Mein Bruder

Lebensweisheit zum Thema Achtung/Missachtung

von  Borek

Mein Bruder                       
Leicht zerknittert, im gebügelten frisch gereinigten Blau, die passende
Krawatte etwas auf halbmast gesenkt, saß ich im Speisewagen des ICE
der mich nach Berlin bringen sollte. Zum Kaffee hatte es in der frühen Morgenstunde nicht mehr gereicht.
Nervosität hatte mich befangen, alle sonst immer bestimmende Sicherheit
war verflogen.
Die schwarzen eleganten Schnürschuhe hatte ich gegen Slipper vertauscht,
nur damit die Schnürsenkel nicht aufgehen: Denn die Tücke steckt im Detail.
Es sollte alles reibungslos verlaufen.

Ein elegantes Portal durchschritt ich, bedrückt, denn hinter diesem Eingang sollte sich meine weitere Zukunft entscheiden.
Helles Licht empfing mich, teurer Granitfußboden und eine elegante Rezeption, verstärkte noch den äußerlichen Eindruck der Firma.

"Mein Name ist H.L, ich habe für 10 Uhr ein Vorstellungsgespräch bei Herrn Professor Hofstetter."
"Herzlich Willkommen Herr L, nehmen sie den rechten Fahrstuhl bis zur 3 Etage, dort finden sie die Sekretärin  von Herrn Professor. Sie wird sich um sie kümmern."
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
"Ich wünsche Ihnen viel Glück" und ein vielsagender Blick lies mir etwas Mut geben. Ich hatte eine lange berufliche Leiter hinter mir.
"Warum bist du bedrückt?
Vielleicht, weil es meine letzte berufliche Sprosse sein sollte?"
Auch der dritte Stock öffnete sich durch die Fahrstuhltür mit gediegener Eleganz.
"Herr L, herzlich Willkommen, es dauert noch ein paar Minuten, es fehlt noch Direktor Hauschild für das Gespräch."
"Woher kennen sie meinen Namen?"
"Ich habe ihr Foto und ihre Bewerbungsunterlagen gesehen; Sehr interessant. Nehmen sie bitte noch etwas Platz."
10 Minuten später öffnete sich die weißlackierte Flügeltür, und ein
leicht ergrauter Herr trat auf mich zu.
"Ich bin Professor Hofstetter, bitte kommen sie mit mir."
Ich betrat einen kleinen Konferenzsaal, und fünf wichtig erscheinende Herren saßen nebeneinander, aufgereiht, da.
Es war die üblichen Begrüßungsfloskeln die man wechselte.
Doch nun riss Professor Hofsteter das Gespräch an sich.
"Herr L, sie haben eine interessante Bewerbung eingereicht.
Sie schildern ihr Elternhaus, ihre Entwicklung sehr überzeugend, aber ich vermisse eine Bemerkung über ihre Geschwister, Brüder oder Schwestern? Sind sie in einer Gemeinschaft aufgewachsen oder allein? Die Integrationsfähigkeit einer Familie ist auch ein wichtiger  beruflicher Faktor zur Führung von Menschen."

Da stand sie plötzlich, die Gestalt des 12 Jahren älteren Bruders im Raum:
Vorbild, Leitfigur, Freund, Berater, Soldat, Offizier, Wissenschaftler,
Buch Autor und Christ:
"Mein Bruder."
Und die Erinnerungen; - schmerzlich, weil ich ihn vermisse; freudig, weil er mein Vorbild war; traurig, weil er in seiner Ehe nicht das Lebensglück fand; - dies rollten im Schnellzugtempo an mir vorbei.

Benommen verließ ich die Firma, allen Grund zufrieden zu sein, ich hatte die Stelle bekommen.
Doch nach 20 Jahren Abwesenheit stand er plötzlich wieder in meinem Leben. Ich hatte ihn gedanklich verdrängt, sogar oft an seinem Todestag vergessen.
Umso mächtiger überrollte mich urplötzlich die gemeinsame Zeit,
die eigentlich keine große Gemeinsamkeiten hatte.
Als ich geboren wurde: kamst du ins Internat, dann wurdest du zum Militär eingezogen, nachdem Militär heiratetest du.
Unser Zusammenleben erstreckte sich auf Besuche und Urlaubszeiten.
Trotzdem bestand eine unzerbrechliche brüderliche Liebe zwischen uns.
Natürlich war ich stolz, wenn du Fronturlaub hattest, an deiner Seite zu gehen. Ich war sogar stolz, dass die Soldaten in der Toilette Ehrbezeugungen, dir als Offizier, zeigten.

Wir sind mit dem Fahrrad, ich auf dem Gepäckträger, mit Fernstecher
und leeren Sack über die Felder gefahren, um Kartoffeln zu stoppeln.
Der Krieg war vorbei, Hunger herrschte!
Du warst, ohne Verletzungen, ohne Gefangenschaft, wieder bei uns.
Ich hatte auch lernen müssen, dass die glorifizierte Seite des Soldatentums eine andere, schreckliche Seite hat: die des Todes.
Du versuchtest meine katastrophale Ausbildungs-Situation zu mildern. Du hast Eingaben beim Ministerium eingereicht und als das
nicht half, sind wir gemeinsam nach Berlin zu den Parteibonzen gefahren.

Hunderte von Briefen begleiteten uns, auch wenn wir später durch Grenzen getrennt waren.
Ich war stolz, als ich dein erstes wissenschaftliches Buch in den Händen halten durfte.
Ich wollte auch schreiben, so empfand ich es damals!
Heute schreibe ich Märchen und Geschichten wie diese: über dich und mich.
Viele Aufzeichnungen im Tagebuch unserer Mutter sind über uns zu finden.
So schreibt sie am 5.11.1940:
Heinz hat dieses Jahr seinen 18. Geburtstag. Herbert wird 6 Jahre alt und wird nächstes Jahr in die Schule kommen. Somit ist sein weiterer Lebenslauf leichter zu bestimmen, aber was wird mit Heinz geschehen? Wird ihm seine Schwerhörigkeit auf dem einen Ohr vor dem Militärdienst befreien? Die gesamte militärische Lage nüchtern betrachtet klingt aus den Meldungen positiv, aber es ist erst der Anfang, wie wird das Ende aussehen?????
Die Leichtigkeit des Seins ist mit einer schweren Hypothek, dem Krieg, belastet.

Die Zeit veränderte auch uns, und so wurden aus dem kleinen und großen Bruder, der Jüngere und der Ältere.
Es gab auch einen Moment, wo du mich batest eine Brücke für dich zu bauen: Die Flucht deines Sohnes mit seinen Freunden aus der DDR zu organisieren
Es war eine besondere Herausforderung, ein unvergleichliches Erlebnis des Erfolges.

Es war auch eine Lehre; die schwierigsten Dinge im Leben logisch anzugehen, sich nicht abschrecken zu lassen. So konnte ich etwas dir zurückgeben, für die vielen Brücken die du versuchtest für
mich in meiner Jugend zu bauen.
Ich glaube, unsere moralischen Werte, die uns durch das Leben führten, haben wir unserem starken Elternhaus zu verdanken.
Ja, mein lieber Bruder Heinz, so standest du gedanklich wieder mitten im Raum: mit der Vertrautheit von Bruder zu Bruder.
Mit den vom Elternhaus gegebenen Maßstäben, für unser Leben.
Zu wenige Stunden waren unsere Gemeinsamkeiten vergönnt.
Trotzdem war die Vertrautheit die stärkste Form brüderlicher Liebe.

Ich vermisse dich!


Anmerkung von Borek:

Erinnerungen aus meinen vielen Reisen

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