanglos, mach dir darüber keine Sorgen." Er verstand, daß ich mich darum sorgte, ihm vielleicht nicht den gebührenden Respekt entgegen zu bringen. "In dem Moment, wo du den Klarblick hast, ist alles Buddha, alles Dharma, alles Sangha."
     
Aber Dschampa K. starb leider bald. Wir wußten, daß er schwerkrank war. Schließlich war das der Grund, weswegen er in Frankfurt sozusagen gestrandet war. Seine Frau hatte uns in der Küche, wo es formloser als in der Gompa zuging und die Raucher vielzuviel qualmten, mal seine Geschichte erzählt:
Vor Jahrhunderten gab es in Tibet einen König, der hasste den Buddhismus so sehr, daß er alle Praktizierenden verfolgte und auch tötete. Immer mehr Menschen fielen dem zum Opfer und so beschloss Jampa, der natürlich damals anders hieß und schon viele Familienangehörige verloren hatte, diesen König mit einem geübten Pfeilschuß aus dem Bogen ins Jenseits zu befördern - obwohl er die Gelübde genommen hatte, keine Lebewesen vorsätzlich zu verletzen. Er legte sich also auf die Lauer und als der König vorbei ritt, traf ihn sein Pfeil mitten ins Herz und er verstarb noch an Ort und Stelle.
Diese Tat hatte zur Folge, daß die Morde aufhörten und der Buddhismus wieder ohne Angst praktiziert werden konnte. Nur für den Schützen, der ja sein Gelübde brach, noch dazu als Abt eines Klosters, waren die Folgen erbärmlich: Über mehrere Leben hinweg, die er als Büßer zubrachte, blieb sein Körper kränklich und er verstarb immer frühzeitig.
So lernten wir ihn kennen, den einstigen Klosterabt und Tulku, den kostbaren Dharmameister, wie er in Frankfurt tagsüber einen Hilfsarbeiterjob in der Nähe verrichtete und die restliche Zeit den Bußübungen widmete, deren Teil wir waren - niemals hat er geklagt, ganz im Gegenteil, immer waren seine Worte mitfühlend und weise, klärten in uns nicht nur die Frage nach dem Lehrertum, sondern weit mehr. Möge er durch diese Verdienste gesund wiedergeboren werden.

