Augen zu

Sonett zum Thema Wirklichkeit

von  Isaban

Die Schieferschindeln wispern mit dem Wind.
Von Zeit zu Zeit ertönt gedämpftes Raunen,
erregt zum Teil, wie Zürnen oder Staunen;
die Fensterläden klappern manchmal blind.

Sie hört die Schritte irgendwo im Haus.
Er wäre jetzt wohl sieben Jahre alt.
Still wringt sie sich die kalten Finger kalt,
treibt sich das nie Gelebte kopfwärts aus.

Früh steht sie auf und funktioniert,
stützt sich, wie stets, auf all die vielen
Verrichtungen und Pflichten und justiert

sich selbst. Nur hat das nie Bestand:
Nachts sieht sie ihn im Kinderzimmer spielen
und ungesichtig hält er ihre Hand.

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Kommentare zu diesem Text


 princess (11.02.18)
Liebe Sabine,

ich habe häufig beobachtet, dass bei Sonetten diskussionstechnisch oft die Form im Vordergrund steht. Aber weißt du was? Hier kriecht der Inhalt beim Lesen so unmittelbar vom Bildschirm in meinen Bauch, dass die Form für mich völlig in den Hintergrund tritt.
Augen zu
Ja, am liebsten möchte ich das Motto dieses Titels aufgreifen und selbst auch ein Stück weit wegschauen. Allein: Es funktioniert nicht mehr. Warum? Weil das Gedicht mich innen drin erwischt. 100%.

Liebe Grüße
Ira

 Isaban meinte dazu am 11.02.18:
Hallo Ira,

wenn der Inhalt dieses Textes in deinen Bauch gekrochen ist und dein Kopf ihn nicht mehr loslassen kann, dann habe ich diesmal wohl etwas richtig gemacht. Vielen Dank für deine Rückmeldung.

Liebe Grüße

Sabine
matwildast (37)
(11.02.18)
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 Isaban antwortete darauf am 11.02.18:
Vielen Dank für Rückmeldung und Lob.

Liebe Grüße

Sabine

 eiskimo (11.02.18)
Brutal, dieses Gedicht - das darf man nicht so dicht an sich ranlassen. Aber du zwingst einen da fast hinein. Sprachlich eine Wucht.
LG Eiskimo

 eiskimo schrieb daraufhin am 11.02.18:
Was ich noch vergessen habe: Der Titel "Augen zu" ist - wenn man das in so einem Kontext sagen darf - grandios. Erste Assoziation: Tod des Kindes, dann als zweite: Das Verdrängen seitens der Mutter, das Nicht-Wahrhaben-Wollen.Und als dritte: Der Leser merkt spätestens ab Zeile 6, welche Tragik da auf ihn wartet -. Augen zu auch bei ihm...
Eiskimo

 Isaban äußerte darauf am 11.02.18:
Hallo eiskimo,

herzlichen Dank für deine Rückmeldungen!

Es freut mich sehr, dass dich der Text angesprochen hat und dass du seinem Sog zum Opfer fallen mochtest. Gemein, dass es so harmlos anfängt, ne?
Das Lob bezpglich des Titels freut mich natürlich ebenfalls.

Merci beaucoup

und liebe Grüße

Sabine
Agneta (62)
(11.02.18)
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 Isaban ergänzte dazu am 12.02.18:
Hallo Agneta,

es freut mich sehr, dass dieses Sonett dein Interesse erregen konnte und Gefallen fand. Hab herzlichen Dank für deine Auseinandersetzung mit meinem Text und die konstruktive Rückmeldung!

Zu S2, V3:
Still wringt sie sich die kalten Finger kalt,
treibt sich das nie Gelebte kopfwärts aus.


Dein Vorschlag: Sie wringt sich still die klammen Finger kalt.

Schade, hat wohl nicht so geklappt, wie ich es mir vorgestellt hatte. Angedacht war hier von mir die mögliche Mehrdeutigkeit. Man kann sich nämlich eigentlich weder kalte noch klamme Finger kalt wringen. Allein durch die beim Wringen entstehende Reibung würden die kalten oder klammen (und klamme Finger wären ja immer auch definitionsgemäß ein bissl feucht) besser durchblutet und daher erwärmt werden. Ich hoffte (und habe dabei vermutlich mal wieder viel zu weit um die Ecke gedacht), den Leser dazu anzuregen, über diese Tatsache (daher die hier eingebaute kalte Dopplung) zu stolpern und bei genauerem Hinsehen zu erkennen, dass diese Frau nicht unbedingt nur ihre eigenen Finger wringt, sondern sich bewusst (daher auch die Austreibung über den Kopf), wenn auch nicht langzeitig erfolgreich, dazu zwingt, die für immer kalten Finger ihres Sohnes kalt sein zu lassen, sich bewusst zu machen, dass er tot ist. Tja, das habe ich wohl doch noch zu subtil angelegt, ich denke noch mal drüber nach, wie ich meine Absicht noch mehr verdeutlichen könnte.

