Rita und Cristina

Text

von  atala

In der Galerie de paléontologie et d’anatomie comparée in Paris laufen die Tierskelette um ihr Leben. Fossile Überreste der Dinosaurier, Mammuts und Rhinozerosse von Louis XV, Delfine und Vogelarten, Wale, Krokodile und Alligatoren. Jagende und Gejagte. Wirbeltiere und Wirbellose, schon ausgestorbene Arten und solche, denen es noch bevorsteht.
Die Knochen sind in der Halle so aufgestellt, als wäre zwischen ihnen noch Fleisch, noch Blut. Mitten in der Bewegung wurden sie angebracht, wie auf der Flucht. Du hörst sie schnauben, in der Erde scharren, Schreie ausstoßen und durchs Wasser schnellen. Sie überrennen dich, wenn du stillstehst.
Manche wurden der Größe nach aufgereiht, andere aufgrund ihrer Ähnlichkeit angeordnet.
Hirschgeweihe und Stoßzähne schmücken die Wände, Organe sind in Flüssigkeiten konserviert.
Und an der Spitze, zuvorderst, von einem Sockel erhoben, steht ein Mann, ohne Haut, jeder Muskel ist erkennbar, jede Faser. Die eine Hand ruht auf einem phallisch förmigen Stein, die andere hat er zum Himmel gestreckt. Wie um ein Zeichen zu geben, dass alles unter seinem Kommando steht.

Nach den kleinen und großen Affen, kommen die Knochen von menschlichen Babys und Föten.
Unter den Tieren sind auch Menschen ausgestellt, auf der gleichen Stufe findet man: Freaks und Wilde.

Foetus humain du 2è au 8è mois de la gestation steht in handgeschriebener Schnurschrift unter einem Miniskelett mit kleinem Schädel. Der Mund offen, als würde es brabbeln.
Dahinter sind winzige Gebeine auf eine Wand gepinnt, wie sonst Schmuckstücke.
Klitzekleine Fingerknochen, fingerlange Wirbelchen.

Nirgends steht geschrieben, woher das Museum die Skelette hat, wie sie zu ihnen gekommen sind.

Von all den Geschichten wird nur eine erzählt, unter tausenden, nur eine einzige. Und auch die wird nicht erzählt. Nur ein Rahmen wird gegeben, ein paar Eckpunkte. Es sind nur Umrisse bekannt und Eckdaten, ein paar Ergebnisse, auf welche die Erforscher und Untersucher gekommen sind.

Rita et Cristina.

Rita und Cristina, le monstre double, die siamesischen Zwillinge.

Die Schwestern wurden am 12. März 1829 in Sardinien mit verschmolzenem Körper geboren. Zusammen besitzen sie: vier Arme, zwei Herzen, zwei Köpfe, aber nur ein paar Beine und einen gemeinsamen Unterleib. Als sie sechs Monate alt waren, wurden sie nach Paris gebracht, wo sie vom Zoologen und Ethologen Isidore Geoffroy Saint-Hilaire untersucht wurden.
Cristina, die eine Schwester, galt als gesund und lebhaft, Rita allerdings war mager und besaß einen bläulichen Teint. Es war möglich, dass die eine lachte, während die andere schrie und weinte.
Im Winter ihres Geburtsjahrs bekam Rita eine Bronchitis, ihr ging es täglich schlechter. Am 23. November hörte ihr Herz auf zu schlagen, woraufhin auch Cristinas Herz stillstand. Étienne Serres, der Professor des Museums, hat nach dem Eintreten des Todes eine Autopsie durchgeführt und festgestellt, dass Rita einen angeborenen Herzfehler gehabt hatte und darum die Bronchitis nicht überlebt hatte.

le cœur de Rita connaît une malformation

Was man sonst noch über die beiden in Erfahrung bringt:

