Wer war Tante Erna T.?

Essay zum Thema Biographisches/ Personen

von  tulpenrot

Sie war mir völlig unbekannt bis zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie auf Anweisung meiner Mutter ein einziges Mal am Bodensee besuchte. Man solle Familienbande pflegen, war die Devise meiner Mutter. Also meldete ich mich eines Tages vor über 40 Jahren bei Tante Erna an und wurde zum Mittagessen eingeladen.

Tante Erna wohnte allein in einem kleinen Häuschen mitten in einem verwunschenen Garten. Die Haustür stand offen, von drinnen rief sie mir mit dunkler, resoluter Stimme entgegen, ich solle ruhig hereinkommen. Sie hatte mich wohl kommen sehen. Ich fand sie in der Küche, eine große aufrechte Frau in schwarzem Kleid und weißem Spitzenkragen. Nachträglich schätze ich, dass sie damals fast 90 Jahre alt gewesen sein musste. Sie hatte eine Schürze umgebunden und stand vor dem Herd. Aus einer geöffneten Konserven-Dose ließ sie eine Pilzmischung in einen Topf hinausschlüpfen.

„Du magst doch Pilze? Das Haltbarkeitsdatum ist zwar abgelaufen, aber ich esse solche Sachen trotzdem immer. Man darf nichts umkommen lassen.“
Pilze mochte ich zwar, diese jedoch sahen so schleimig aus, dass mir der Appetit verging. Ich fürchtete mich jedenfalls davor. In meinen Augen war mit ziemlicher Sicherheit der "Tod im Topf". Eine alte Konservendose mit ebenso altem Inhalt – ich war mir nicht sicher, ob ich diese Dosenpilze unbeschadet würde essen können.
„Ja“, antwortete ich trotzdem höflich und tapfer.

Tante Erna öffnete einen Küchenschrank, nahm zwei Teller heraus und gab sie mir.
„Das sind Ella und Marlies.“
„Und die Kaffeekanne hier heißt Sophie, wie meine Mutter. Und dort unten stehen noch Margarethe und Friedrich und Karl, die Schüsseln.“
Sie lächelte, als sie meinen erstaunten Blick sah.
„Du musst wissen“, erklärte sie. „Ich lebe hier völlig vereinsamt und rede deshalb mit meinem Geschirr. Verrückt, nicht wahr? Aber bevor ich völlig verstumme oder verblöde…“

Tante Erna hatte sich offensichtlich in einer anderen Welt eingerichtet. Damals sagte ich nur die Worte „ich verstehe“, heute verstehe ich sie.

Ich deckte den Tisch nebenan im Esszimmer, das sich an die Küche anschloss.
„In der Tischschublade liegt übrigens das Besteck“, rief Tante Erna mir aus der Küche zu.
Es fanden sich für das heutige Empfinden ungewöhnlich große Silbergabeln, -löffel und -messer darin. Solches Besteck kannte ich auch von meinen Großeltern. Ich mochte es.
Tante Erna trug das Essen auf und wir setzten uns.
„Schön hast du es hier“, sagte ich anerkennend. „Mitten im Garten zu leben, das gefällt mir. Und dann die Kerze und die Blumen auf dem Tisch mit der weißen Tischdecke. Sehr festlich!“
„Machst du das nie?“, wollte sie wissen. „Ich decke mir jeden Tag den Tisch mit frischen Blumen, einer Kerze und weißer Tischdecke. Das gehört sich so.“
„Für mich allein mache ich es nicht, aber wenn Besuch kommt, dann schon“, antwortete ich.

Plötzlich flatterten ein Spatz und noch ein zweiter und dazu noch eine Amsel durchs offene Fenster herein. Sie wollten sich frech auf den Tisch setzen. Tante Erna verjagte sie mit ihrer Stoffserviette.
„Heute gibt’s hier nichts“, schalt sie die Vögel. „Heute habe ich schon Besuch. Ihr könnt morgen wiederkommen.“ Sie schloss das Fenster.

