Pan. Flacher Atem.

Erzählung

von  Willibald

Katharina keuchte ein wenig,  sie hatte ihren Kopfhörer auf, Marc Cohn sang und ihre Füße trommelten im Takt.

Put on my blue suede shoes
and I boarded the plane
touched down in the land of the Delta Blues,
in the middle of the pouring rain.


Es war Samstag, die Schulwoche lag hinter ihr, der Montag weit vor ihr und die kleine Stadt  unter ihr. Die Fachwerkgebäude, das Schnatterloch, das Gymnasium waren nicht mehr zu sehen. Ein paar Steinhäuser und  Villen fanden sich noch auf der Graubergstraße.  Gründerzeitvillen. Die Freundin wohnte dort. Ralph vom Tanzkurs, der sie  küssen wollte,  der alte Pfarrer, der sie vor sechzehn Jahren getauft hatte.

Nun lief sie in den flachen Ringweg ein, atmete tief durch, beschleunigte das Tempo, ihre blauen Schuhe wirbelten über den Boden, der  schattendunkle Wald hatte sie aufgenommen. Und sie näherte sich dem ummauerten Privatgrundstück mit dem eisernen Gittertor in der Sandsteinmauer.  Mehrmals schon hatte sie  das Gartentor gemustert und war daran vorbeigelaufen. Heute würde sie prüfen, ob die Tür verschlossen war.

Saw the ghost of Elvis on Union Avenue,
followed him up to the gates of Graceland,
then I watched him walk right through.
Now security they did not see him.
They just hovered 'round his tomb.
But there's a pretty little thing
waiting for the King
down in the Jungle Room.
 

Sie setzte  noch vier,  fünf Schritte auf der Stelle, gewann ihren Atem zurück und  lehnte sich mit der Stirn an das eiserne Gitter. Dann legte sie die Hand auf die Klinke und musterte das Blumenbeet. Dahinter erhob sich mannshoch eine Akazienwand, dicht,  sorgfältig beschnitten. Aber das Gras auf dem Weg zeigte, dass sich hier in letzter Zeit wohl niemand aufgehalten hatte.  Sie öffnete vorsichtig das Tor.

Es war fast windstill.  Das Gras  raschelte und einen Augenblick lang genoss sie,  das blaue  Leder ihrer Sportschuhe über den Boden gleiten zu sehen, bis hin zu  dem Blumenbeet. Glühende Päonien und smaragdgrüne Kaiserkronen breiteten sich vor ihren Füßen aus, ein süßlicher Duft hing über dem Beet. Katharina schloss  die Augen und atmete  ein. Es wurde  kühler auf ihrer Stirn und  ein Schatten schien sich auszubreiten.

Katharina öffnete die Lider und blickte zum Himmel hinauf. Als kleines Kind hatte sie diese Wolkenflotte gesehen: Segel bauschten sich. Schiffe schwammen an der Sonne vorbei und netzten mit ihrem Schatten die Haut. Dann kam das warme Licht wieder,  die Strahlenlanzen trafen auf das Blumenrondell, auf abgefallene Nadeln und die Akazien.  Dahinter etwas Weißes. Ein Gartenhaus? Die Akazien kratzten, als  sich Katharina an ihnen vorbeizwängte. Put on my blue suede shoes, touched down in the land of the Delta Blues.  Kein Gartenhaus,  eine Art Kapelle.  Weiß gekalkt, mit einem blauen Rautenzeichen an der Außenfront, keine Fenster in dem Mauerwerk, das Tor wieder nicht verschlossen. Ein Andachtsraum des unbekannten Besitzers? Ein geheimer Platz für Liebespaare? Ob Ralph von diesem  Ort etwas wusste? 

Ihre Augen brauchten eine Zeitlang, bis sie sich an das Halbdunkel im Inneren gewöhnt hatten, dann sah sie vor sich ein Podest, darauf eine weiße Statue, ein Jüngling,  lebensgroß. Die Rechte der Figur berührte die Schläfe, es war nicht klar, ob in einer sinnenden oder verzweifelten Geste, der linke Fuß war leicht vorangestellt, als halte mitten in der Bewegung der junge Mann inne. Die pupillenlosen Augen schienen auf das offene Tor zu blicken, dorthin, wo Katharina  eingetreten war und wo nun ein Lichtschwamm das Dunkel der Kapelle säumte.

Auf dem Podest fand sich keinerlei Inschrift,  in den Sockel der Statue war eine Haltevorrichtung eingelassen. Daran hing etwa auf Kopfhöhe Katharinas an kurzer Kette eine ölgefüllte Ampel aus Rubinglas, sie  erinnerte ein wenig an das "Ewige Licht" ihrer Taufkirche. Katharina streichelte über das kühle Gebilde  und spürte eine  feine Gravur, Umrisse einer Gestalt, Schnörkelwerk, winzige, regelmäßige,  deltaartige Schuppen.