- Die Mutter, Maria Teresa Parodi, war bei der Geburt 32 Jahre alt und hatte vor Rita und Cristina bereits acht andere Kinder zur Welt gebracht.
- die Eltern kamen aus ärmlichen Verhältnissen.
- Die Eltern beschlossen, aus dem ungewöhnlichen Aussehen ihrer Töchter Gewinn zu schlagen, und stellten sie zunächst in verschiedenen Städten Italiens zur Schau, ehe sie nach Paris weiterreisten (angekündigt mit: Das zweiköpfige Kind).
- wegen ihres geringen Alters wurde es verboten, dass sie ausgestellt wurden. Die Eltern zeigten sie deshalb, wohl aufgrund von Geldmangel, heimlich weiter.
- die Wissenschaftler haben herausgefunden, dass beide sechsmonatigen Säuglinge auf Stimulation an Anus und Vulva reagierten.
- zwei Journalisten schrieben schon nach Ritas und Cristinas Tod: man kann nicht anders, als sich vorzustellen (on ne peut s’empêcher d’imaginer). Wenn sie dieselbe erogene Zone hatten, hätten sie dann ein oder zwei Ehemänner benötigt?
- Cristina, die sonst kerngesund gewesen sei, soll im Moment in dem sie gestorben ist, die Hand der Mutter losgelassen und einen Schrei von sich gelassen haben.

Die Zwillinge werden immer noch ausgestellt, stehen da, entblößt bis zu den Knochen
in der Galerie de paléontologie et d’anatomie comparée in Paris.
comparer: dt. vergleichen

vergleichen: prüfend nebeneinanderhalten, gegeneinander abwägen, um Unterschiede oder Übereinstimmungen festzustellen.
„eine Kopie mit dem Original vergleichen“

Das Original ist natürlich der weiße Mensch ohne Fehlbildungen.
Der Sinn des Anhäufens ist der Besitz und der Vergleich. Die Sammlung war Teil der Ausstellung von 1889, die den Namen Exposition Modiale trug. Die Weltausstellung.
Die ganze Welt soll von Paris gezeigt werden. Der Eiffelturm wurde dafür errichtet (insofern ist er auch ein Symbol der Liebe, weil er ein Symbol der Kolonisation ist und man alles besitzen und unterdrücken möchte, was man liebt. Aber das ist eine andere Geschichte). das größte Eichenfass der Welt erbaut, es fasste 200 000 Flaschen Champagner! Auch ein Dorf wurde erstellt und 400 Menschen aus den Kolonien dahingezerrt. Gesagt, tanzt so, dass ihr unsere Vorstellung von wild erfüllt, kleidet euch so und spielt einen Kannibalen. Erzählt uns unsere erfundenen Geschichten über die archaischen Wilden. Wir hören sie gern, weil wir uns dann groß und mächtig fühlen, überlegen.
Es gibt ein Meer und auf der anderen Seite des Meeres, dieser Grenze, hört auch die Menschheit auf, da beginnen sich die Gesetze aufzulösen, das Wilde herrscht.
Besucherzahl: 32 250 297
Anlass: 100 Französische Revolution und zu zeigen, wie geil man war. Demonstration der Macht.
Merke: wo die Weißen sind, da ist die Welt. Wo die anderen sind, ist die Hölle oder das Paradies, aber nicht die Welt.
Die Zwillinge kann man immer noch betrachten, alle können sie anschauen gehen. Was niemand sieht: das Grab der „petite Chaqueline“, wie sie genannt wurde. Ein zweieinhalbjähriges Mädchen aus dem Feuerland, Chile, das nach Paris gebracht wurde, um in einem Menschenzoo ausgestellt zu werden, wo es wegen einer Krankheit im Winter verstarb und im jardin d’acclimatation begraben wurde.

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Kommentare zu diesem Text


 minze (06.08.20)
die Rahmenhandlung lese ich nicht so flüssig, sie ist mir doch zu entfernt und etwas abgehoben, abgedriftet von Rita und Cristinas Geschichte. Diese und deren Bloßstellung reißt mich so mit, dass ich das Drumherum gar nicht mitbekomme, mitbekommen kann - finde fast, es nimmt etwas der Nacktheit dieser Bloßstellung.

Aber der Kern deines Textes schält einem die Haut vom Leibe. Puh.