Der Wechsel auf die Vierhebigkeit in den Terzetten war ebenfalls bewusst als stilistisches Mittel zur Unterstreichung der Versinhalte gewählt.

Mir ist völlig klar, dass sich da die Geister scheiden und manche diesbezüglich eher konservativen Sonettliebhaber ein Sonett nur als gelungen empfinden können, wenn es formal alle Regeln erfüllt.

Ich liebe Sonette ebenfalls und genieße auch inhaltlich gute, formvollendete Werke sehr, gehöre aber eher zur Fraktion derer, die bewusst Regelbrüche begehen, um den dargestellten Inhalt noch einmal stilistisch zu betonen. Ich mag es auch sehr, in fremden Texten die stilistischen Mittel aufzustöbern und sie in meine Interpretationen mit einzubauen.
In der Diskussion um die Regeltreue werden die Sonettliebhaber aller Art wohl nie 100%ig auf einen gemeinsamen Nenner kommen, da muss jeder selbst wissen, wo er steht. Für mich und meine Texte gilt: Solange Regelbrüche nicht aus Unfähigkeit oder Unwissenheit, sondern zur Unterstreichung des Inhaltlichen begangen werden, sind sie keine Verbrechen gegen die Gedichtform und auch nicht als Fehler, sondern als Stilmittel zu betrachten. Ob die angewendeten (und natürlich inhaltlich nachvollziehbaren!) Stilmittel als Bereicherung oder eher als Minderung des Textes betrachtet werden, bleibt natürlich jedem einzelnen Leser vorbehalten.

Ich kann insofern gut verstehen, wenn ein Wechsel im Versmaß jemandem unangenehm aufstößt, der die Regeln kennt und bei einem Sonett erwartet, dass auch gefälligst alle befolgt werden sollen - und insofern hast du natürlich Recht: Um der Form Genüge zu tun, müsste ich die Hebungen innerhalb der Terzette an die Fünfhebigkeit der Quartette anpassen. Aber wie sieht das mit der Unterstreichung des Inhaltes aus? Ich schreibe mal in Klammern zum Text, was ich mir dabei gedacht habe.

Früh steht sie auf und funktioniert, (sie funktioniert, aber eben nur das, da fehlt was, genau wie dem Versmaß)
stützt sich, wie stets, auf all die vielen (das "sich", also im grunde das LI, zieht sich am Verb hoch, stützt sich auf die Tätigkeit und auf die Routine, das Gewohnte, aber auch hier fehlt noch was, es läuft, aber, genau wie das Versmaß, immer noch nicht rund)
Verrichtungen und Pflichten und justiert (hier tauchen kurz die angestrebten fünf Hebungen auf, das LI hat sich justiert, hat sich möglichst exakt eingestellt)

sich selbst. Nur hat das nie Bestand: (aber es ist - daher auch das Enjambement und der sichtbare Abstand, der sich irgendwie "verrenkt" liest, auch wenn hier der Form genüge getan wurde - nicht von Bestand, es hält nicht, alle Kontenance zerbröckelt im nächsten Moment/ im nächsten -wiederum vierhebigen - Vers wieder. Klar, man könnte auch das Reimwort „Verstand“ in diesen Vers einbauen oder sich sonst noch etwas einfallen lassen, aber es geht hier genau um das, was da steht: um Bestand, um das, was besteht, was vorhanden ist, was fortdauert.)
Nachts sieht sie ihn im Kinderzimmer spielen (das hat Bestand, da sind sie wieder, die fünf Hebungen, das - und der nächste Vers beinhalten das, was zur Regel geworden ist, was immer Bestand haben wird, was immer gelten wird.)
und ungesichtig hält er ihre Hand.


Ich möchte meinen Text nicht verteidigen, der sollte - so wie jeder Text - für sich selbst sprechen, ich wollte nur aufzeigen, was ich (unter anderem) mit einbauen wollte. Er scheint ganz offensichtlich bei dir, beim Leser also, nicht so anzukommen, wie ich es mir erhofft hatte. Ich muss wohl irgendwo ein paar Denkfehler mit eingebaut oder ein paar falsche oder zu subtile Fäden angelegt haben. Mist.

Dir noch einmal vielen Dank für deinen aufschlussreichen Kommentar.

Liebe Grüße

Sabine

PS: Ach ja, was war mit den "Verrichtungen" am Schluss?

Antwort geändert am 12.02.2018 um 12:38 Uhr
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