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Kommentare zu diesem Text

Bette (70)
(04.12.16)
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 LotharAtzert meinte dazu am 04.12.16:
... und von Rechtschreibung.
Ich wusste garnicht, daß Du Äbtissin warst.
Bette (70) antwortete darauf am 04.12.16:
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 LotharAtzert schrieb daraufhin am 04.12.16:
Nimm bitte auch einmal zur Kenntnis, daß es in meinem Text um Klärung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses geht, sowie um die alte Frage, ob eine Tötung aus Gründen der Rettung Vieler ein minderschwerer Fall ist oder was auch immer - Nicht nur Polizisten sind dem tagtäglich ausgesetzt..
Bei der Zufluchtnahme nimmt man das Gelübde der Mildtätigkeit, des Vermeidens von Lügen und ein paar andere Dinge, die nicht allzuschwer einzuhalten sind. Sie sind sozusagen ein moralischer Leitfaden für einfache Menschen.
Ich habe darüber hinaus das Gelübde der Bodhisattvaschaft abgelegt, welches beinhaltet, daß Du auf die Seligkeit des Nirvana solange verzichtest, wie noch ein leidendes Wesen sich in Samsara aufhält. So etwas schien mir selbstverständlich zu sein und motiviert mich jeden Tag aufs neue.
Daß das metaphysisch nicht haltbar ist - das Vajrayana lehrt ja gerade die Einheit von Nirvana und Samsara - steht auf einem ganz anderen Blatt. Du solltest dich nicht ohne genaue Kenntnisse leichtfertig darüber stellen.
Bette (70) äußerte darauf am 04.12.16:
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 LotharAtzert ergänzte dazu am 04.12.16:
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Castaneda bin ich nie begegnet. Es ist das eine, sein Wissen aus Bücher zu beziehen. Ganz ein anderes sind persönliche Begegnungen. Und nur von denen schreibe ich.
Was diese Tibeter (ich hab mir erlaubt, es richtig zu schreiben) wollen, maße ich mir nicht an, zu beurteilen. Dir steht die Wertung natürlich frei.
swetlana (51)
(05.12.16)
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 LotharAtzert meinte dazu am 06.12.16:
Liebe Swetlana,
Erinnere Dich an den ersten Satz:
"Der Lehrer, so sagen die Tibeter, ist kein gewöhnlicher Mensch. Er wird als Buddha angesehen und genießt entsprechende Verehrung".
Ich habe das ganz bewußt an den Anfang gestellt (und auch die folgende Frage, ab wann man selbst Lehrer ist). Worum geht es im Vajrayana? - Darum, den Schüler in nur einem einzigen Leben zur Befreiung aus sämtlichen Abhängigkeiten zu führen. Das ist nur möglich bei denen, die sehr großes Vertrauen zum Lehrer haben. Deshalb ist der Lehrer der Buddha und nicht ein mit Fehler behafteter Mensch, wie vielleicht im Hinayana oder im Christentum, über dessen scheinbare oder tatsächliche Fehler die Schüler diskutieren oder spekulieren.
Die Annahme, der Lehrer fühle sich in der und der Weise schuldig, ist eine rein christliche und darüber hinaus unrelevant. Der Vayrayanalehrer hat Jahre bzw. Jahrzehnte in Zurückziehung/Meditation verbracht, einige von ihnen noch eben so viel Zeit mit Studium der Schriften, und hängt nicht mehr an konventionellen Vorstellungen, geschweige am Leben oder sehnte sich gar nach dem Tod oder einem Bungalow in der Schweiz. Ihr einziger Grund - das Bodhisattvagelübde, als Letzter ins Nirvana einzugehen - dh. den Schüler zur vollkommenen Buddhaschaft zu führen.
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"Ein Lehrer-Schüler-Verhältnis ist nie konstant. Der Mensch kann jede Zeit als Lehrer und als Schüler sein, denke ich". - Da wird dir jeder tibetische Lehrer beipflichten, daß er vom Schüler lernt. Doch als Schüler halte ich mich da natürlicherweise zurück und behaupte nicht, ich hätte meinem Lehrer was beigebracht. Das wäre nicht nur unhöflich, sondern auch anmaßend, also eines Dharmaschülers unwürdig und sogar dumm, denn so versaut man sich sein Karma.
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Ein interessantest Thema für mich, kann sein, daß mir noch mehr dazu einfällt, (zur Sache mit dem König) dann hänge ich es noch dran.
Jedenfalls danke ich dir sehr für die Anregung.
Gruß
L
(Antwort korrigiert am 06.12.2016)
swetlana (51) meinte dazu am 06.12.16:
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 Teichhüpfer (10.10.19)
Lothar, ich weiß nicht wie es so ist mit dem Buddha, was der Glaube sagt, einen Gott zu sehen ...Ich denke mir, wie der Indianer an meinem Kinderwagen schon gesagt hat": Du hast es sehr schwer im Leben ."

 LotharAtzert meinte dazu am 10.10.19:
Wenn du es schwer hast, sei ein Berg für Enzian und Edelweiss, Hüppi.
An deinem Kinderwagen stand ein Indianer? - Respekt!

 Teichhüpfer meinte dazu am 10.10.19:
Dankeschön, Lothar.

 Graeculus (24.10.22, 16:35)
Der Streit zwischen Rot- und Gelbmützen, das klingt ja skurril.

Es muß ein tragisches Lebensgefühl sein, wenn man glaubt, man müsse ein vor Generationen begangenes Verbrechen - auch noch in guter Absicht geschehen - abbüßen. Ähnlich wie Kierkegaard, der ernsthaft annahm, verdammt zu sein, weil sein Vater einmal Gott gelästert hatte.

Ich mag diese Ankedoten zum Nachdenken.

 LotharAtzert meinte dazu am 25.10.22 um 09:59:
Der Streit - Das hat seine Ursache wohl darin, daß in den tibetischen Buddhismus viele Elemente der alten Volksreligion Bön eingeflossen sind, was heute für die "gebildeten" Gelugpas um den Dalai Lama weniger gilt und für die aus der osttibetischen Region Kham entsprechend mehr.
Da kann ich noch eine Anekdote (sinngemäß nur) berichten, wie Chögyam Trungpa erzählt, wie die neue Zeit in sein Dorf einbrach: "Morgens früh schnupperten wir alle herum - ein beißender Gestank verstärkte sich stündlich, dessen Herkunft allen unerklärlich war. Und als nach vielen Stunden das so genannte Automobil am Horizont auftauchte, glaubten wir, das Ende nahte. Nachdem es später wieder abgefahren war, stank es noch Tage lang".

Mit dem Wort "Glaube" sind wir Westler natürlich schnell bei der Hand. Jampa Kalsang erinnerte sich nicht, das räumte er freimütig ein, obwohl er die Prüfung zum Tulku bestand, was schon eigenartig ist.
Danke für dein Interesse.
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