(die Hinführung finde ich noch gelungen, aber deine Auslassung zu dem Vergleichen/sich mächtiger fühlen und der direkten Ansprache eines "Wir" - das finde ich führt im konkreten Moralisieren gerade weg von dem in sich entstanden Entsetzen übers Vergleichen, Entblößen der Geschichte der Schwestern, nimmt ihr Bedeutung und Stärke fast.)

 atala meinte dazu am 06.08.20:
Vielen Dank für deinen Kommentar, Minze. Der Text ist noch nicht abgeschlossen, er entsteht noch. Ich finde auch, dass es das mit der Weltausstellung gar nicht mehr braucht, da ja das Museum an sich schon genug verrückt ist und Einstellung genügend zeigt.
Und der Anfang ist zu üppig und ablenkend, wenn ich dich richtig verstanden habe?
Liebe Grüße

 minze antwortete darauf am 06.08.20:
Ich finde, dass du den Anfang gut geschrieben hast, das jagen, das gejagt werden, das Konservieren von der Wildheit und das innerliche Erleben des Tierischen ist vielleicht doch eine gute Vorstufe zu der Geschichte - aber sie nimmt doch auch einen total starken Gegenpol ein - nimmt viel Aufmerksamkeit und Eigenwert für sich in Anspruch, vielleicht habe ich da den Eindruck, dieser Teil nimmt dann zu viel Platz gegenüber der tragischen, eindrücklichen Schilderung der Geschwister. Auf jeden Fall hätte der erste Part aber eine Funktion, einen deutlicheren (emotionalen auch) Bezug zu deiner Kerngeschichte als der letzte Teil (Weltausstellung etc).
Diesen Satz würde ich streichen, er ist mir überflüssig:
Unter den Tieren sind auch Menschen ausgestellt, auf der gleichen Stufe findet man: Freaks und Wilde.
Also Freaks und Wilde - das ergibt sich dann viel sensibler und kritischer aus deiner tatsächlichen Schilderung.

Und an der Spitze, zuvorderst, von einem Sockel erhoben, steht ein Mann, ohne Haut, jeder Muskel ist erkennbar, jede Faser. Die eine Hand ruht auf einem phallisch förmigen Stein, die andere hat er zum Himmel gestreckt. Wie um ein Zeichen zu geben, dass alles unter seinem Kommando steht.

Diese Schilderung ist sehr eindrücklich, aber sie ist glaube ich, nicht zielführend für deinen Text, ich erkenne nicht die Funktion von dem Wahrnehmen dieser Figur.

Liebe Grüße und nochmal: wow :) - bin gespannt, wie sich der Text noch entwickelt!

Antwort geändert am 06.08.2020 um 15:40 Uhr

 Dieter_Rotmund (09.08.20)
Ich würde die moralischen Bewertungen weglassen (Leser sind mündig), dann würde ein wirklich starker Text daraus, der Anfang (bis "steht") ist schon super.

 Dieter_Rotmund schrieb daraufhin am 13.11.20:
Nach nochmaliger Prüfung sehe ich das weiterhin so. Wenigstens solltest Du den deskriptiven vom moralinsauren Teil eindeutig trennen, es sich zwei grundverschiedene Inhalte.

 miljan (17.09.20)
Dieser Text ist sehr anders als die Texte, die ich bislang von dir kommentiert habe, gefällt mir aber nicht weniger. Im ersten Teil habe ich mich sehr lebhaft an eine private Führung durch das Berliner Naturkundemuseum erinnert gefühlt, an riesige Räume und zahllose Vitrinen mit dichtgedrängten Exponaten. Ein aufregendes, zugleich irgendwie beklemmendes Gefühl, das auch dein Text in mir auslöst. Im zweiten Teil finde ich deine nüchterne Erzählweise interessant, die ja aber sehr gut die eines Naturforschers bzw. einer Natuforscherin sein könnte und daher sehr gut passt. Sehr stark finde ich den dritten Teil deines Textes, in dem du die zuvor eher sachliche Erzählweise ein Stück aufgibst. Ich finde es spannend, wie du insgesamt den Bogen von der naturwissenschaftlichen Beobachtung von Tieren zur Rassenlehre schlägst, die sich ja ebenfalls naturwissenschaftlich zu legitimieren versuchte, du aber zugleich sprachlich den Unterschied markierst. Zwei Sätze möchte ich noch herausheben, weil sie mir besonders gut gefallen: "Merke: wo die Weißen sind, da ist die Welt. Wo die anderen sind, ist die Hölle oder das Paradies, aber nicht die Welt." Ich finde es gut, dass du beide Facetten benennst: Das Fremde als unterlegenes, aber auch das Fremde als exotisiertes, als Sehnsuchtsort; in jedem Fall als Projektionsfläche für die eigenen Ängste und Hoffnungen, nur eben nicht als "Welt". Toller Text!
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