Mein Danebenjob III: Wie unangepasste versucht, zur Sekretärin zu werden

Text zum Thema Erwachsen werden

von  unangepasste

Es ließ sich nicht mehr abstreiten: Ich hatte ein Alter erreicht, in dem man arbeiten geht, jeden Morgen geschminkt und mit lautem Gruß in ein Büro stöckelt, jedenfalls wenn man den Furcht einflößenden Beruf der Europasekretärin erlernt hat. Kontrolle zeigt sich bereits in der Ausstrahlung. Botschaften werden durch Haltung und Blick betont. Eine Dame ist man geworden. Ja, eine Dame als der Begriff, wie ich ihn als Kind verstand. Damals meinte ich damit Frauen mit klappernden Schuhen, Duftwolken und gehobenem Kinn; Frauen, deren prüfender Blick ab und zu über die Kleidung gleitet, um sich zu vergewissern, ob sie noch sitzt.
Doch ich fühlte mich noch immer wie ein Mädchen. Schüchtern huschte ich durch die Stockwerke, ungeschminkt und im Pullover einer Studentin. „Ich bin doch auch eine Studentin“, versuchte ich mich zu beruhigen. Aber eine andere Stimme in mir widersprach: „Draußen, wenn der Busfahrer den Fahrschein sehen will, doch nicht hier und jetzt, nicht in diesem Gebäude.“

Manchmal übte mein Chef Kritik, doch zurückhaltend. „Du siehst aus wie achtzehneinhalb“, sagte er dann, während er eine seiner Reden hielt. Um seinen Äußerungen eine positive Seite zu geben, fügte er hinzu: „Zum Glück. Aber du brauchst mehr Ausstrahlung, wenn du später einmal richtig Geld verdienen willst.“ Richtig Geld verdienen – darüber dachte ich nicht im Entferntesten nach. Ich wollte nur genug zu essen haben, Bücher fürs Studium kaufen und hin und wieder die Kopierkarte für die Bibliothek aufladen. Dennoch fühlte ich mich klein. Vielleicht war das der Grund, warum ich nicht kündigte, nachdem ich zweieinhalb Monate vergeblich auf meinen Stundenlohn gewartet hatte, warum ich als einzige Mitarbeiterin noch ins Büro kam: Die Angst, anderswo zu versagen, eine ständige Furcht, nicht zu genügen. All das war begleitet von einer Torschlusspanik. „Mit vierundzwanzig kann man noch lernen“, pflegte mein Chef zu sagen. „Ich erziehe dich zu meiner Sekretärin, wenn du noch eine Weile bleibst. Doch spätestens mit dreißig ist ein Mensch geformt.“
Ich wollte nicht seine Sekretärin werden. Ich hatte das Spiel erkannt, wenn auch noch nicht den vollständigen Zynismus einer solchen Bemerkung in Anbetracht der Umstände. Jeden Monat steckte mir meine Großmutter 50 Euro in einen Briefumschlag, weil sie ich Sorgen machte – Geld, das mir eigentlich mein Chef zahlen sollte. Ich ernährte mich von Nudeln ohne Soße, Aldibrot und Nutella-Imitat, da mein Arbeitgeber nicht einmal die vereinbarten fünf Euro pro Stunde überwies, mich stets auf später vertröstete, nur um sein Versprechen ein weiteres Mal zu brechen.
War das der Wert einer ausgebildeten Sekretärin? Dennoch: Ich befand mich im ersten Semester einer brotlosen Kunst und wollte diesen Job erst aufgeben, wenn sich etwas Neues aufgetan hatte.
Nach einem halben Jahr war es so weit. Eine schriftliche Kündigung? Unnötig, dachte ich. Wir vereinbarten, dass ich von nun an nicht mehr kommen würde.

Dennoch war es so einfach nicht getan. Noch Monate bemühte ich mich um mein Geld. Ich suchte nach der billigsten Vorwahl – damals gab es noch keine Flatrates – und wählte die Nummer meines nun ehemaligen Chefs.
Ein mürrisches „Ja“ ertönte. „Sie wollten mir …“, versuchte ich es, doch schon unterbrach er mich: „Mein Kind, pass auf, ich bin gerade in einer Besprechung, ich ruf dich in einer halben Stunde zurück.“ Wahlweise sagte er „auf der Autobahn“, „gleich im Flugzeug“ oder „im ICE“. Das „Kind“ überhörte ich höflich. Auch meine Kollegen waren stets „Junge“, Kind“ oder auch mal „Äh …“ Doch die Rückrufe, die ich nie erhielt, machten mich wütend.
Meist tippte ich dann wieder seine Nummer, und jedes „Herzlich willkommen bei O2“ weckte in mir das Bedürfnis, irgendetwas zu zerschlagen.

