Zwanzig Jahre später (2)

Erzählung zum Thema Identität

von  Quoth

Frau Pokraka war gestorben, ich hatte viele gute Schüler verloren, aber damit fand ich mich ab, denn es kamen wieder neue, doch eine Gudrun, das war mir klar, würde ich so bald nicht wieder bekommen. Aber da geschah etwas Unglaubliches. Mit einer Flasche Rotwein in der Hand stand sie eines Julitages in der Tür, lachte übers ganze Gesicht und stellte mir die Frage: „Kennen Sie mich noch?“ Und im gleichen Moment fiel sie mir um den Hals, ja, dies war einer der schönsten Momente meines Lebens. „Natürlich, Gudrun!“ Sie wurde ernst, schob mich zurück: „Nenne mich nie wieder bei diesem Namen! Seit vier Wochen weiß ich, wer ich bin: Lea Wolf, die Tochter von Glückl!“ Ich war so perplex, dass ich zurückwankte in die Bibliothek und wie angeschossen aufs Sofa sank. Sie setzte sich neben mich, stellte die Weinflasche auf den Sofatisch neben die Salzstangen und sagte, nun wieder lächelnd: „Hast du es denn nicht geahnt? O, jetzt habe ich dich geduzt, darf ich beim Du bleiben? Du nickst … Habe ich nicht mehrfach das dritte Bein des Blüthner umarmt? Was hast du gedacht, warum ich das tue?“ „Ich hielt es für eine Huldigung an das Instrument, auf dem du so brillant warst!“ „Ich war zwei, als Glückl mich weggab, weggeben musste, um sich selbst zu retten, hier, in dieser Wohnung war ich klein gewesen, an den schwarzen Beinen des Flügels habe ich mich aufgerichtet, von ihnen aus erste Schritte gewagt … Ich konnte sie nicht ansehen, ohne Dank und Zärtlichkeit zu empfinden.“ Ich war so erschüttert, ich musste mich an etwas Praktisches klammern, ich ergriff die Weinflasche, ging damit in die Küche, entkorkte sie und, schrecklich, mein erster Gedanke war: Muss ich hier jetzt ausziehen? Das Haus an seine wahre Eigentümerin zurückgeben? Mit der entkorkten Flasche und zwei Gläsern kehrte ich zu Lea zurück, sie war an den Flügel gegangen und spielte Bachs Erste Invention … Ich hörte ihr zu, dann umarmte ich sie und murmelte: „Lea … Lea Wolf. Glückls Tochter … Unfassbar!“ Dann goss ich uns ein, wir prosteten einander zu und sie sagte: „Masel tov!“ Und ich: „Mein Haus ist dein Haus!“ Sie lächelte ein herrliches, erlöstes Lächeln, küsste mir die Hände und sagte: „Hände – wie von Elly Ney!“ „Vergleiche mich nicht mit ihr. Führerhörig wie sie bin ich nie gewesen. Aber sag mir – wie kommt ein derart fanatischer Nazi wie dein Vater dazu, ein jüdisches Mädchen zu retten?“ „Ich war seine Rückversicherung. Er war fanatisch, aber auch schlau. Er wusste, dass es schief gehen konnte – und dass ich dann gut zu gebrauchen war. Und so ist es auch gekommen. Die Pfadfinder haben Druck gemacht, sie wollten nicht mehr mit ihm zusammenarbeiten – weil er sie zu paramilitärischen Übungen zwang und Lieder wie ‚Jenseits des Tales standen ihre Zelte‘ singen ließ– von einem Textdichter, der ihrem Liebling Gottfried Benn das Leben zur Hölle gemacht hat. Die obere Kirchenleitung wollte ihn loswerden – da hat er mich als seinen letzten Trumpf aus dem Ärmel gezogen.“ Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. „Soll ich Herbert Eisenpflicht anrufen, damit er mit uns feiert?“ „Er weiß es schon. Er ist doch bei den Pfadfindern und hat herausgefunden, wer Börries von Münchhausen war.“ Und dann kam eine Bitte, die ich meiner Lieblingsschülerin nur allzu gern erfüllte: „K-k-kann ich bei dir bleiben, Karla? Ich möchte zu meinen Eltern nicht zurück.“ So hatte ich Lea Wolf, ehemals Gudrun Westfal, für die Dauer ihres Studiums als neue Mieterin. Ihre Miete: Monatlich ein 50-Pfennig-Stück, das mit der Gärtnerin, die eine Eiche pflanzt.


Anmerkung von Quoth:

20. Juli 2021

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Kommentare zu diesem Text


 Dieter_Rotmund (21.07.21)
Das ist mir zu wirr, wahrscheinlich, weil ich "Zwanzig Jahre später (1)" nicht kenne.

 Quoth meinte dazu am 21.07.21:
Nein, Du müsstest die gesamte Textfolge "Blüthner" kennen - aber das ist wohl zu viel verlangt im Zeitalter des oberflächlichen und flüchtigen Lesens digitaler Texte. Siehe die Diskussion unter "Ein Glück" von AchterZwerg!
https://www.keinverlag.de/450011.text
Gruß Quoth

 Willibald (21.07.21)
Ja, das Geldstück habe ich manchmal betrachtet: Als es in der Kleinstadt öfter aus den Geldbeuteln herauskam, erzählte mein Vater, dass seine Kollegen das dünne Gewand der Dame monierten.

Meine Mutter hatte einen professionellen Blick: Das ist nahe an einer Aktzeichnung, aber eben gar keine aufdringliche Position des Modells. Mein Vater schürzte die Lippen.



Kommentar geändert am 21.07.2021 um 18:25 Uhr
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