Kollektivschuld und Einzelschicksal

Anekdote zum Thema Holocaust

von  Terminator

Berlin, Postdamer Platz. Eine Gruppe Touristen aus verschiedenen Ländern hat sich zusammengefunden, um in der Stadt was zu trinken. Doch auch nach dem dritten Glas Bier hört der Hamburger Hans nicht damit auf, den Münchner Paul äußerst schief anzugucken, so als störte es ihn, dass dieser Landsmann jüdischen Glaubens überhaupt dabei ist. Ein Junge aus Kalifornien flüstert Paul dezent zu, dass der große Philosoph Thomas Hobbes gesagt haben soll, dass Menschen gewöhnlich jene hassen, denen sie so viel Leid zugefügt haben, dass sie es nie wiedergutmachen könnten. Paul ist das egal, er ist in Berlin, um Spaß zu haben, und er hält ohnehin nichts von der deutschen Kollektivschuld. Doch Hansens Zunge ist wie ferngesteuert, und reißt zu allem Überfluss einen antisemitischen Witz. Ein lockerer Pole bemerkt, dass ein Jude kürzlich gesagt haben soll, die Deutschen würden den Juden Auschwitz nie verzeihen. Hans zeigt einen veritablen Schmollmund und wendet den anderen demonstrativ den Rücken zu. Paul tut es leid, dass diese Geschichte mit der Geschichte Hans den Spaß verdorben hat, und er konsultiert einen älteren Finnen. Dieser spricht eine weise Erkenntnis aus: die Menschen, sagt er, können mit einem negativen Selbstbild nicht leben, und brauchen immer eine positive Identität, und selbst jene, die sich bewusst böse Jungs nennen, bringen damit nur zum Ausdruck, dass sie das bestehende Wertesystem nicht respektieren. Jetzt wird Paul Hansens Problem bewusst, und er versucht, die Situation zu retten. "Du", spricht er zu Hans, "aber eins muss man euch lassen: ihr habt alles so perfekt organisiert". Nun ist der Abend wirklich im Arsch.


Anmerkung von Terminator:

2013

Goldener Betonklotz 2014.

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