Eines Tages war es aber so weit. Nach einem halben Jahr sollte ich endlich meinen Lohn bekommen. Oder einen Teil davon. Das wusste ich noch nicht. Würde mein ehemaliger Chef da sein? Einen Augenblick dachte ich sogar an gefälschte Scheine und fragte mich, was ich in einem solchen Fall tun würde.
Zwei Minuten, bevor ich in Jacke und Schuhe schlüpfen wollte, klingelte das Handy. Während ich auf die Nummer starrte, überlegte ich kurz, ob er absagen würde. „Mein Zug fährt in zehn Minuten. Vielleicht verpasse ihn. Ich melde mich gleich wieder.“
„Vielleicht verpasse ich den Zug“ fand ich schon fast wieder lachhaft. Vielleicht hat meine U-Bahn Verspätung, vielleicht bleibe ich im Tunnel stecken, vielleicht fällt nachher der Strom aus oder mein Telefon. Vielleicht habe ich auch gleich keine Lust mehr. Ich machte mich auf den Weg.
Am Ende ging alles ganz schnell. Erleichterung, aber auch Enttäuschung. Ein Vierzehntel der Summe auf die Hand, ein kurzes „Wie geht es“, dann „Ich muss gleich weg.“

Eine Erfahrung, auf die ich verzichten könnte? Auf der einen Seite: ja. Und doch sind das die Momente, die uns erwachsen werden lassen. Wir bemerken den Prozess erst kaum; doch auf einmal, wenn wir uns zurückversetzt fühlen, spüren wir, dass etwas anders ist, dass wir kein Spielball mehr sind. Wie die Kindheit fällt auch die Naivität von uns ab, wird beerdigt zusammen mit der Person, die wir einst waren.
Ob das wehtut? Auch das. Denn die Echtheit geht in diesem Prozess oft verloren. Vielleicht werden wir nicht die Dame, die wir einst verspotteten; und doch spielen wir mit, passen uns an, funktionieren in einem System, das wir einst ablehnten. Wir werden ein Teil der Welt. Und dabei werden wir still. Sehr still. 
Warum? Der Trubel lässt kaum noch Zeit zum Nachdenken. Zwischen Supermarkt und Büro, S-Bahn und Bus spüren wir zwar noch, dass da einmal etwas war. Für einen kurzen Moment flackert es auf, manchmal, während wir am Bahnhof stehen, doch um uns herum ist es laut, lauter als in unserem Innern. Und wir sind doch so vernünftig geworden – so sehr, dass wir gar nicht mehr wissen, ob wir etwas anderes sind, als dieses Leben von uns erwartet.

Hinweis: Du kannst diesen Text leider nicht kommentieren, da der Verfasser keine Kommentare von nicht angemeldeten Nutzern erlaubt.

Kommentare zu diesem Text

Dieter Wal (58)
(18.03.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 unangepasste meinte dazu am 18.03.18:
Danke - und ja, es gibt gewöhnungsbedürftige Vorgesetzte. Teil III ist jetzt auch fertig und wird nächste Woche eingestellt. Da wird der Leser weitere dieser Sorte kennenlernen. Allerdings jeder ein Original für sich.

Antwort geändert am 18.03.2018 um 10:42 Uhr
RedBalloon (58)
(18.03.18)
Dieser Kommentar ist nur für eingeloggte Benutzer lesbar.

 unangepasste antwortete darauf am 18.03.18:
Haha, ja

 princess (18.03.18)
Ein Vierzehntel der Summe
Wow das sind ja immerhin mehr als 7 Prozent! Sieht so aus als sei der spendable Ex-Chef ebenso unangepasst wie seine Ex-Sekretärin.

Danebenjob finde ich nach wie vor klasse!

Liebe Grüße
Ira

 unangepasste schrieb daraufhin am 18.03.18:
Das trifft wohl zu

 GastIltis (18.03.18)
Hallo, ein Text, den man lieben muss! Deine bescheidene Art wirkt dennoch so fesselnd, dass man nicht davon loskommt. Ich jedenfalls. Ich freue mich schon auf die Fortsetzung. LG von Gil.

 unangepasste äußerte darauf am 18.03.18:
Vielen Dank! Freut mich. War mir nicht sicher, ob diese Textart überhaupt was für KV ist.
Zwei Teile habe ich heute noch geschrieben. Werde sie noch ein bisschen zur Seite legen, überarbeiten und nächstes Wochenende kommt bestimmt die Fortsetzung.

 AZU20 (21.03.18)
Ich bleibe gespannt. LG

 unangepasste ergänzte dazu am 21.03.18:
Das freut mich! Bald kommt die nächste Folge online (wahrscheinlich komme ich am Sonntag dazu - davor bin ich zu viel unterwegs).
Zur Zeit online:
keinVerlag.de auf Facebook keinVerlag.de auf Twitter keinVerlag.de auf Instagram