Die Botschaft

Essay zum Thema Natur

von  Quoth

Dieser Text ist Teil der Serie  Parabeln
Seit ich die BirdNET App habe, habe ich ein Ziel. Ich vermisse an Spaziergängen das Ziel, natürlich absolviert man sie aus Gesundheitsgründen, aber die sind eben nur Gründe und kein Ziel, und wenn ich an sie denke als Rechtfertigung für das Spazierengehen, fallen mir auch gleich die vielen Krankheiten ein, die mir in meinem Alter drohen und die andere schon haben – ein unangenehmer Gedankengang! Nein, aber jetzt habe ich die Vogelstimmen-App, und mein Spazierweg führt mich durch einen hochstämmigen Anemonen-, Bärlauch- und Waldmeisterwald, und bevor er in Wiesen und Weiden übergeht, empfangen mich üppige Weißdorn- und Schlehengebüsche, unterbrochen nur durch ein paar Mirabellenbäumchen. Und dort wartet eine Vogelstimme auf mich, die ich nicht kannte, aber BirdNET hat sie identifiziert: Was da singt, ist eine Dorngrasmücke. Ihre Strophe ist unauffällig und bescheiden, eigentlich nur ein Ströphchen, wird im Vogelbuch mit dem Satz: „Hab ich dir doch gesagt!“ verglichen. Was hat sie mir gesagt? Natürlich nichts, der singende Grasmückerich will nur Artgenossen warnen: Hallo, dies ist mein Revier, alles, was hier essbar ist, gehört mir, meiner brütenden Frau bzw. meinen schnabelaufreißenden Kleinen! Gesehen habe ich den Sänger noch nie, kenne ihn nur von Fotos aus dem Vogelbuch, und weil ich die visuelle Bestätigung, dass es sich um eine Dorngrasmücke handelt, nicht bekomme, kann ich der Versuchung nicht widerstehen und befrage jedes Mal erneut die Uni Chemnitz, die diese App erstellt hat, ob ich mich auch nicht irre – und bekomme jedes Mal wieder die Bestätigung: Dorngrasmücke, ganz sicher. Dieser Vogel würde auch singen, wenn ich nicht käme und ihm zuhörte, ja, vielleicht störe ich ihn sogar und kann froh sein, dass er überhaupt singt, obgleich ich komme. Aber weil ich ein Mensch bin, projiziere ich in sein Ströphchen natürlich etwas hinein, nämlich ein kreatürliches Glück auf das Kleinsein im Verborgenen, und darin soll er mir ein Vorbild sein, dieses bescheidene, ja, demütige Glück will auch ich auskosten bis zur Neige.

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Kommentare zu diesem Text


 Graeculus (13.06.21)
So halten sich Vogel und Mensch an das Motto des Ovid: "Bene vixit qui bene latuit." (Tristia III 4, 25)
Bescheidenheit oder Vorsicht?

 Quoth meinte dazu am 13.06.21:
Hallo Graeculus, ja, wäre Ovid vorsichtiger gewesen, hätte er sein Leben nicht am Schwarzen Meer beschließen müssen. Vielen Dank für Empfehlung mit Kommentar! Gruß Quoth

 AchterZwerg (13.06.21)
Vielleicht existiert die Natur jenseits von Wissen und Gefühl?

 Quoth antwortete darauf am 13.06.21:
Hallo AchterZwerg, nicht jenseits - Wissen und Gefühl sind auch Teil von ihr. Vielen Dank für Empfehlung mit Kommentar! Gruß Quoth

 Dieter Wal (13.06.21)
Frisch aus dem Leben gegriffen. High-Tech und Natur.

Das ist für mich Dein absoluter bisheriger kV-Lieblingstext.

Doch deine Kurzreportage über den Friseur ist ein ebenso vollendeter Text, der wie auch dieser ein Schmuckstück in jedem Lesebuch wäre.

 Quoth schrieb daraufhin am 13.06.21:
Hallo Dieter Wal, ja, Du hast Recht, mir gefällt er auch ganz gut. Danke für die Auszeichnungen. Gruß Quoth

 Lluviagata (22.07.21)
War nicht auch Karl Valentin mit dieser Gabe gesegnet, ein Thema bis zum Sonnenuntergang sezieren zu können? :D Toll gemacht.

Liebe Grüße

Llu ♥
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