Jetzt sah ich auch, dass die Stühle, der Boden und andere Möbelstücke mit Vogelhinterlassenschaften bekleckert waren. Mir wurde leicht übel.
„Sie sind meine Hausgenossen und Freunde. Das waren Fritz, August und Wilhelm. Die leisten mir immer Gesellschaft.“
Eine sonderbare Gesellschaft, fand ich.

Wie sie von Mecklenburg hierher an den Bodensee gekommen war und ob ihr Mann mit dem berühmten Goethe-Maler verwandt sei, wollte ich wissen.
„Weitläufig“, antwortete sie, ging aber nicht näher darauf ein. Stattdessen erzählte sie unvermittelt etwas anderes.
„Stell dir vor, eines Tages begegnete ich Adolf Hitler. Und er gab mir einen Handkuss.“
Diese Eröffnung war mir unangenehm. Was sollte ich darauf antworten? Ratlos schwieg ich. Keinesfalls wollte ich etwas Verletzendes oder Kritisches sagen – das stand mir bei einem ersten Besuch nicht zu, fand ich.
„Ich habe mir dann eine Woche lang die rechte Hand nicht gewaschen.“ Sie lächelte verschämt.
„Ich dachte ja damals, dass er etwas für Deutschland tun könnte, und war stolz. Aber das änderte sich zusehends. Was man nicht alles so erlebt in einem langen Dasein…“ –

„Das mit dem Handkuss stimmt doch gar nicht“, protestierte meine Tochter, der ich die Geschichte erzählte. „Das war doch unsere Bekannte aus K., die von Hitler den Handkuss bekam.“ –

Ich bin inzwischen in einem Alter, in dem man durchaus etwas verwechseln kann. Auch wäre es ein entlastender Gedanke, wenn Hitler meiner Tante Erna k e i n e n Handkuss gegeben hätte. Wenn sie ihm aber doch begegnet ist? Wenn sie oder ihr Mann womöglich eine „Nazi-Vergangenheit“ hatten? Ich kann sie nicht mehr fragen. Und die noch lebenden „Alten" aus der Familie erzählen zwar von ihren damaligen Erlebnissen, haben aber anscheinend gelernt, über ihre Einstellung zu dem Ganzen zu schweigen.
„Es war eine andere Zeit“, antwortete meine Mutter immer, wenn ich bei ihr nachfragte.-

Ich bedaure heute, dass ich Tante Ernas Spur verloren habe. Nur diese merkwürdigen Erinnerungsfetzen aus diesem einzigen Besuch sind geblieben.

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Kommentare zu diesem Text


 EkkehartMittelberg (14.11.17)
Liebe Tulpi,
du hast deshalb faszinierend erzählt, weil du nur einen Teil der Geheimnisse um deine Tante Erna lüftest.
Ich finde sie sympathisch in ihren Versuchen, mit Tassen und Vögeln ins Gespräch zu kommen. Das mit Hitlers Handkuss passt nicht so recht dazu. Aber was denkt man sich in seiner Einsamkeit nicht alles aus.
LG
Ekki

 tulpenrot meinte dazu am 14.11.17:
Lieber Ekki,
viel mehr weiß ich wirklich nicht über sie. Meine Mutter kann ich nicht mehr fragen. Ich war jetzt tagelang mit Recherchen im Internet beschäftigt. Und den Grund für das Widersprüchliche in ihrem Leben kann ich auch nur ahnen. Doch mich fasziniert sie trotzdem oder gerade deshalb.
Danke für deinen Kommentar und das Sternchen.
LG
Tulpi

 idioma antwortete darauf am 14.11.17:
der Text liest sich jedenfalls liebenswert lebendig und authentisch
idi

