Als Johannes das Klassenzimmer betrat und sich neben dem Schaukasten hingesetzt hatte, es war November und die Klassleiterin Frau Hildegard Kreß hatte angeregt, man solle den Raum doch vielleicht ein wenig „wohnlicher“ gestalten, blickte er kurz auf das Bild, das hinter der Glasscheibe hing. Zwei Blumen, die sich einander zuneigten, darunter in großer Schrift „Es ist ein Schnitter, der heißt Tod….. Hüt´ dich, schön´s Blümelein“.
Puh, als er dreijährig auf den Schultern seines Vaters sitzend in der vollen Klosterkirche den Franziskanermönch predigen hörte, war er in Tränen ausgebrochen: „Am Ende steht der Tod. Deine Mutter wird sterben, dein Vater wird sterben, deine Geschwister werden sterben. Du wirst sterben. Wir alle werden sterben.“ Sein Vater war mit ihm hinausgegangen, begleitet von verständnisvollen Blicken oder predigtkonzentrierten Mienen der Gottesdienstbesucher.
Tod, Sterben, Todsünde, Hölle.
Der Beichtstuhl, der in der Klosterkirche, der in der Stadtpfarrkirche.
Beklemmung.
Jetzt war Johannes zehn Jahre älter und nichts war vorüber.
Johannes fuhr sich über die Stirn, in der ersten Stunde würde Manhardt kommen: Die Punischen Kriege, Carthago und Rom. Punische Reiterei, Massinissas Reiter, sie galoppieren staubwirbelnd über das Kampffeld. Manhardt begeisterte seit einem Monat damit, dass er – den Blick in die Ferne gerichtet - den Namen „Massinissa“ zelebrierte, posaunte, trompetete. Er schärfte alle Vokale, er schärfte die Konsonanten.
MASS-si-NISS-sa. MASS-si-NISS-sa.
Drunten im Schulhof der Berufsschule war der Hausmeister „Mungo“ zu sehen, er leerte wütend einen Abfallkorb, wütend auf die Gymnasiasten. Drei Klassen waren hier 500 Meter fern vom Gymnasium-Altbau untergebracht, weil der Altbau die Schülerzahl nicht mehr fassen konnte. Elende Eindringlinge in seinem Revier waren das, Saukrüppel, Schmutzfinken, Widerlinge. Bis die Lehrer vom Altbau her die Berufsschule erreichten, verstrich Zeit und es wurde oft laut, sehr laut, Sitzkissen flogen, der Schwamm wirbelte, Stühle wurden umgeschmissen, quietschebuntes Tohuwabohu, „pubertätsrissiger Exzess“, sagte Johannes´ Vater, "Blödheit von Dreizehnjährigen", sagte der Biologielehrer. „Remmidemmi halt“, sagte Günter.
Jetzt war es wieder einmal soweit, gleich würde es losgehen, Manhardt war nicht aufgetaucht. Erwin schaute aus dem Fenster, ob vielleicht ein Vertretungslehrer? „Hei, da kommt Schlereth!“ Albert Schlereth, Priester, katholischer Religionslehrer, sie hatten ihn bisher noch nicht gehabt.
Schlereth betrat lächelnd den Raum, stellte seine Aktentasche ab und erklärte, dass er etwas vorlesen wolle. Zu Johannes´ Erstaunen und zunehmenden Vergnügen war nichts Religiöses zu hören, vielmehr eine Geschichte, in der ein Onkel Podger einen Nagel in die Wand schlägt, um ein Bild aufzuhängen, und dabei einen Riesenzirkus veranstaltet, an dem die Familie geduldig bis wütend teilnehmen muss. Das Bild fällt zu Boden, die Glasscheibe bricht, Podgers Finger blutet. Chaos, Chaos, Chaos. Schlereth las weiter:
Nach einer halben Stunde ist dann sein Finger verbunden, ein neues Glas ist über dem Bild angebracht, und das Handwerkszeug und die Bockleiter und der Küchenstuhl und das Licht, kurz, alles ist herbeigeschafft, und die ganze Familie, das Hausmädchen und die Aufwärterin mit eingeschlossen, stehen im Kreise herum, um ihm zu helfen. Zwei von ihnen müssen den Stuhl halten, ein drittes muss ihm hinaufhelfen und ihn halten, ein viertes ihm den Nagel reichen, ein fünftes den Hammer, dann nimmt er den Nagel, lässt ihn aber fallen.
»So, da habt ihr's!« ruft er nun aufs höchste beleidigt aus, »jetzt ist der Nagel weg!«
Bei „So, da habt ihr´s“ muss Schlereth – ohne mit dem Lesen aufzuhören - glucksend lachen und Johannes hatte ihn spätestens da in sein Herz geschlossen. Und hatte sich den Buchtitel gemerkt.
Gleich am Nachmittag stand Johannes in der Buchhandlung Halbig und fragte nach Jerome K. Jeromes „Drei Mann in einem Boot“. Der junge Halbig hatte das Ullsteintaschenbuch da. Johannes betrachtete das Umschlagsbild, dann das Kinoplakat vom "Schlosstheater" auf der anderen Straßenseite: „Die Trappfamilie“. Ruth Leuwerik, Josef Meinrad, Hans Holt. Ruth Leuwerik als Nonne und als Mutter.
Johannes betrat die Ochsengasse neben der Buchhandlung und ging zum Main, um dort bei der Brücke - in der Nähe der wasserspeiende Löwenkopf - zu lesen. „Somnambul“, sagte sein Vater oft zu seiner Mutter, „unser Schluri Johannes schlurft irgendwie somnambul durch die Gegend. Aber. Nun ja.“
Der Himmel ergraute, der Fluss färbte sich schwarz.
Als es dunkel wurde, hatte Johannes das Buch zweimal gelesen.
In dem Jungen war so etwas wie Hoffnung,
dass hier und in dem Buch und in dem Religionslehrer all das war,
was es auch gab.
Und dass Gott Spaß hatte und dass es solche Bücher gab,
weil Gott wollte, dass wir Spaß haben, auch wenn die Dunkelheit anstürmt.