Das Buch meiner Kindheit

Anekdote zum Thema Erziehung

von  unangepasste

Früher suchte meine Mutter die Bettlektüre für mich aus, und ich wurde vor die Wahl gestellt, um sieben Uhr das Licht auszumachen oder die bereitliegenden Bücher zu lesen. Meistens gefielen mir die Bücher; manchmal konnte ich mich allerdings nicht mit den Protagonisten und Themen identifizieren, insbesondere dann, wenn das Ziel darin bestand, subtile Aufklärung zu betreiben. So hörte ich bei „Tage mit Goldrand“, einer kitschigen Liebesgeschichte für Jugendliche, für einige Jahre gänzlich mit dem Lesen auf. Den Autor dieses Buches habe ich bereits vergessen.
Zuvor versuchte ich es jedoch mit einem Trick: Fand ich keinen rechten Gefallen an einem Buch, holte ich mir „Der Flug des Albatros“ von Deborah Savage aus dem Regal. Die Geschichte beinhaltet eine Mischung aus Sehnsucht, Mythen und Geheimnissen und beschreibt auf einfühlsame Weise die Probleme des Erwachsenwerdens.
Damit meine Mutter nichts bemerkte, stellte ich den leeren Umschlag zurück an seinen Platz. Andernfalls wäre die Lücke vielleicht aufgefallen. Anschließend hüllte ich das Buch in den anderen Umschlag, sodass ich von außen den Anschein einer folgsamen Tochter erweckte.
Leider glückte der Trick nicht immer. Vermutlich war es die unterschiedliche Dicke der Bücher, die mich verriet, vielleicht aber auch die allabendliche Frage, was zuletzt in der Erzählung passiert sei. Dabei reagierte ich zwar schon immer mit Abwehr, meine Mutter wiederholte die Frage jedoch mit Hartnäckigkeit, bis sie eine zufriedenstellende Antwort erhielt. Manchmal schielte sie dann in das Buch, um mir behilflich zu sein. Vor der üblichen Schlafenszeit musste ich also die Lektüre wieder austauschen.


Anmerkung von unangepasste:

Geschrieben für die Ausstellung "Das Buch meines Lebens".

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Kommentare zu diesem Text

RedBalloon (58)
(09.09.17)
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 unangepasste meinte dazu am 09.09.17:
Comics mochte meine Mutter gar nicht Das Maximum, was ich mir an Comics zuführen konnte, waren die wenigen Kurzcomics in Zeitschriften und Zeitungen, die man im Papierkorb fand. In einem gewissen Alter habe ich sie dann aus Protest erst recht gelesen, obwohl sie eigentlich in der Regel doof waren - dabei habe ich natürlich darauf geachtet, dass es meine Mutter auch gut genug mitbekam.
Sätzer (77)
(09.09.17)
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 unangepasste antwortete darauf am 09.09.17:
Ja, stimmt. Ich hatte erst sehr spät einen Bibliotheksausweis -in einem Alter, als das Ausleihen kostenpflichtig wurde.

 Dieter Wal (09.09.17)
Die "Erziehungsmethode", einem Kind durch Nötigung die Freude am Lesen näherzubringen, finde ich gruselig. Dann der Zwang der Abfrage. Umso überraschender, dass du nicht nur gerne liest, sondern Literatur verfasst.

„Den Flug des Albatros“ für eine Neunjährige bereithalten?
(Kommentar korrigiert am 09.09.2017)

 unangepasste schrieb daraufhin am 09.09.17:
Ob mit 9 schon? Ich weiß es nicht, die Altersangabe auf dem Buch ist 12 ... Aber das Buch lohnt sich auf jeden Fall.

 EkkehartMittelberg (09.09.17)
Spätestenws, als du anfingst zu tricksen, hätte deiner Mutteer die Überwachung deiner Lektüre fragwürdig werden müssen. Ist sie später zur Einsicht gekommen?
LG
Ekki

 unangepasste äußerte darauf am 09.09.17:
Später hatte sie jedenfalls keine Chance mehr. Da habe ich dann angefangen, ihre Erziehungsbücher zu lesen, von denen sie regalfächerweise hatte. Meine Fragen beantwortet, gerade bezüglich der Erziehungshintergründe für manche Entscheidungen, haben die Ratgeber allerdings nicht.
Meine jüngste Schwester hatte sogar Comics. Wahrscheinlich ist es das Los der Ältesten, die strengsten Eltern zu haben.
Agneta (62)
(10.09.17)
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 unangepasste ergänzte dazu am 10.09.17:
Ja, das ist sicher nicht schlecht. Bei mir waren es später die Erziehungsbücher meiner Mutter, die ich mir aus dem Regal holte. Da nimmt man von der Weltliteratur sicher mehr mit. Danke für deinen Kommentar.

 AZU20 (13.09.17)
Da hast Du gelitten. LG

 LiesLieLi meinte dazu am 09.06.22 um 19:59:
Eltern können so Vieles falsch machen. Wenn das Kind dies jeweils erkennt, kann es noch irgendwie damit umgehen. Doch wenn das Kind glauben gemacht wird, die Erziehungsmethode sei ein gute, was dadurch doch angerichtet werden kann und den Durchblick für solche Verirrungen bekommt es oft erst im Erwachsenenalter.

 unangepasste meinte dazu am 13.06.22 um 15:49:
Ja, absolut - und ohne das Erkennen wird die Erziehungsmethode womöglich über Generationen angewandt.
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