Ratz
Der Streckenläufer
Als der Zug die Stationierung 3,14159 passiert hatte, näherte sich dieser Stelle der Suizidbeauftragte des Vorstandes der Deutschen Bahn, inspizierte die Gleisanlagen und legte sich dann, ohne sich zuvor auf die Gültigkeit des vor dem naheliegenden Haltepunkt aushängenden Fahrplanes zu achten, in das bereitstehende Gleisbett. Die Beweggründe für diese Handlung, ob sie nun aus persönlichen Erwägungen heraus entstanden waren, einem psychologischen Auftrag gerecht werden oder dem Allgemeininteresse dienen sollten, konnte man aus der Art und Weise, wie er diese Handlung vollzog, hätte man sie aus der Nähe beobachten, nicht entnehmen können.
Er hatte es sich also nach der Durchfahrt des Achtuhrzuges gemütlich gemacht und harrte der Dinge, die nun auf ihn zukommen könnten.
Zunächst war es, was der Suizidbeauftragte als verbeamteter Mitarbeiter der Bahn nicht ahnen konnte, ein ihm unbekannter, etwas schlank wirkender schnauzbärtiger Streckenläufer, der zwar schon, wie sich später herausstellte, seit sechs Jahren pensioniert war, aber dennoch bei Wind und Wetter teils aus Gewohnheit, teils aus Verantwortungsbewusstsein, dann auch aus Freude an der Tätigkeit und vor allem wegen des Interesses an allen Dingen des Lebens, die sich zwischen den Schienen und in deren Sichtbereich abspielten oder abspielen, seine Arbeit unverdrossen weiterführte.
Während er zu seiner Zeit als bezahlter Mitarbeiter der Bahn noch verpflichtet war, Wertgegenstände, die er zwischen den Gleisen fand, abzugeben, war diese Verpflichtung für ihn nach seiner Demissionierung selbstredend aufgehoben worden.
Ansonsten hielt er sich an alle Vorschriften wie vorher und führte auch die notwendigen Werkzeuge wie Schraubenschlüssel, den Langstiel-Hammer sowie die umgehängte Notfahne mit sich.
Plötzlich fiel sein Augenmerk auf die Besonderheit des zwischen den Schienen liegenden Suizidbeauftragten, den er erst einmal als eine Person mittleren Alters mit gepflegter Kleidung und angemessenem Äußeren ausmachte.
Sein Interesse war insofern geweckt, da er sich zwar an lebende Personen außerhalb der Bahnanlagen bei unterschiedlichen Verrichtungen, auch an Tote und Teile von Toten innerhalb der Geleise erinnern konnte, von Tieren und Gerätschaften aller Art einmal ganz abgesehen, ein Lebender indes in ruhender Haltung mit halbwegs ansehnlicher Anzugsordnung, der augenscheinlich wach war und sich in ansprechbarem Zustand befand, war ihm bisher noch nicht untergekommen.
Also kam er nicht umhin, ihn mit der Frage zu behelligen, ob es nicht vernünftiger wäre, bis zum Vieruhrzug auf dem nächsten Haltepunkt zu warten, der gleich hinter der Kurve lag, was dem Ruhebedürftigen aber wohl offenbar bekannt sei.
Auch wäre es verhältnismäßig sinnvoll, ihn, also den Streckenläufer, nicht in seinem Tun zu behindern, da er in diesem Bereich die Lage einiger Schwellen besonders zu überprüfen beabsichtige.
Dass der nun nicht besonders intensiv dem Dasein Verpflichtete das Anliegen des Streckenläufers vernommen hatte, wurde daraus ersichtlich, dass er sich erhob, seine Kleidung glatt strich und sich offenbar auf freundliche Weise nach dem Befinden des Streckenläufers und seinen persönlichen und familiären Umständen erkundigte, woraus sich im Verlauf des sich entwickelnden, wenn auch etwas einseitig geführten, Gespräches der blasse Anschein des gegenseitigen Verstehens, um nicht zu sagen eine Art angedeutete Freundschaft entwickelte, in dessen Fortgang der Streckenläufer dem Ruhesuchenden aus seiner Tragetasche eine halbe Mettwurstschnitte und einen Topf Kaffee zukommen ließ, die dieser dankbar zu sich nahm.
Natürlich wäre es unredlich anzunehmen, als Außenstehender von Gewissheiten des gegenseitigen Verhaltens während des Gespräches auszugehen, wüsste man nicht, dass beide Protagonisten, einmal der Suizidbeauftragte und dann der Streckenläufer genau das taten, was einerseits der eine dem anderen geraten hatte, nämlich den Vieruhrzug zu nehmen, und der freundliche Ratgeber ohnehin auch ohne den Vorfall vorhatte, und zwar die Beschäftigung fortzusetzen, die ihm so sehr ans Herz gewachsen war. Aus dieser Art von Rückkopplung ergaben sich die Schlussfolgerungen und das nachfolgende Fazit, die hier umfänglich dargelegt worden sind.
Dass sie sich beide bei Station 3,14159 letztendlich mit einem festen Handschlag und dem ehrlichen Versprechen trennten, dass ihnen das Wohl und Wehe von Ortsveränderungen auf den Schienensträngen der Welt gleichermaßen an den Herzen liegt, zeigt doch, dass sich das Festhalten am längst Verschwundenen, dem scheinbar erinnerungslos Vergangenen stets zu lohnen scheint.
Es kommt auf die Richtung an!