 tulpenrot schrieb daraufhin am 14.11.17:
Danke, idi. Ja, es hat alles so stattgefunden - man hatte mich ermutigt, meine Autobiografie zu schreiben. Das versuche mal ein wenig.
Graeculus (69)
(14.11.17)
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 tulpenrot äußerte darauf am 14.11.17:
Es ging ja nicht um den Besuch, den ich unbeschadet überstanden habe, sondern um das grauenhafte Essen, das mir wider Erwarten bekommen ist. Ich hatte die Befürchtung, dass ich andernfalls die Erzählung ohne Grund zu sehr auseinanderziehe.
Graeculus (69) ergänzte dazu am 14.11.17:
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 tulpenrot meinte dazu am 18.11.17:
Ich hab den Text überarbeitet. Vielleicht ist er jetzt besser?
Graeculus (69) meinte dazu am 18.11.17:
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 tulpenrot meinte dazu am 18.11.17:
Gut.
Ich denke trotzdem, dass war nicht die letzte Stufe der Überarbeitung.

 AZU20 (14.11.17)
Eine faszinierende Frau, vor alllem durch Deine Erzählung. LG

 Martina meinte dazu am 14.11.17:
Gerne gelesen! Ich wäre länger bei ihr geblieben, ich mag Menschen, die anders sind, das macht es interessanter.

 tulpenrot meinte dazu am 14.11.17:
Danke euch beiden. Ich finde es im Nachhinein sehr schade, dass der Kontakt zu ihr abgerissen ist. Ich war wohl auch zu jung, um ihn weiter aufrecht zu erhalten. Und nun weiß ich nur noch von diesem einen Besuch zu berichten....

 princess (14.11.17)
Liebe Angelika,

auf den ersten Blick wirkt sie nicht so verlockend, diese Begegnung zwischen Vogelkot und Schleimpilzen. Ja ja, ich bin da etwas etepetete. Und doch fesselt dein Blick auf Tante Erna, lässt so eine spannende Ahnung entstehen, wer oder wie sie gewesen sein mag. Eigentlich möchte ich jetzt gerne noch mehr über sie erfahren.

Liebe Grüße
Ira

 tulpenrot meinte dazu am 14.11.17:
Liebe Ira,
wenn ich selber mehr wüsste, würde ich gerne weiter erzählen. Mich freut aber, dass dich mein Text nicht zu sehr abgestoßen hat und du mehr erfahren möchtest.

Dir auch liebe Grüße
Angelika
Schachtfalter (39)
(14.11.17)
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 tulpenrot meinte dazu am 14.11.17:
Du hast Recht, die Pilzgeschichte könnte eventuell etwas straffer sein. Mal sehen.
Der Text ist ganz frisch und neu - und wie ich mich kenne, sind meine Texte selten "fertig". Überarbeitungen sind die Regel.

Die Eindrücke von dem Besuch bei meiner Tante sind Erinnerungsfetzen - ich habe sie deswegen absichtlich nicht zu einer Geschichte, einem "Plot" mit Spannungsbogen oder durchkomponiertem Erzähltext werden lassen. Ich finde es ermutigend, wenn du dieser Art des Erzählens etwas abgewinnen konntest. Und erzähle g e r n e wieder mal etwas. Und wenn du dich darauf freust, umso lieber!

Erst einmal einen schönen Abend
Tulpi
(P.S. tulpi war eigentlich mein spezielles Namensangebot für Ekki - aber der wird bestimmt nicht böse, wenn ich das Angebot erweitere...)
Schachtfalter (39) meinte dazu am 14.11.17:
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 tulpenrot meinte dazu am 15.11.17:
:-)))))
Dann lieber Rötli - das hört sich irgendwie n o c h niedlicher an --------
und klingt schweizerisch???
Schachtfalter (39) meinte dazu am 15.11.17:
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 tulpenrot meinte dazu am 18.11.17:
Ich habe den Text übergearbeitet. Was sagst du nun dazu?
Schachtfalter (39) meinte dazu am 19.11.17:
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 tulpenrot meinte dazu am 19.11.17:
Danke für diesen ganz netten Kommentar! *freu*
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