Hinter dem Rubin  ein Docht, verankert  in einer lancettenförmigen Vorrichtung. Auf dem Podest eine von Feuchtigkeit aufgebogene Streichholzschachtel. Das dritte Hölzchen zündete,  der Docht begann zu glosen und blakte, dann züngelte eine Flamme, tänzelte ein wenig und setzte sich leise sprühend am Dochtende fest. Als Katharina nun ganz nahe herantrat, so dass sie das Glas mit der Stirn berühren konnte, schien sich ihr in der rubinroten Flüssigkeit ein Meer auszubreiten. Darüber ein unendlicher Horizont, gekrümmt zwar, aber ohne Ende. Nahm man den Kopf etwas zurück und betrachtete die Gravur, so erkannte man einen fein gearbeiteten Fisch, schmal, der Leib geschuppt. Anstelle der  Kiemen zwei Flügel..

Katharina musterte die Wände der Kapelle, dort  zog der Schatten eines großen geflügelten Fisches rings um sie einen Halbkreis nach vorn, dann langsam wieder zurück. Sie fühlte, wie ihr Herz schneller schlug. Die Wände erinnerten an dunkelblauen, blättrigen Schiefer, von Flechten durchädert, eine schwarze Masse, darin aufglimmende Drusen, bald weißlich, bald ins Rötliche fallend. Mit einem Mal war  ihr klar, dass sie weg musste, sie musste den Lichtsaum bei der Tür erreichen, in dem die feinen Staubkörnchen schwebten, und sie musste den Bannkreis der Flamme durchbrechen, die auf dem Docht hockte,  flüssiges Quarz,  violettfarbig, verzehrend biegsam.

Katharina schloss die Augen. Das Mädchen zwang die Füße in eine Bewegung, die langsam und tranceartig ausfiel, ausgeführt wie von einem fremden Körper Sie spürte den Blick von jemand oder etwas, das den Raum füllte  und die Luft in der Kapelle einzusaugen schien, den Blick auf ihren Körper. Sie senkte den Kopf und atmete flach. Dabei berührte sie  mit der Hand ihre Schläfe, um sich zu beruhigen.

Sie  hatte den Eindruck, sich selber zuzuschauen, als sie nun den Kopf zu der Statue hob, um den Atem zu gewinnen, den sie brauchen würde, wenn sie die Tür noch erreichen wollte.

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Für Aficionados von Mixtexten:

ikonisch:
Tor am Grauberg, Miltenberg; aufgenommen  vom Schreiber

lyrics und Bild:
 Walking in Memphis, Song, textorientiert
 Walking in Memphis, ikonischer Stream
 Blue Suede Shoes, Carl Perkins; (Ewan McGregor Loyc)

Illustration zum Text
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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (19.06.19)
Ich würde die Liedzeilen löschen, sie stören (auch die im Text). Ohne das Musikgedöns würde der Text erheblich an Qualität gewinnen. Kill your darlings sagt man dazu beim Film. Und außerdem haben Links zu irgendeinem Youtube-Musikvideo noch nie einen Text besser gemacht. Sondern eigentlich immer schlechter.

 Willibald meinte dazu am 19.06.19:
Danke für die Rückmeldung, wackerer Dieter.
Knochentrocken und nicht ohne. Ich würde eine Rückmeldung zu diesem Text anders formulieren. Aber das wäre irgendwie doof.
Bei uns ist morgen Feiertag.
Einen schönen Abend noch.

willi wamser

 Dieter_Rotmund antwortete darauf am 20.06.19:
Es fehlt übrigens hier noch die Lizenzvereinbarung mit dem Rechteinhaber des Bildes und der Bildnachweis. Der kV-Webmaster ist diesbezüglich sehr gewissenhaft.

 Willibald schrieb daraufhin am 20.06.19:
Merci, Dieter, habe den entsprechenden Nachweis gesetzt.

 EkkehartMittelberg (19.06.19)
Voller Poesie, zauberhaft, magisch.
BG
Ekki

 Willibald äußerte darauf am 19.06.19:
Lieber Ekkehart,
ich habe mich über deine Rückmeldung besonders sehr gefreut.
Lassen wir es uns gut gehen.
ww

 AchterZwerg (21.06.19)
Hallo Willibald,

ach, diese schönen alten Songs! Eingefasst von einem magischen Garten. - Da wird mir gleich ganz warm ums Herz.
Ein märchenhaft lyrischer Text, der mehr als nur gelungen ist.
Allein schon für die Szene mit dem "ewigen Licht" gehört dir mein Applaus.
Leider auch ein Beispiel dafür, dass die wirklich guten Texte häufig unbeachtet bleiben ... Tja.

Voller Bewunderung
der8.

 Willibald ergänzte dazu am 23.06.19:
Ach, 8er Zwerg!

Potz wilde Wetter am Sonntag!
So schüre ich mit Kieferzapfen das Feuer im heimischen Herd.
Ohne Brand kein Braten.
Und ohne Lesergeniessergenossin
kein Genuss.
Den Bär hungert,
wenn er lange nicht fraß.

Und:
Ein Alleinstellungsmerkmal von lyrischer Prosa dürfte sein,
dass sie Phänomene erfahrbar macht, jenseits oder diesseits oder was weiß ich wo rationaler Sprache. Sie kann das niemals oder noch nicht darstellen.

Texterlebnis: Ruhig und aufmerksam, mit vielen Bällen jonglieren.
Ach.

Es grüßt herzlich und dankend
ww

Antwort geändert am 23.06.2019 um 13:01 Uhr
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