Lea

Brief zum Thema Selbsterkenntnis

von  Quoth

Lieber Herbert, Pastor Westfal ist ein Feigling. Er hat es mir nicht mal selber gesagt! Vorm Disziplinargericht ist er damit herausgerückt, dass er mich bei sich aufgenommen hat – und dass ich jüdisch bin. Meine unterm Parkett versteckte Geburtsurkunde hat er vorgelegt. Der Effekt ließ nicht auf sich warten: Die Untersuchung gegen ihn wurde eingestellt. Die Unterstellung, er sei ein Nazi, ein Wolf im Schafspelz, sei angesichts dieser Tatsache eine Absurdität. Ich bin zerrissen zwischen Dankbarkeit, denn ich konnte bei ihm aufwachsen – und Hass – denn er gehörte zu denen, die meine Eltern und Großeltern ermordet haben – nicht ohne ihnen vorher noch furchtbare Leiden zuzufügen. Aber das Schlimmste ist der Sturz hinaus aus einer christlichen Glaubenswelt in ein jüdisches Universum, das mir fast völlig unbekannt ist. Juden, an die ich mich wenden könnte, gibt es in Himmelstein und an der Uni keine; aber Klara hat mich bei sich aufgenommen – in das Haus, das meiner Familie einmal gehört hat. Ich habe zu Jesus Christus, Gottes Sohn, beten gelernt, der von den Juden ermordet wurde - und jetzt gehöre ich dem Volk seiner Mörder an. Haben sie denn nicht vielleicht mit Recht dafür gesorgt, dass er hingerichtet wurde – weil er ein Aufrührer war, der den Widerstand gegen die Besatzungsmacht schwächte? Mit solchen Überlegungen schlage ich mich herum – und verbringe viele Stunden in der Bibliothek, aber das macht mich nur noch ratloser. Zum Glück habe ich Dich, lieber Herbert. und Du rätst mir immer wieder: „Kümmere dich nicht um die Religion! Nicht Gott hat den Menschen, sondern der Mensch hat Gott erschaffen. Es gibt nur einen, der die Wahrheit gewusst und ausgesprochen hat: Baruch Spinoza. Er hat die Natur mit Gott gleichgesetzt. Dafür ist er aus seiner jüdischen Gemeinde verstoßen worden.“ Das ist es, was du mich lehrst, und ich wünschte mir nur, Du beließest es dabei, aber ich sehe in Deinen Augen einen Hunger, der mir Angst macht und der alles zwischen uns zerstören könnte. Ich kann Dich nicht lieben, ich weiß ja kaum noch, wer ich selber bin! Ich fliege in den Semesterferien nach Tel Aviv, da lebt Walter Koch, ein entfernter Vetter, von diesem Besuch erhoffe ich mir eine Festigung in meiner neuen Identität, vor allem will ich Ivrith lernen – aber ich kehre zurück und wir spielen wieder zusammen, Karla Janssen  hat gesagt, der Graf von Ostost möchte uns spielen hören – stell Dir vor, wir beide im Rittersaal seiner Burg auf dem Himmelstein! Ich freue mich drauf – Lea Wolf

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