Antistrukturalismus

Essay zum Thema Zerstörung

von  RainerMScholz

Mossul ist nicht in London. Wer will die Toten gegeneinander aufrechnen. Ein strukturelles Problem. Obschon man der City mehr Demut wünschen mag. Aber das ist ein anderes Problem. Oder? Doch die Bilder der Zerstörung können nicht nur eine ästhetische Frage aufwerfen.
Da werden Kinderleiber von Bomben in der Luft zerrissen, die vor einem Krankenhaus auf medizinische Versorgung warten, andernorts springt ein Mensch von einer Brücke in die Themse, um nicht von einem Wagen zermalmt zu werden, hinter dessen Steuer ein Mann mit Überzeugungen sitzt. Seelen werden auseinandergerissen. Es ist nicht vergleichbar. Schwarze Herzen brennen. Im Knochengarten blüht der Weizen und wir essen das saure Brot des Blutes. Empathieabsenz ist die schwerste Krankheit; ebenso wie die letztgültige Realisierung des Faktischen. Kalthirnig schalten wir die Fernseher aus, blättern die Zeitung um und wenden uns profaneren Geschäften zu. Was ist uns Strukturalismus und was das elitäre Gerede einiger vergutmenschlichter Intellektueller.
Die immer schwangere Mutter gebärt zeitvergessen neue Opfer, neue altgeborene Kinder und Kranke von Anbeginn und  Tote. Gottes Acker ist ewig. Er muss gepflügt werden. Sonst verwildert der Garten und das Unkraut überwuchert die Zivilisation, die all die Ideologen meinten, als sie die ewigen Reiche vorhersahen.
Also springt die Frau von der Brücke in London, und die Menschen sterben einen sinnlosen Tod in Mossul. Ein Problem des Strukturalismus an einer Gute Nacht-Universität in Hinterwaldhausen. Aber nicht im echten Leben.
Die Dame, die von der Brücke sprang, hat überlebt.


© Rainer M. Scholz

Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren

Kommentare zu diesem Text


 TrekanBelluvitsh (26.09.17)
Wenn es dir um die Strukturen des Denkens geht, hast du natürlich vergessen zu erwähnen, dass jedes Opfer eines Gewaltverbrechens in London die Einwohner Mossuls' nicht interessiert und das unabhängig von der Lage in in ihrer eigenen Heimat.
So funktioniert der Mensch - zu seinem eigenen Schutz! Würde sich jeder Einzelne stets Sorgen um das Leid in der ganzen Welt machen, jeder Bewohner auf dem Erdball würde in einer tiefen Depression verschwinden und nie wieder aus ihr auftauchen. (Was vielleicht nicht das Schlechteste wäre, denn das wäre das anderen von Menschen zugefügte Leid auf den Schlag fast ausrotten.)

Die Frage nach persönlicher Verantwortung stellt sich nicht bzw. ist eindeutig. Kaum ein Londoner hat persönlich Schuld an den Verhältnissen in Mossul.
Bleibt die Frage nach der politischen Verantwortlichkeit. Und, ja, um die Drücken sich die Menschen herum. Nicht selten ist die Folge linkisches und verlogenes Verhalten. Ein Beispiel dafür wäre das Verhalten der deutschen Gesellschaft und der deutschen Politik im Umgang mit der gestiegenen Zahl an Asylbewerbern bzw. Flüchtlinge.

Man lamentiert darüber, wie stark man doch selbst dadurch belastet wird - obwohl die ca. 1,3 Mio. Flüchtlinge das Leben der meisten Deutschen nicht im geringsten tangieren - und lebt weiter wie bisher. Psychologisch betrachtet geht es hier nicht nur um die Angst vor dem sozialen Abstieg, es ist auch die Angst davor, dass es eine Gruppe, die sozial unter einem steht, sich verkleinert, es also weniger Menschen gibt, auf die man herabsieht, um sich besser zu fühlen.

Ob nicht gerade jener Teil der Asylbewerber/Flüchtlinge, die so gerne als "Wirtschaftsflüchtlinge" diffamiert werden - wenn ich die Zahlen richtig im Kopf habe, kamen während der "Wende" ca. 6. Millionen Bürger der DDR/ehemaligen DDR als "Wirtschaftsflüchtlinge" auf das Gebiet der alten Bundesrepublik... aber das ist natürlich etwas ganz anderes... -, hierher kommen, weil als Folge der auch deutschen Wirtschaftspolitik, ihnen in ihrer Heimat die Lebensgrundlange d.h. ihre Arbeit zerstört wurde, fragt/diskutiert kaum jemand. Schließlich besteht die Gefahr, dass dabei herauskommt, das diese Menschen von der Globalisierung viel stärker betroffen sind und die Deutschen ein Motor und Profiteur jener sind.

So ein Denken fördert in der Tat den Antistrukturalismus. Denn Phantomschmerzen und ein larmoyanter Narzissmus verhindert strukturelles Denken.


Kommentar geändert am 26.09.2017 um 23:49 Uhr

 RainerMScholz meinte dazu am 28.09.17:
Merkwürdigerweise hat ausgerechnet mein Soziologieprofessor (sic !) drauf bestanden, dass strukturell gesehen die Toten der RAF vergleichbar mit den Toten der SS seien. Vom rein akademisch strukturellen Gesichtspunkt hat er recht, aber ich denke, dass das im Grunde keine Kategorie ist, um den Wahrheitsgehalt der Aussage zu umgrenzen; was ich ihm so aber nicht sagte, da ich dachte, ich müsse jetzt `mal endlich das Studium abschließen, auch im Nebenfach, und auch mit diesem Professor.
Es geht also eigentlich um die Absenz von Empathie und Sinnhaftigkeit, bzw. die Einführung dieser Kategorien in eine (vielleicht auch akademische) Realitätsschau.
Grüße,
R.

 Dieter_Rotmund (27.09.17)
Erste Hälfte gefällt mir gut, aber mit " Schwarze Herzen brennen. Im Knochengarten blüht der Weizen und wir essen das saure Brot"
wird es mit zu vage-pathetisch. Interessant wäre es, mehr von deiner Gute-Nacht-Universität (was ist das?) im Kontext deines Themas zu erfahren.

"Empathieabsenz ist die schwerste Krankheit": Nun ja, Empathie ist endlich, würde ich sagen. Die meisten Menschen fühlen naturgemäß, so auch ich, nicht mit syrischen Kindern mit, dafür ist es einfach zu weit weg. Direkt um uns herum gibt es, außerhalb der ewigen Familienhölle, genug Sachen, die Empathie erzeugen. Würden mehr Menschen sich gesellschaftlich engagieren, dann gäbe es vermulltich auch keine Bombenkinder in Syrien.

 RainerMScholz antwortete darauf am 28.09.17:
Gute-Nacht-Universität - eine, auf der die politischen und gesellschaftlichen Diskussionen abgestorben zu sein scheinen zum Wohl des korrekten Scheinerwerbs und Karrierebeginns, könnte man sagen.
Nicht vage pathetisch - vage poetisch. Und keine Angst vor ein bisschen paté, D.R..
Grüße,
R.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 29.09.17:
Achso. Ja, kenne ich. Wobei ich da eher Gute-Nacht-Studenten sagen würde, die prägen ja diese Einstellung.
Aber vage-poetisch ist der Text nicht, lieber Rainer, da bist du offenbar ein wenig verliebt in Deinen eigenen Text, nicht wahr?

 RainerMScholz äußerte darauf am 30.09.17:
Nur an den wunden Stellen.
Möchtest Du einen Kommentar abgeben?
Diesen Text kommentieren
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram